Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] uns zu Prophezeihungen, guten oder schlechten, hinreißen
zu lassen. Jn Paris prophezeiht niemand mehr; nur vor
den Barri e ren in den Wein= und Kaffeehäusern fängt
man wieder zu prophetisiren an.

Verlassen wir diesen Gegenstand, an den ich ganz
unwillkürlich gerathen bin, obwohl ich nur von Kunst
und Kunstwelt habe sprechen wollen. Aber das ist es
eben; man kann von hier aus unmöglich über irgend
einen Theil der hiesigen Gesellschaft und ihrer Zustände
berichten, ohne auf dieses gefährliche und complicirte
Substrat zu kommen. Sprechen wir vom Theater, ob-
wohl ich auch dieß nur mit Widerstreben thue, denn es
ist immer Gefahr dabei, irgend ein theatralisches Mach-
werk nur zu nennen; gleich sind deutsche Theaterdirektoren
und Uebersetzungsfabrikanten dahinter her. Zur Zeit der
Ponsard'schen "Bourse" haben deutsche Correspondenten ihre
Pflicht aufs Gewissenhafteste erfüllt, als sie das Publikum
vor diesem Stücke warnten und die Theaterdirektoren ver-
sicherten, daß Kalisch's Posse "Hunderttausend Thaler"
hoch über diesem Werke eines Akademikers stehe. Trotz-
dem hat man nur auf die Stimmen hiesiger Cliquenjour-
nale gehört und hat das langweilige Stück viele und
bessere deutsche Arbeiten von der Bühne verdrängt, ohne
darum den Kassen der Direktionen irgend eine Wohlthat
erzeigt zu haben. So fürchten wir uns denn auch der ver-
storbenen Madame Emil Girardin posthumes Stück, " Une
femme qui deteste son mari
", das neulich im Gymnase
aufgeführt worden, auch nur zu nennen, obwohl wir uns
beeilen hinzuzufügen, daß es ein ganz langweiliges und
schlechtes Machwerk ist, das die kluge Verfasserin bei Leb-
zeiten selbst verworfen hat. Aber seit ihrem Tode hat es
ihr Mann, dieser literarisch politische Barnum, der sie bei
Lebzeiten verschmäht hatte, verstanden, ihr einen solchen
Namen zu machen, daß sich leicht jede Direktion zur Auf-
führung dieses nachgelassenen Dramas entschlossen hätte.
Sind doch seit beinahe zwei Jahren die meisten angesehe-
nen Federn Frankreichs von Girardin, dem Erben ihrer
Werke, in Bewegung gesetzt, um einen Ruhm zu ver-
künden, den der guten Frau Girardin, geb. Gay, bei Leb-
zeiten kein noch so großer Verehrer vorausgesagt haben
würde. Humbug, nichts als Humbug! -- Das Drama, dessen
Schauplatz eine Stadt in der Bretagne und Zeit der Hand-
lung die Schreckensepoche ist, malt eine treue Gattin und
Aristokratin, welche vor dem Schreckensmann ihrer Stadt,
der ihr den Hof macht, die treuloseste Gattin und die
blutigste Republikanerin spielt, nur um sich selbst unver-
dächtig zu machen und ihren Mann, der in einem Kabi-
nette bei ihr versteckt ist und auf den man fahndet, zu
retten. Die Gefahr der Entdeckung ist immer da; sie
muß sich fortwährend verstellen und muß sich von ihrem
eigenen Kinde und ihren Anverwandten verabscheuen lassen,
bis endlich aus Paris die Nachricht vom 9. Thermidor
und dem Sturz Robespierre's ankommt und die edle Heuch-
lerin entlarvt und den Gatten definitiv rettet. Mit Hülfe
dieser Handlung, die nichts anderes ist als eine fortgesetzte
[Spaltenumbruch] Folter der Heldin sowohl wie des Zuschauers, bringt die
Verfasserin die grassesten Scenen und Effekte hervor, die
sich als Krämpfe äußern müßten, wenn nicht glücklicher-
weise die ungeheure Uebertreibung und die ganz und gar
verzeichneten und unwahrscheinlichen Charaktere fortwäh-
rend daran erinnerten, nicht daß man eine Dichtung,
sondern daß man eine ganz platte Unwahrheit vor sich
habe. -- Noch Schlimmeres ließe sich über Paul Meurice's
neues Stück in der Gait e, über " l'Avocat des pauvres "
sagen, aber ich begnüge mich, Jhnen bloß eines der Haupt-
motive der Handlung hervorzuheben, und Sie mögen
dann selbst urtheilen. Der Held des Stückes kommt in
die grausamsten Lagen, weil die Jnitialen seines Namens
dieselben sind, wie die des Namens eines diebischen Be-
amten, der Gelder veruntreut hat und für den nun der
Held genommen und beinahe verurtheilt wird. Der sonst
nicht dumme Paul Meurice hätte diese geistreiche Erfin-
dung wahrhaftig einem Dichter des Theaters Mont Par-
nasse überlassen können.

