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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] so weit waren im blendenden Lichte der Aufklärung die
Menschen auseinander gekommen, daß die Stände wie
auf entfernten Meeresküsten einander gegenüber wohnten.
Und die Poesie hätte wohl für sich niemals das Mittel
gefunden, sich ein so großes und wichtiges Stück hei-
mathlichen Lebens näher zu rücken: die Wissenschaft
mußte erst allgemach die Telescope dazu schleifen, ernste
Studien der mannigfachsten Art auf Gebieten, die den
Poeten und sein Publikum zunächst gar nichts anzu-
gehen schienen, mußten voran gehen, und die Ergeb-
nisse dieser Studien mußten allmählig den Gesellschafts-
körper durchdrungen haben, bevor Schreibende und Le-
sende da eine Fülle von Poesie entdeckten und aner-
kannten, wo sie eben noch die Negation aller Poesie
vorausgesetzt hatten. Damit der Bauer ein poetisches
Wesen werden konnte, mußte zuvor der wissenschaftliche
Begriff vom Wesen des Menschen überhaupt ein ande-
rer geworden seyn.

Die verflossenen Jahrhunderte hatten vollauf zu thun,
um in der äußern Natur aufzuräumen, um unsere Kennt-
niß von allen Küsten und Ländern der runden Erde,
von den Formen ihrer Bewohner in der Feuchte und
auf dem Trockenen im Ganzen und Großen zur Ueber-
sicht und zu einem gewissen Abschluß zu bringen. Die
Ernte war reich, nicht minder groß der ästhetische Lohn
der Arbeit: eine Fülle wunderbarer Thiere und Gewächse
von den Ufern geheimnißvoller Ströme, phantastische
Landschaften mit der seltsamsten menschlichen und thieri-
schen Staffage, ganze Archipele, die mit dem paradie-
sischen Leben ungeahnter Bewohner wie köstliche Jdyllen
aus dem Ocean emporstiegen. Die zahlreichen Weltum-
seglungen befeuerten in steigendem Maaße die geogra-
phische, ethnographische, zoologische, botanische Kleinar-
beit. Während sich aber auf diese Weise die formale
Naturanschauung mehr und mehr rundete und abschloß,
mußte die Poesie aus dieser Quelle nothwendig immer
sparsamer fließen, und es ist sehr bezeichnend, daß die
neueste Zeit von geographischer Seite her nur dadurch
poetisch bedeutend aufgeregt werden konnte, daß etwas
nicht entdeckt wurde -- Franklin und seine Mannschaft.
Als endlich die Silhouette der Erdländer ungefähr so
deutlich auf der Karte lag, wie man sie vom Mond
aus sehen muß, als hunderttausend Thier= und Pflan-
zengeschlechter ihre richtigen Namen hatten, als auf
jeder fernsten Küste ein Consul und ein Missionär saß,
da zerrann die Poesie der formalen Naturbetrachtung
im unendlichen Sande der Einzelbeobachtung, und vor
lauter Etiketten, womit die Naturkörper besteckt waren,
hätte der Geist am Ende die Natur gar nicht mehr
gesehen, wenn er nicht allermittelst auf anderem Wege
bereits mitten in ihr gewesen wäre.

[Spaltenumbruch]

Während die höher steigende Sonne der Wissen-
schaft das Dämmerlicht aus dem äußern Naturbilde
mehr und mehr verscheuchte, hatte sich die Forschung
bereits aufgemacht, in Gebiete einzudringen, auf denen
überall noch tiefe Nacht lag. Diese neue Richtung er-
schien auf vielen Punkten nur als eine Vertiefung und
Steigerung der bisherigen Studien: so wenn jetzt,
nachdem der Sinn an den äußern Formen der organi-
schen Welt gesättigt und gekräftigt war, nach Zoologie
und Botanik die Physiologie an die Spitze trat, mit
der Aufgabe, die Gesetze des organischen Baus zu be-
greifen, die lebende Substanz in ihrer Gliederung bis
zu den äußersten Verzweigungen in der Enge des Raums
zu verfolgen, und wo möglich das Leben selbst auf der
That zu ergreifen. Aber es ist noch eine andere
Welt, eng und unermeßlich weit, so reich und wun-
derbar als die äußere Natur, und um so geheimniß-
voller, als alles Naturgeheimniß, das sich in ihr löst,
sich eben in ihr auch geknüpft hat -- der Mensch und
seine Schöpfungen.

