Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
nicht das günstigste Urtheil. Man findet, daß die meisten Das Genre und die Landschaft waren, wie auch ge- * Er saß dann später im Schloß Gottlieben und bei den Franciskanern in Luzern gefangen. * Auf den Humor versteht sich diese französisch=schweizerisch-
calvinistische Kritik wenig; der Begriff der Decenz ist häufig noch allzusehr von den Grundsätzen der Prüderie abhängig. Ein schönes Frauenbild von Geyer wußte der oben citirte Kritiker der "Gazette de Lausanne" nur darum zu loben, "weil die Keuschheit der Haltung das decollete des Bildes entschuldigt." Der Tempel der Kunst ist nun einmal eben so wenig ein Non- nenkloster als ein calvinistisches Bethaus. [Beginn Spaltensatz]
nicht das günstigste Urtheil. Man findet, daß die meisten Das Genre und die Landschaft waren, wie auch ge- * Er saß dann später im Schloß Gottlieben und bei den Franciskanern in Luzern gefangen. * Auf den Humor versteht sich diese französisch=schweizerisch-
calvinistische Kritik wenig; der Begriff der Decenz ist häufig noch allzusehr von den Grundsätzen der Prüderie abhängig. Ein schönes Frauenbild von Geyer wußte der oben citirte Kritiker der „Gazette de Lausanne“ nur darum zu loben, „weil die Keuschheit der Haltung das décolleté des Bildes entschuldigt.“ Der Tempel der Kunst ist nun einmal eben so wenig ein Non- nenkloster als ein calvinistisches Bethaus. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <p><pb facs="#f0020" n="1124"/><fw type="pageNum" place="top">1124</fw><cb type="start"/> nicht das günstigste Urtheil. Man findet, daß die meisten<lb/> Darstellungen schweizerischer Künstler aus der vaterländi-<lb/> schen Geschichte gewöhnlich allzusehr allegorisch pointirt<lb/> erscheinen, daß gerade bei einer solchen verallgemeinernden<lb/> Darstellung geschichtlicher Momente der historische Charak-<lb/> ter allzusehr verloren geht, oder ihm doch zu wenig Rech-<lb/> nung getragen wird u. s. w. Dazu kommt, daß auch das<lb/> mit der vaterländischen Geschichte wenigstens in ihren her-<lb/> vorragenden Zügen und Haupthelden genügend vertraute<lb/> Publikum nicht leicht zufrieden gestellt wird. Hier hat<lb/> sich jeder in seiner Phantasie, so wohl oder so übel es<lb/> eben geht, bereits ein Bild von der darzustellenden Scene<lb/> entworfen, und wenn dieses nun nicht mit der individuellen<lb/> Auffassung des Künstlers übereinstimmt, was natürlich<lb/> immer der Fall seyn wird, sobald derselbe nicht die allge-<lb/> meinen Jdeale von Tapferkeit, Vaterlandsliebe u. s. w.<lb/> als einzige Aufgabe seiner Darstellung betrachtet, so<lb/> bleibt eben dieses Publikum häufig sehr kühl bei dem Kunst-<lb/> werk, dessen besondern Charakter es nicht zu würdigen<lb/> versteht. Eine Folge dieser Ungunst des Publikums ist<lb/> die Erscheinung, daß bereits einige jüngere schweizerische<lb/> Künstler sich der Historienmalerei ab= und dem Genre wie-<lb/> der zugewendet haben. Eine verhältnißmäßig günstige<lb/> Aufnahme fand auf der gegenwärtigen Ausstellung, be-<lb/> sonders bei der Kritik, ein dem Kunstverein von Zürich<lb/> gehörendes Bild von Bossard: „Die Gefangennehmung<lb/> Felix Hämmerleins ( Malleolus ) .