An Büchern ist nichts von Bedeutung erschienen.
Von Barthelemy=St. Hilaires Briefen über Egypten lie-
gen über zwanzig Probebogen vor mir, welche nicht viel
Neues über das viel besprochene Land und seine Monu-
mente enthalten. Jm Ganzen schließen sie sich an die
bereits zu einer Bibliothek angewachsene Suez=Literatur
an, und der Durchstich der Landenge bildet eigentlich den
Hauptinhalt; alles übrige ist nur Nebensache, Beschrei-
bung der Denkmäler und Reiseeindrücke, wie sie der Ver-
fasser, der in Gesellschaft der internationalen Commission
gereist ist, nur auf flüchtige Weise betrachten und in sich
aufnehmen konnte. Er gibt sich große Mühe, den Vice-
könig zu loben und das Land so darzustellen, als ob es
mit Hülfe des Suezkanals ein Eldorado und eine Hei-
math der Civilisation werden müßte. Sein Buch hat,
wie fast alle über die Suezangelegenheit geschriebenen Zei-
tungen, Abhandlungen und Bücher, den Charakter einer
bestellten Arbeit und flößt darum wenig Vertrauen ein,
obwohl nicht zu verkennen ist, daß der Verfasser zu den
Suez=Gläubigen gehört, die hier noch immer in Mino-
rität sind, und daß er selbst auf die Realisirung des
großen Planes und auf die goldenen Früchte, die diese
Verwirklichung tragen soll, mit Bestimmtheit hofft. Wir
wollen sehen! Zur Zeit würde noch kein solider Bankier
auf Suezaktien Einzahlungen machen wollen, und in der
That mußten sämmtliche, bereits zu bedeutender Höhe
angewachsenen Kosten der Vorbereitungen zum Durchstich
aus der Tasche des Vicekönigs von Egypten bestritten
werden.

Noch ein anderer Gegenstand, der ehemals die Fran-
zosen sehr beschäftigt und theilweise im Charivari amusirt
hat, ist in einem neuen Buche bearbeitet worden. Jch
meine Gustave d'Alaux's " l'Empereur Soulouque et son
Empire
." Der Verfasser sucht Faustin I., Kaiser von
Haiti, ernst zu nehmen und ein ordentliches Geschichts-
werk zu liefern, aber das Talent des Verfassers hat sich
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] uns zu Prophezeihungen, guten oder schlechten, hinreißen
zu lassen. Jn Paris prophezeiht niemand mehr; nur vor
den Barri è ren in den Wein= und Kaffeehäusern fängt
man wieder zu prophetisiren an.

Verlassen wir diesen Gegenstand, an den ich ganz
unwillkürlich gerathen bin, obwohl ich nur von Kunst
und Kunstwelt habe sprechen wollen. Aber das ist es
eben; man kann von hier aus unmöglich über irgend
einen Theil der hiesigen Gesellschaft und ihrer Zustände
berichten, ohne auf dieses gefährliche und complicirte
Substrat zu kommen. Sprechen wir vom Theater, ob-
wohl ich auch dieß nur mit Widerstreben thue, denn es
ist immer Gefahr dabei, irgend ein theatralisches Mach-
werk nur zu nennen; gleich sind deutsche Theaterdirektoren
und Uebersetzungsfabrikanten dahinter her. Zur Zeit der
Ponsard'schen „Bourse“ haben deutsche Correspondenten ihre
Pflicht aufs Gewissenhafteste erfüllt, als sie das Publikum
vor diesem Stücke warnten und die Theaterdirektoren ver-
sicherten, daß Kalisch's Posse „Hunderttausend Thaler“
hoch über diesem Werke eines Akademikers stehe. Trotz-
dem hat man nur auf die Stimmen hiesiger Cliquenjour-
nale gehört und hat das langweilige Stück viele und
bessere deutsche Arbeiten von der Bühne verdrängt, ohne
darum den Kassen der Direktionen irgend eine Wohlthat
erzeigt zu haben. So fürchten wir uns denn auch der ver-
storbenen Madame Emil Girardin posthumes Stück, » Une
femme qui déteste son mari
«, das neulich im Gymnase
aufgeführt worden, auch nur zu nennen, obwohl wir uns
beeilen hinzuzufügen, daß es ein ganz langweiliges und
schlechtes Machwerk ist, das die kluge Verfasserin bei Leb-
zeiten selbst verworfen hat. Aber seit ihrem Tode hat es
ihr Mann, dieser literarisch politische Barnum, der sie bei
Lebzeiten verschmäht hatte, verstanden, ihr einen solchen
Namen zu machen, daß sich leicht jede Direktion zur Auf-
führung dieses nachgelassenen Dramas entschlossen hätte.