So viel der Mensch bisher von dieser seiner eigenen
Welt gesehen, so viel hatte er im Grunde nicht gesehen,
weil es ihm meist ein Selbstverständliches war. Jetzt
erst, als die an der äußern Natur gewonnenen Jdeen
vom nothwendigen Zusammenhang aller Hergänge und
der Gesetzlichkeit aller Bildung ihr Licht auch in den
Mikrokosmus warfen, wurde alte Vorstellung zum klaren,
fruchtbaren Begriff: er erkannte sich als die andere Natur,
mit einer unendlichen Fülle gesetzlicher Bildungen, die
es jetzt galt in ihrem innersten Bau und ihrem orga-
nischen Zusammenhang zu begreifen, während er sich
bis dahin mit der Kenntniß der äußern Gliederung oder
gar mit dem Umriß derselben befriedigt hatte.

Jn der äußern Natur hatte der menschliche Wis-
senstrieb kein ganzes unbekanntes Feld mehr zu erobern,
oder er glaubte es wenigstens: jetzt war die Zeit der
innern Weltumseglungen gekommen, und zahlreiche
Wissenschaften, gleich eben so vielen Regierungen, mach-
ten sich auf, Expeditionen auszurüsten, zu denen sich
die Mittel lange her unbewußt, im Stillen gesammelt
hatten. Jetzt erst, ausgerüstet mit Boussole und Qua-
dranten der Naturwissenschaft, konnte der Geist seine
eigenen Tiefen befahren und nach Heimath und Ur-
sprung aller jener aus ihm geborenen Gebilde forschen,
welche überall die organischen Elemente der geselligen
Menschheit sind, und deren Formverschiedenheiten ne-
beneinander im Raume die jeweilige Gegenwart, deren
unaufhörliche Metamorphosen in der Zeit Vergangenheit
und Zukunft aller Geschichte bilden. Diese Elemente
aber heißen Sprache, Kunst und Religion, Race, Volk
und Stamm, Staat, Stand, Gemeinde, Familie. Die
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] so weit waren im blendenden Lichte der Aufklärung die
Menschen auseinander gekommen, daß die Stände wie
auf entfernten Meeresküsten einander gegenüber wohnten.
Und die Poesie hätte wohl für sich niemals das Mittel
gefunden, sich ein so großes und wichtiges Stück hei-
mathlichen Lebens näher zu rücken: die Wissenschaft
mußte erst allgemach die Telescope dazu schleifen, ernste
Studien der mannigfachsten Art auf Gebieten, die den
Poeten und sein Publikum zunächst gar nichts anzu-
gehen schienen, mußten voran gehen, und die Ergeb-
nisse dieser Studien mußten allmählig den Gesellschafts-
körper durchdrungen haben, bevor Schreibende und Le-
sende da eine Fülle von Poesie entdeckten und aner-
kannten, wo sie eben noch die Negation aller Poesie
vorausgesetzt hatten. Damit der Bauer ein poetisches
Wesen werden konnte, mußte zuvor der wissenschaftliche
Begriff vom Wesen des Menschen überhaupt ein ande-
rer geworden seyn.