“ Es stellt diesen Züricher<lb/> Gelehrten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der in sei-<lb/> nen Schriften, von welchen » <hi rendition="#aq">de nobilitate</hi> « Berühmtheit<lb/> erlangt hat, die Eidgenossen häufig verspottete und belei-<lb/> digte, dar, wie er mitten unter seinen Büchern und Stu-<lb/> dien, ein zweiter Archimedes, im Jahr 1454 in seinem<lb/> Zimmer verhafter wird. <note place="foot" n="*">Er saß dann später im Schloß Gottlieben und bei den<lb/> Franciskanern in Luzern gefangen.</note> Das sorgfältige historische Stu-<lb/> dium des Costüms und des gesammten Beiwerks, wie<lb/> Bücher, Pergamente und Möbeln, die Einfachheit der Com-<lb/> position, wie die Frische der Farben des Bildes haben<lb/> die Kenner besonders befriedigt. Weiter sind aus der<lb/> schweizerischen Geschichte hervorzuheben ein „Stauffacher“<lb/> und ein „Melchthal“ von Stuckelberger, ein „Tod Zwinglis<lb/> in der Schlacht bei Kappel“ von Wekesser aus der Mün-<lb/> chener Schule, ein „Wilhelm Tell“ von Lacaze in Lausanne.<lb/> Ein „Besuch Staupitz's bei Luther im Kloster zu Erfurt“<lb/> von Straub in Genf ist ein mit großer Sorgsalt ausge-<lb/> führtes Bild. Unter den Bildern, welche biblische Sujets<lb/> behandeln, fand ein Gemälde von Hamm in München<lb/> ( als » <hi rendition="#aq">l'instant après l'erpiration du Christ</hi> « im Katalog<lb/> aufgeführt ) , sodann zwei Bilder von Deschwanden aus<lb/> Stanz ( » <hi rendition="#aq">la visite an Mont des Oliviers</hi> « und » <hi rendition="#aq">l'enfant<lb/> prodigue</hi> « ) vielen Beifall. Deschwanden ist in der katho-<lb/> lischen Schweiz durch mehrere Altarbilder vortheilhaft be-<lb/> kannt geworden. </p><lb/> <p>Das Genre und die Landschaft waren, wie auch ge-<lb/><cb n="2"/> wöhnlich auf den Genfer Ausstellungen, auf der eidge-<lb/> nössischen Kunstausstellung besonders stark vertreten; ganz<lb/> natürlich, sind doch diese kleinen Bilder ganz besonders » <hi rendition="#aq">à la<lb/> portée des bourses, des goûts et des convenances des<lb/> amateurs</hi>.« Daß Deutschland starke Concurrenz in diesen<lb/> Fächern macht, ist hie und da übel vermerkt. worden Die<lb/> „Gazette de Lausanne“ ließ sich, als die Ausstellung in dieser<lb/> Stadt weilte, bevor sie nach Genf wanderte, also verneh-<lb/> men: „Auf der Ausstellung sehen wir wenig gute Gemälde,<lb/> wenig von lokaler Färbung, am wenigsten bei den Werken<lb/> der Künstler, welche sie nur so im Vorbeigehen in unserem<lb/> Lande gemalt haben, indem sie einige Skizzen und Cro-<lb/> quis in ihren Mappen und Koffern mitnahmen, die sie<lb/> uns nun als aus dem Gedächtniß vollendete Gemälde zu-<lb/> senden. Besonders die Münchener Schule überschüttet uns<lb/> mit ihren Bildern; wir finden 112 aus der bayerischen<lb/> Hauptstadt im Verzeichniß aufgeführt. Es scheint, daß<lb/> diese Herren unsere Ausstellungen als Verkaufsbazars be-<lb/> trachten, wenn man die Mittelmäßigkeit gewisser Bilder<lb/> sieht, welche sicherlich nicht das Porto werth sind.“ Und<lb/> ein Kritiker des „Journal de Gen <hi rendition="#aq">è</hi> ve“ schreibt mit beson-<lb/> derem Bezug auf das Genre: „Wir haben zur Genüge auf<lb/> dieser Ausstellung die Schulen von Köln, Düsseldorf und<lb/> hauptsächlich die von München studiren können. Sey es nun,<lb/> daß die Elite der dortigen Künstler sich zurückhielt, oder<lb/> daß wir unrichtig gesehen haben, es schien uns, daß die<lb/> Werke der deutschen Künstler hinter ihrem Rufe zurück-<lb/> blieben. Man könnte sagen, daß Deutschland eine große<lb/> Manufaktur von Genrebildern ist, die eine verzweifelte<lb/> Einförmigkeit und eine gewisse Geschicklichkeit zur Schau<lb/> tragen, welche die Grenzen der Mittelmäßigkeit nicht über-<lb/> schreitet. Diese Künstler wählen größtentheils Gegenstände,<lb/> welche einer gewissen Sentimentalität Stoff darbieten; sie<lb/> malen süße und traurige Gemüthsbewegungen, die häus-<lb/> lichen Tugenden, die Pietät, die Elternliebe oder die<lb/> Kindesliebe. „Das Kind, welches für seine Mutter betet,“<lb/> von Busch in München verdient eine besondere Erwähnung.