Sind doch seit beinahe zwei Jahren die meisten angesehe-
nen Federn Frankreichs von Girardin, dem Erben ihrer
Werke, in Bewegung gesetzt, um einen Ruhm zu ver-
künden, den der guten Frau Girardin, geb. Gay, bei Leb-
zeiten kein noch so großer Verehrer vorausgesagt haben
würde. Humbug, nichts als Humbug! — Das Drama, dessen
Schauplatz eine Stadt in der Bretagne und Zeit der Hand-
lung die Schreckensepoche ist, malt eine treue Gattin und
Aristokratin, welche vor dem Schreckensmann ihrer Stadt,
der ihr den Hof macht, die treuloseste Gattin und die
blutigste Republikanerin spielt, nur um sich selbst unver-
dächtig zu machen und ihren Mann, der in einem Kabi-
nette bei ihr versteckt ist und auf den man fahndet, zu
retten. Die Gefahr der Entdeckung ist immer da; sie
muß sich fortwährend verstellen und muß sich von ihrem
eigenen Kinde und ihren Anverwandten verabscheuen lassen,
bis endlich aus Paris die Nachricht vom 9. Thermidor
und dem Sturz Robespierre's ankommt und die edle Heuch-
lerin entlarvt und den Gatten definitiv rettet. Mit Hülfe
dieser Handlung, die nichts anderes ist als eine fortgesetzte
[Spaltenumbruch] Folter der Heldin sowohl wie des Zuschauers, bringt die
Verfasserin die grassesten Scenen und Effekte hervor, die
sich als Krämpfe äußern müßten, wenn nicht glücklicher-
weise die ungeheure Uebertreibung und die ganz und gar
verzeichneten und unwahrscheinlichen Charaktere fortwäh-
rend daran erinnerten, nicht daß man eine Dichtung,
sondern daß man eine ganz platte Unwahrheit vor sich
habe. — Noch Schlimmeres ließe sich über Paul Meurice's
neues Stück in der Gait é, über » l'Avocat des pauvres «
sagen, aber ich begnüge mich, Jhnen bloß eines der Haupt-
motive der Handlung hervorzuheben, und Sie mögen
dann selbst urtheilen. Der Held des Stückes kommt in
die grausamsten Lagen, weil die Jnitialen seines Namens
dieselben sind, wie die des Namens eines diebischen Be-
amten, der Gelder veruntreut hat und für den nun der
Held genommen und beinahe verurtheilt wird. Der sonst
nicht dumme Paul Meurice hätte diese geistreiche Erfin-
dung wahrhaftig einem Dichter des Theaters Mont Par-
nasse überlassen können.

An Büchern ist nichts von Bedeutung erschienen.
