[N. N.]: Von der Ode. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 2,1 (1763), S. 152–177. Das Neue. Die entdeckte Bestimmung eines Dinges ist das Neue. Wir können entweder auf den Gegenstand an sich betrachtet, oder auf das Verhältniß, darinn er steht, sehen. Im ersten Falle ist es das Neue des Gegenstandes, im andern das Neue der Verbindung. Das Neue hat zur unzertrennlichen Folge das Vergnügen; weil allezeit aus der erlangten Erkenntniß von Dingen, und aus der gesättigten Neubegierde ein Vergnügen entspringt. Die neuen Empfindungen aber begleitet eine vorzügliche Art desselben, welches das rührende Vergnügen ist: da die neuen Gedanken nur ein stilles und ruhiges Vergnügen zur Folge haben. Jeder Gegenstand ist eine Quelle des Neuen. Diese Eigenschaft ist eine Schönheit, welche, mit allen andern verglichen, am unerschöpflichsten ist. Sie kann allgemein angebracht werden. Dem Odendichter, welcher das Aufgeklärte der Wissenschaften kennt, die ihren Glanz auf jede große Seele in gleicher Stärke ausbreiten; den die wahre Bestimmung der Dinge und ihre Vollkommenheit mit nicht gemeinen Empfindungen erfüllt, wird allezeit das Neue, als ein Hauptzug seines poetischen Charakters, eigen seyn. Allein er wird niemals den Fehler begehn, daß man ihm ansehen könnte, er mache das Neue zu seiner ersten Absicht, er zwinge sich, das noch nie Empfundene und Gesagte aufzuspüren; denn das Neue muß jederzeit von dem Gekünstelten unterschieden werden; also nie gezwungen seyn. Dem wahrhaftschönen Geiste wird sich das Neue von selbst darbieten; er wird es allezeit nach seinem Belieben in seiner Gewalt haben; und es wird ein Sklave des Dichters seyn: da der unwitzige Kopf allezeit ein Sklave des Neuen; folglich des Gekünstelten, ist*). *) Doch dieser Fehler ist unter den poetischen Insekten nicht allzuhäufig, oder vielmehr noch selten; weil sie entweder allzuschwach sind, das Neue nachzuäffen; oder weil es ihnen noch nicht eingefallen, daß ein vorzügliches Gedicht auch das Gepräge des Neuen haben müsse.
Das Neue. Die entdeckte Bestimmung eines Dinges ist das Neue. Wir können entweder auf den Gegenstand an sich betrachtet, oder auf das Verhältniß, darinn er steht, sehen. Im ersten Falle ist es das Neue des Gegenstandes, im andern das Neue der Verbindung. Das Neue hat zur unzertrennlichen Folge das Vergnügen; weil allezeit aus der erlangten Erkenntniß von Dingen, und aus der gesättigten Neubegierde ein Vergnügen entspringt. Die neuen Empfindungen aber begleitet eine vorzügliche Art desselben, welches das rührende Vergnügen ist: da die neuen Gedanken nur ein stilles und ruhiges Vergnügen zur Folge haben. Jeder Gegenstand ist eine Quelle des Neuen. Diese Eigenschaft ist eine Schönheit, welche, mit allen andern verglichen, am unerschöpflichsten ist. Sie kann allgemein angebracht werden. Dem Odendichter, welcher das Aufgeklärte der Wissenschaften kennt, die ihren Glanz auf jede große Seele in gleicher Stärke ausbreiten; den die wahre Bestimmung der Dinge und ihre Vollkommenheit mit nicht gemeinen Empfindungen erfüllt, wird allezeit das Neue, als ein Hauptzug seines poetischen Charakters, eigen seyn. Allein er wird niemals den Fehler begehn, daß man ihm ansehen könnte, er mache das Neue zu seiner ersten Absicht, er zwinge sich, das noch nie Empfundene und Gesagte aufzuspüren; denn das Neue muß jederzeit von dem Gekünstelten unterschieden werden; also nie gezwungen seyn. Dem wahrhaftschönen Geiste wird sich das Neue von selbst darbieten; er wird es allezeit nach seinem Belieben in seiner Gewalt haben; und es wird ein Sklave des Dichters seyn: da der unwitzige Kopf allezeit ein Sklave des Neuen; folglich des Gekünstelten, ist*). *) Doch dieser Fehler ist unter den poetischen Insekten nicht allzuhäufig, oder vielmehr noch selten; weil sie entweder allzuschwach sind, das Neue nachzuäffen; oder weil es ihnen noch nicht eingefallen, daß ein vorzügliches Gedicht auch das Gepräge des Neuen haben müsse.
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Das Neue. Die entdeckte Bestimmung eines Dinges ist das Neue. Wir können entweder auf den Gegenstand an sich betrachtet, oder auf das Verhältniß, darinn er steht, sehen. Im ersten Falle ist es das Neue des Gegenstandes, im andern das Neue der Verbindung. Das Neue hat zur unzertrennlichen Folge das Vergnügen; weil allezeit aus der erlangten Erkenntniß von Dingen, und aus der gesättigten Neubegierde ein Vergnügen entspringt. Die neuen Empfindungen aber begleitet eine vorzügliche Art desselben, welches das rührende Vergnügen ist: da die neuen Gedanken nur ein stilles und ruhiges Vergnügen zur Folge haben. Jeder Gegenstand ist eine Quelle des Neuen. Diese Eigenschaft ist eine Schönheit, welche, mit allen andern verglichen, am unerschöpflichsten ist. Sie kann allgemein angebracht werden. Dem Odendichter, welcher das Aufgeklärte der Wissenschaften kennt, die ihren Glanz auf jede große Seele in gleicher Stärke ausbreiten; den die wahre Bestimmung der Dinge und ihre Vollkommenheit mit nicht gemeinen Empfindungen erfüllt, wird allezeit das Neue, als ein Hauptzug seines poetischen Charakters, eigen seyn. Allein er wird niemals den Fehler begehn, daß man ihm ansehen könnte, er mache das Neue zu seiner ersten Absicht, er zwinge sich, das noch nie Empfundene und Gesagte aufzuspüren; denn das Neue muß jederzeit von dem Gekünstelten unterschieden werden; also nie gezwungen seyn. Dem wahrhaftschönen Geiste wird sich das Neue von selbst darbieten; er wird es allezeit nach seinem Belieben in seiner Gewalt haben; und es wird ein Sklave des Dichters seyn: da der unwitzige Kopf allezeit ein Sklave des Neuen; folglich des Gekünstelten, ist *).
*) Doch dieser Fehler ist unter den poetischen Insekten nicht allzuhäufig, oder vielmehr noch selten; weil sie entweder allzuschwach sind, das Neue nachzuäffen; oder weil es ihnen noch nicht eingefallen, daß ein vorzügliches Gedicht auch das Gepräge des Neuen haben müsse.
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Zitationshilfe: | [N. N.]: Von der Ode. In: Vermischte Beyträge zur Philosophie und den schönen Wissenschaften, 2,1 (1763), S. 152–177, hier S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_ode_1763/22>, abgerufen am 16.02.2025. |