<lb/> Was kann es Alltäglicheres geben als die „Studenten in<lb/> den Ferien“ von Piloty in München, und was Manierir-<lb/> teres, als seine „ärztliche Krankenvisite,“ bei welchem Bilde<lb/> die Sonderbarkeit des Sujets, eine Dame, welche ihrem<lb/> Arzt die Zunge zeigt, nicht durch eine gewisse Feinheit<lb/> der Ausführung wieder gut gemacht wird. <note place="foot" n="*">Auf den Humor versteht sich diese französisch=schweizerisch-<lb/> calvinistische Kritik wenig; der Begriff der Decenz ist häufig<lb/> noch allzusehr von den Grundsätzen der Prüderie abhängig. 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nicht das günstigste Urtheil. Man findet, daß die meisten
Darstellungen schweizerischer Künstler aus der vaterländi-
schen Geschichte gewöhnlich allzusehr allegorisch pointirt
erscheinen, daß gerade bei einer solchen verallgemeinernden
Darstellung geschichtlicher Momente der historische Charak-
ter allzusehr verloren geht, oder ihm doch zu wenig Rech-
nung getragen wird u. s. w. Dazu kommt, daß auch das
mit der vaterländischen Geschichte wenigstens in ihren her-
vorragenden Zügen und Haupthelden genügend vertraute
Publikum nicht leicht zufrieden gestellt wird. Hier hat
sich jeder in seiner Phantasie, so wohl oder so übel es
eben geht, bereits ein Bild von der darzustellenden Scene
entworfen, und wenn dieses nun nicht mit der individuellen
Auffassung des Künstlers übereinstimmt, was natürlich
immer der Fall seyn wird, sobald derselbe nicht die allge-
meinen Jdeale von Tapferkeit, Vaterlandsliebe u. s. w.
als einzige Aufgabe seiner Darstellung betrachtet, so
bleibt eben dieses Publikum häufig sehr kühl bei dem Kunst-
werk, dessen besondern Charakter es nicht zu würdigen
versteht. Eine Folge dieser Ungunst des Publikums ist
die Erscheinung, daß bereits einige jüngere schweizerische
Künstler sich der Historienmalerei ab= und dem Genre wie-
der zugewendet haben. Eine verhältnißmäßig günstige
Aufnahme fand auf der gegenwärtigen Ausstellung, be-
sonders bei der Kritik, ein dem Kunstverein von Zürich
gehörendes Bild von Bossard: „Die Gefangennehmung
Felix Hämmerleins ( Malleolus ) .“ Es stellt diesen Züricher
Gelehrten aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der in sei-
nen Schriften, von welchen » de nobilitate « Berühmtheit
erlangt hat, die Eidgenossen häufig verspottete und belei-
digte, dar, wie er mitten unter seinen Büchern und Stu-
dien, ein zweiter Archimedes, im Jahr 1454 in seinem
Zimmer verhafter wird. * Das sorgfältige historische Stu-
dium des Costüms und des gesammten Beiwerks, wie
Bücher, Pergamente und Möbeln, die Einfachheit der Com-
position, wie die Frische der Farben des Bildes haben
die Kenner besonders befriedigt. Weiter sind aus der
schweizerischen Geschichte hervorzuheben ein „Stauffacher“
und ein „Melchthal“ von Stuckelberger, ein „Tod Zwinglis
in der Schlacht bei Kappel“ von Wekesser aus der Mün-
chener Schule, ein „Wilhelm Tell“ von Lacaze in Lausanne.