Von Barthelemy=St. Hilaires Briefen über Egypten lie-
gen über zwanzig Probebogen vor mir, welche nicht viel
Neues über das viel besprochene Land und seine Monu-
mente enthalten. Jm Ganzen schließen sie sich an die
bereits zu einer Bibliothek angewachsene Suez=Literatur
an, und der Durchstich der Landenge bildet eigentlich den
Hauptinhalt; alles übrige ist nur Nebensache, Beschrei-
bung der Denkmäler und Reiseeindrücke, wie sie der Ver-
fasser, der in Gesellschaft der internationalen Commission
gereist ist, nur auf flüchtige Weise betrachten und in sich
aufnehmen konnte. Er gibt sich große Mühe, den Vice-
könig zu loben und das Land so darzustellen, als ob es
mit Hülfe des Suezkanals ein Eldorado und eine Hei-
math der Civilisation werden müßte. Sein Buch hat,
wie fast alle über die Suezangelegenheit geschriebenen Zei-
tungen, Abhandlungen und Bücher, den Charakter einer
bestellten Arbeit und flößt darum wenig Vertrauen ein,
obwohl nicht zu verkennen ist, daß der Verfasser zu den
Suez=Gläubigen gehört, die hier noch immer in Mino-
rität sind, und daß er selbst auf die Realisirung des
großen Planes und auf die goldenen Früchte, die diese
Verwirklichung tragen soll, mit Bestimmtheit hofft. Wir
wollen sehen! Zur Zeit würde noch kein solider Bankier
auf Suezaktien Einzahlungen machen wollen, und in der
That mußten sämmtliche, bereits zu bedeutender Höhe
angewachsenen Kosten der Vorbereitungen zum Durchstich
aus der Tasche des Vicekönigs von Egypten bestritten
werden.

Noch ein anderer Gegenstand, der ehemals die Fran-
zosen sehr beschäftigt und theilweise im Charivari amusirt
hat, ist in einem neuen Buche bearbeitet worden. Jch
meine Gustave d'Alaux's » l'Empereur Soulouque et son
Empire
.« Der Verfasser sucht Faustin I., Kaiser von
Haiti, ernst zu nehmen und ein ordentliches Geschichts-
werk zu liefern, aber das Talent des Verfassers hat sich
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0023" n="1103"/><fw type="pageNum" place="top">1103</fw><cb type="start"/>
uns zu Prophezeihungen, guten oder schlechten, hinreißen<lb/>
zu lassen. Jn Paris prophezeiht niemand mehr; nur vor<lb/>
den Barri <hi rendition="#aq">è</hi> ren in den Wein= und Kaffeehäusern fängt<lb/>
man wieder zu prophetisiren an.   </p><lb/>
        <p>Verlassen wir diesen Gegenstand, an den ich ganz<lb/>
unwillkürlich gerathen bin, obwohl ich nur von Kunst<lb/>
und Kunstwelt habe sprechen wollen. Aber das ist es<lb/>
eben; man kann von hier aus unmöglich über irgend<lb/>
einen Theil der hiesigen Gesellschaft und ihrer Zustände<lb/>
berichten, ohne auf dieses gefährliche und complicirte<lb/>
Substrat zu kommen. Sprechen wir vom Theater, ob-<lb/>
wohl ich auch dieß nur mit Widerstreben thue, denn es<lb/>
ist immer Gefahr dabei, irgend ein theatralisches Mach-<lb/>
werk nur zu nennen; gleich sind deutsche Theaterdirektoren<lb/>
und Uebersetzungsfabrikanten dahinter her. Zur Zeit der<lb/>
Ponsard'schen &#x201E;Bourse&#x201C; haben deutsche Correspondenten ihre<lb/>
Pflicht aufs Gewissenhafteste erfüllt, als sie das Publikum<lb/>
vor diesem Stücke warnten und die Theaterdirektoren ver-<lb/>
sicherten, daß Kalisch's Posse &#x201E;Hunderttausend Thaler&#x201C;<lb/>
hoch über diesem Werke eines Akademikers stehe. Trotz-<lb/>
dem hat man nur auf die Stimmen hiesiger Cliquenjour-<lb/>
nale gehört und hat das langweilige Stück viele und<lb/>
bessere deutsche Arbeiten von der Bühne verdrängt, ohne<lb/>
darum den Kassen der Direktionen irgend eine Wohlthat<lb/>
erzeigt zu haben. So fürchten wir uns denn auch der ver-<lb/>