Die verflossenen Jahrhunderte hatten vollauf zu thun,
um in der äußern Natur aufzuräumen, um unsere Kennt-
niß von allen Küsten und Ländern der runden Erde,
von den Formen ihrer Bewohner in der Feuchte und
auf dem Trockenen im Ganzen und Großen zur Ueber-
sicht und zu einem gewissen Abschluß zu bringen. Die
Ernte war reich, nicht minder groß der ästhetische Lohn
der Arbeit: eine Fülle wunderbarer Thiere und Gewächse
von den Ufern geheimnißvoller Ströme, phantastische
Landschaften mit der seltsamsten menschlichen und thieri-
schen Staffage, ganze Archipele, die mit dem paradie-
sischen Leben ungeahnter Bewohner wie köstliche Jdyllen
aus dem Ocean emporstiegen. Die zahlreichen Weltum-
seglungen befeuerten in steigendem Maaße die geogra-
phische, ethnographische, zoologische, botanische Kleinar-
beit. Während sich aber auf diese Weise die formale
Naturanschauung mehr und mehr rundete und abschloß,
mußte die Poesie aus dieser Quelle nothwendig immer
sparsamer fließen, und es ist sehr bezeichnend, daß die
neueste Zeit von geographischer Seite her nur dadurch
poetisch bedeutend aufgeregt werden konnte, daß etwas
nicht entdeckt wurde — Franklin und seine Mannschaft.
Als endlich die Silhouette der Erdländer ungefähr so
deutlich auf der Karte lag, wie man sie vom Mond
aus sehen muß, als hunderttausend Thier= und Pflan-
zengeschlechter ihre richtigen Namen hatten, als auf
jeder fernsten Küste ein Consul und ein Missionär saß,
da zerrann die Poesie der formalen Naturbetrachtung
im unendlichen Sande der Einzelbeobachtung, und vor
lauter Etiketten, womit die Naturkörper besteckt waren,
hätte der Geist am Ende die Natur gar nicht mehr
gesehen, wenn er nicht allermittelst auf anderem Wege
bereits mitten in ihr gewesen wäre.

[Spaltenumbruch]

Während die höher steigende Sonne der Wissen-
schaft das Dämmerlicht aus dem äußern Naturbilde
mehr und mehr verscheuchte, hatte sich die Forschung
bereits aufgemacht, in Gebiete einzudringen, auf denen
überall noch tiefe Nacht lag. Diese neue Richtung er-
schien auf vielen Punkten nur als eine Vertiefung und
Steigerung der bisherigen Studien: so wenn jetzt,
nachdem der Sinn an den äußern Formen der organi-
schen Welt gesättigt und gekräftigt war, nach Zoologie
und Botanik die Physiologie an die Spitze trat, mit
der Aufgabe, die Gesetze des organischen Baus zu be-
greifen, die lebende Substanz in ihrer Gliederung bis
zu den äußersten Verzweigungen in der Enge des Raums
zu verfolgen, und wo möglich das Leben selbst auf der
That zu ergreifen. Aber es ist noch eine andere
Welt, eng und unermeßlich weit, so reich und wun-
derbar als die äußere Natur, und um so geheimniß-
voller, als alles Naturgeheimniß, das sich in ihr löst,
sich eben in ihr auch geknüpft hat — der Mensch und
seine Schöpfungen.

So viel der Mensch bisher von dieser seiner eigenen
Welt gesehen, so viel hatte er im Grunde nicht gesehen,
weil es ihm meist ein Selbstverständliches war. Jetzt
erst, als die an der äußern Natur gewonnenen Jdeen
vom nothwendigen Zusammenhang aller Hergänge und
der Gesetzlichkeit aller Bildung ihr Licht auch in den
Mikrokosmus warfen, wurde alte Vorstellung zum klaren,
fruchtbaren Begriff: er erkannte sich als die andere Natur,
mit einer unendlichen Fülle gesetzlicher Bildungen, die
es jetzt galt in ihrem innersten Bau und ihrem orga-
nischen Zusammenhang zu begreifen, während er sich
bis dahin mit der Kenntniß der äußern Gliederung oder
gar mit dem Umriß derselben befriedigt hatte.