Ein „Besuch Staupitz's bei Luther im Kloster zu Erfurt“
von Straub in Genf ist ein mit großer Sorgsalt ausge-
führtes Bild. Unter den Bildern, welche biblische Sujets
behandeln, fand ein Gemälde von Hamm in München
( als » l'instant après l'erpiration du Christ « im Katalog
aufgeführt ) , sodann zwei Bilder von Deschwanden aus
Stanz ( » la visite an Mont des Oliviers « und » l'enfant
prodigue « ) vielen Beifall. Deschwanden ist in der katho-
lischen Schweiz durch mehrere Altarbilder vortheilhaft be-
kannt geworden.
Das Genre und die Landschaft waren, wie auch ge-
wöhnlich auf den Genfer Ausstellungen, auf der eidge-
nössischen Kunstausstellung besonders stark vertreten; ganz
natürlich, sind doch diese kleinen Bilder ganz besonders » à la
portée des bourses, des goûts et des convenances des
amateurs.« Daß Deutschland starke Concurrenz in diesen
Fächern macht, ist hie und da übel vermerkt. worden Die
„Gazette de Lausanne“ ließ sich, als die Ausstellung in dieser
Stadt weilte, bevor sie nach Genf wanderte, also verneh-
men: „Auf der Ausstellung sehen wir wenig gute Gemälde,
wenig von lokaler Färbung, am wenigsten bei den Werken
der Künstler, welche sie nur so im Vorbeigehen in unserem
Lande gemalt haben, indem sie einige Skizzen und Cro-
quis in ihren Mappen und Koffern mitnahmen, die sie
uns nun als aus dem Gedächtniß vollendete Gemälde zu-
senden. Besonders die Münchener Schule überschüttet uns
mit ihren Bildern; wir finden 112 aus der bayerischen
Hauptstadt im Verzeichniß aufgeführt. Es scheint, daß
diese Herren unsere Ausstellungen als Verkaufsbazars be-
trachten, wenn man die Mittelmäßigkeit gewisser Bilder
sieht, welche sicherlich nicht das Porto werth sind.“ Und
ein Kritiker des „Journal de Gen è ve“ schreibt mit beson-
derem Bezug auf das Genre: „Wir haben zur Genüge auf
dieser Ausstellung die Schulen von Köln, Düsseldorf und
hauptsächlich die von München studiren können. Sey es nun,
daß die Elite der dortigen Künstler sich zurückhielt, oder
daß wir unrichtig gesehen haben, es schien uns, daß die
Werke der deutschen Künstler hinter ihrem Rufe zurück-
blieben. Man könnte sagen, daß Deutschland eine große
Manufaktur von Genrebildern ist, die eine verzweifelte
Einförmigkeit und eine gewisse Geschicklichkeit zur Schau
tragen, welche die Grenzen der Mittelmäßigkeit nicht über-
schreitet. Diese Künstler wählen größtentheils Gegenstände,
welche einer gewissen Sentimentalität Stoff darbieten; sie
malen süße und traurige Gemüthsbewegungen, die häus-
lichen Tugenden, die Pietät, die Elternliebe oder die
Kindesliebe. „Das Kind, welches für seine Mutter betet,“
von Busch in München verdient eine besondere Erwähnung.
Was kann es Alltäglicheres geben als die „Studenten in
den Ferien“ von Piloty in München, und was Manierir-
teres, als seine „ärztliche Krankenvisite,“ bei welchem Bilde
die Sonderbarkeit des Sujets, eine Dame, welche ihrem
Arzt die Zunge zeigt, nicht durch eine gewisse Feinheit
der Ausführung wieder gut gemacht wird. * Viele dieser
deutschen Sujets würden sich recht hübsch als illuminirte
Lithographien oder auf Porzellanpfeifen ausnehmen, aber
sie erheben sich auch nicht höher.“ Nun, vielleicht können
* Er saß dann später im Schloß Gottlieben und bei den
Franciskanern in Luzern gefangen.
* Auf den Humor versteht sich diese französisch=schweizerisch-
calvinistische Kritik wenig; der Begriff der Decenz ist häufig
noch allzusehr von den Grundsätzen der Prüderie abhängig. Ein
schönes Frauenbild von Geyer wußte der oben citirte Kritiker
der „Gazette de Lausanne“ nur darum zu loben, „weil die
Keuschheit der Haltung das décolleté des Bildes entschuldigt.“
Der Tempel der Kunst ist nun einmal eben so wenig ein Non-
nenkloster als ein calvinistisches Bethaus.
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