storbenen Madame Emil Girardin posthumes Stück, » <hi rendition="#aq">Une<lb/>
femme qui déteste son mari</hi> «, das neulich im Gymnase<lb/>
aufgeführt worden, auch nur zu nennen, obwohl wir uns<lb/>
beeilen hinzuzufügen, daß es ein ganz langweiliges und<lb/>
schlechtes Machwerk ist, das die kluge Verfasserin bei Leb-<lb/>
zeiten selbst verworfen hat. Aber seit ihrem Tode hat es<lb/>
ihr Mann, dieser literarisch politische Barnum, der sie bei<lb/>
Lebzeiten verschmäht hatte, verstanden, ihr einen solchen<lb/>
Namen zu machen, daß sich leicht jede Direktion zur Auf-<lb/>
führung dieses nachgelassenen Dramas entschlossen hätte.<lb/>
Sind doch seit beinahe zwei Jahren die meisten angesehe-<lb/>
nen Federn Frankreichs von Girardin, dem Erben ihrer<lb/>
Werke, in Bewegung gesetzt, um einen Ruhm zu ver-<lb/>
künden, den der guten Frau Girardin, geb. Gay, bei Leb-<lb/>
zeiten kein noch so großer Verehrer vorausgesagt haben<lb/>
würde. Humbug, nichts als Humbug! &#x2014; Das Drama, dessen<lb/>
Schauplatz eine Stadt in der Bretagne und Zeit der Hand-<lb/>
lung die Schreckensepoche ist, malt eine treue Gattin und<lb/>
Aristokratin, welche vor dem Schreckensmann ihrer Stadt,<lb/>
der ihr den Hof macht, die treuloseste Gattin und die<lb/>
blutigste Republikanerin spielt, nur um sich selbst unver-<lb/>
dächtig zu machen und ihren Mann, der in einem Kabi-<lb/>
nette bei ihr versteckt ist und auf den man fahndet, zu<lb/>
retten. Die Gefahr der Entdeckung ist immer da; sie<lb/>
muß sich fortwährend verstellen und muß sich von ihrem<lb/>
eigenen Kinde und ihren Anverwandten verabscheuen lassen,<lb/>
bis endlich aus Paris die Nachricht vom 9. Thermidor<lb/>
und dem Sturz Robespierre's ankommt und die edle Heuch-<lb/>
lerin entlarvt und den Gatten definitiv rettet. Mit Hülfe<lb/>
dieser Handlung, die nichts anderes ist als eine fortgesetzte<lb/><cb n="2"/>
Folter der Heldin sowohl wie des Zuschauers, bringt die<lb/>
Verfasserin die grassesten Scenen und Effekte hervor, die<lb/>
sich als Krämpfe äußern müßten, wenn nicht glücklicher-<lb/>
weise die ungeheure Uebertreibung und die ganz und gar<lb/>
verzeichneten und unwahrscheinlichen Charaktere fortwäh-<lb/>
rend daran erinnerten, nicht daß man eine Dichtung,<lb/>
sondern daß man eine ganz platte Unwahrheit vor sich<lb/>
habe. &#x2014; Noch Schlimmeres ließe sich über Paul Meurice's<lb/>
neues Stück in der Gait <hi rendition="#aq">é</hi>, über » <hi rendition="#aq">l'Avocat des pauvres</hi> «<lb/>
sagen, aber ich begnüge mich, Jhnen bloß eines der Haupt-<lb/>
motive der Handlung hervorzuheben, und Sie mögen<lb/>
dann selbst urtheilen. Der Held des Stückes kommt in<lb/>
die grausamsten Lagen, weil die Jnitialen seines Namens<lb/>
dieselben sind, wie die des Namens eines diebischen Be-<lb/>
amten, der Gelder veruntreut hat und für den nun der<lb/>
Held genommen und beinahe verurtheilt wird. Der sonst<lb/>
nicht dumme Paul Meurice hätte diese geistreiche Erfin-<lb/>
dung wahrhaftig einem Dichter des Theaters Mont Par-<lb/>
nasse überlassen können. </p><lb/>
        <p>An Büchern ist nichts von Bedeutung erschienen.<lb/>
Von Barthelemy=St. Hilaires Briefen über Egypten lie-<lb/>
gen über zwanzig Probebogen vor mir, welche nicht viel<lb/>
Neues über das viel besprochene Land und seine Monu-<lb/>
mente enthalten. Jm Ganzen schließen sie sich an die<lb/>
bereits zu einer Bibliothek angewachsene Suez=Literatur<lb/>
an, und der Durchstich der Landenge bildet eigentlich den<lb/>
Hauptinhalt; alles übrige ist nur Nebensache, Beschrei-<lb/>