Jn der äußern Natur hatte der menschliche Wis-
senstrieb kein ganzes unbekanntes Feld mehr zu erobern,
oder er glaubte es wenigstens: jetzt war die Zeit der
innern Weltumseglungen gekommen, und zahlreiche
Wissenschaften, gleich eben so vielen Regierungen, mach-
ten sich auf, Expeditionen auszurüsten, zu denen sich
die Mittel lange her unbewußt, im Stillen gesammelt
hatten. Jetzt erst, ausgerüstet mit Boussole und Qua-
dranten der Naturwissenschaft, konnte der Geist seine
eigenen Tiefen befahren und nach Heimath und Ur-
sprung aller jener aus ihm geborenen Gebilde forschen,
welche überall die organischen Elemente der geselligen
Menschheit sind, und deren Formverschiedenheiten ne-
beneinander im Raume die jeweilige Gegenwart, deren
unaufhörliche Metamorphosen in der Zeit Vergangenheit
und Zukunft aller Geschichte bilden. Diese Elemente
aber heißen Sprache, Kunst und Religion, Race, Volk
und Stamm, Staat, Stand, Gemeinde, Familie. Die
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Die verflossenen Jahrhunderte hatten vollauf zu thun, um in der äußern Natur aufzuräumen, um unsere Kennt- niß von allen Küsten und Ländern der runden Erde, von den Formen ihrer Bewohner in der Feuchte und auf dem Trockenen im Ganzen und Großen zur Ueber- sicht und zu einem gewissen Abschluß zu bringen. Die Ernte war reich, nicht minder groß der ästhetische Lohn der Arbeit: eine Fülle wunderbarer Thiere und Gewächse von den Ufern geheimnißvoller Ströme, phantastische Landschaften mit der seltsamsten menschlichen und thieri- schen Staffage, ganze Archipele, die mit dem paradie- sischen Leben ungeahnter Bewohner wie köstliche Jdyllen aus dem Ocean emporstiegen. Die zahlreichen Weltum- seglungen befeuerten in steigendem Maaße die geogra- phische, ethnographische, zoologische, botanische Kleinar- beit. Während sich aber auf diese Weise die formale Naturanschauung mehr und mehr rundete und abschloß, mußte die Poesie aus dieser Quelle nothwendig immer sparsamer fließen, und es ist sehr bezeichnend, daß die neueste Zeit von geographischer Seite her nur dadurch poetisch bedeutend aufgeregt werden konnte, daß etwas nicht entdeckt wurde — Franklin und seine Mannschaft. Als endlich die Silhouette der Erdländer ungefähr so deutlich auf der Karte lag, wie man sie vom Mond aus sehen muß, als hunderttausend Thier= und Pflan- zengeschlechter ihre richtigen Namen hatten, als auf jeder fernsten Küste ein Consul und ein Missionär saß, da zerrann die Poesie der formalen Naturbetrachtung im unendlichen Sande der Einzelbeobachtung, und vor lauter Etiketten, womit die Naturkörper besteckt waren, hätte der Geist am Ende die Natur gar nicht mehr gesehen, wenn er nicht allermittelst auf anderem Wege bereits mitten in ihr gewesen wäre. Während die höher steigende Sonne der Wissen- schaft das Dämmerlicht aus dem äußern Naturbilde mehr und mehr verscheuchte, hatte sich die Forschung bereits aufgemacht, in Gebiete einzudringen, auf denen überall noch tiefe Nacht lag. Diese neue Richtung er- schien auf vielen Punkten nur als eine Vertiefung und Steigerung der bisherigen Studien: so wenn jetzt, nachdem der Sinn an den äußern Formen der organi- schen Welt gesättigt und gekräftigt war, nach Zoologie und Botanik die Physiologie an die Spitze trat, mit der Aufgabe, die Gesetze des organischen Baus zu be- greifen, die lebende Substanz in ihrer Gliederung bis zu den äußersten Verzweigungen in der Enge des Raums zu verfolgen, und wo möglich das Leben selbst auf der That zu ergreifen. Aber es ist noch eine andere Welt, eng und unermeßlich weit, so reich und wun- derbar als die äußere Natur, und um so geheimniß- voller, als alles Naturgeheimniß, das sich in ihr löst, sich eben in ihr auch geknüpft hat — der Mensch und seine Schöpfungen. So viel der Mensch bisher von dieser seiner eigenen Welt gesehen, so viel hatte er im Grunde nicht gesehen, weil es ihm meist ein Selbstverständliches war. Jetzt erst, als die an der äußern Natur gewonnenen Jdeen vom nothwendigen Zusammenhang aller Hergänge und der Gesetzlichkeit aller Bildung ihr Licht auch in den Mikrokosmus warfen, wurde alte Vorstellung zum klaren, fruchtbaren Begriff: er erkannte sich als die andere Natur, mit einer unendlichen Fülle gesetzlicher Bildungen, die es jetzt galt in ihrem innersten Bau und ihrem orga- nischen Zusammenhang zu begreifen, während er sich bis dahin mit der Kenntniß der äußern Gliederung oder gar mit dem Umriß derselben befriedigt hatte. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/2>, abgerufen am 24.11.2024.