bung der Denkmäler und Reiseeindrücke, wie sie der Ver-<lb/>
fasser, der in Gesellschaft der internationalen Commission<lb/>
gereist ist, nur auf flüchtige Weise betrachten und in sich<lb/>
aufnehmen konnte. Er gibt sich große Mühe, den Vice-<lb/>
könig zu loben und das Land so darzustellen, als ob es<lb/>
mit Hülfe des Suezkanals ein Eldorado und eine Hei-<lb/>
math der Civilisation werden müßte. Sein Buch hat,<lb/>
wie fast alle über die Suezangelegenheit geschriebenen Zei-<lb/>
tungen, Abhandlungen und Bücher, den Charakter einer<lb/>
bestellten Arbeit und flößt darum wenig Vertrauen ein,<lb/>
obwohl nicht zu verkennen ist, daß der Verfasser zu den<lb/>
Suez=Gläubigen gehört, die hier noch immer in Mino-<lb/>
rität sind, und daß er selbst auf die Realisirung des<lb/>
großen Planes und auf die goldenen Früchte, die diese<lb/>
Verwirklichung tragen soll, mit Bestimmtheit hofft. Wir<lb/>
wollen sehen! Zur Zeit würde noch kein solider Bankier<lb/>
auf Suezaktien Einzahlungen machen wollen, und in der<lb/>
That mußten sämmtliche, bereits zu bedeutender Höhe<lb/>
angewachsenen Kosten der Vorbereitungen zum Durchstich<lb/>
aus der Tasche des Vicekönigs von Egypten bestritten<lb/>
werden.   </p><lb/>
        <p>Noch ein anderer Gegenstand, der ehemals die Fran-<lb/>
zosen sehr beschäftigt und theilweise im Charivari amusirt<lb/>
hat, ist in einem neuen Buche bearbeitet worden. Jch<lb/>
meine Gustave d'Alaux's » <hi rendition="#aq">l'Empereur Soulouque et son<lb/>
Empire</hi>.« Der Verfasser sucht Faustin <hi rendition="#aq">I</hi>., Kaiser von<lb/>
Haiti, ernst zu nehmen und ein ordentliches Geschichts-<lb/>
werk zu liefern, aber das Talent des Verfassers hat sich<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1103/0023] 1103 uns zu Prophezeihungen, guten oder schlechten, hinreißen zu lassen. Jn Paris prophezeiht niemand mehr; nur vor den Barri è ren in den Wein= und Kaffeehäusern fängt man wieder zu prophetisiren an. Verlassen wir diesen Gegenstand, an den ich ganz unwillkürlich gerathen bin, obwohl ich nur von Kunst und Kunstwelt habe sprechen wollen. Aber das ist es eben; man kann von hier aus unmöglich über irgend einen Theil der hiesigen Gesellschaft und ihrer Zustände berichten, ohne auf dieses gefährliche und complicirte Substrat zu kommen. Sprechen wir vom Theater, ob- wohl ich auch dieß nur mit Widerstreben thue, denn es ist immer Gefahr dabei, irgend ein theatralisches Mach- werk nur zu nennen; gleich sind deutsche Theaterdirektoren und Uebersetzungsfabrikanten dahinter her. Zur Zeit der Ponsard'schen „Bourse“ haben deutsche Correspondenten ihre Pflicht aufs Gewissenhafteste erfüllt, als sie das Publikum vor diesem Stücke warnten und die Theaterdirektoren ver- sicherten, daß Kalisch's Posse „Hunderttausend Thaler“ hoch über diesem Werke eines Akademikers stehe. Trotz- dem hat man nur auf die Stimmen hiesiger Cliquenjour- nale gehört und hat das langweilige Stück viele und bessere deutsche Arbeiten von der Bühne verdrängt, ohne darum den Kassen der Direktionen irgend eine Wohlthat erzeigt zu haben. So fürchten wir uns denn auch der ver- storbenen Madame Emil Girardin posthumes Stück, » Une femme qui déteste son mari «, das neulich im Gymnase aufgeführt worden, auch nur zu nennen, obwohl wir uns beeilen hinzuzufügen, daß es ein ganz langweiliges und schlechtes Machwerk ist, das die kluge Verfasserin bei Leb- zeiten selbst verworfen hat. Aber seit ihrem Tode hat es ihr Mann, dieser literarisch politische Barnum, der sie bei Lebzeiten verschmäht hatte, verstanden, ihr einen solchen Namen zu machen, daß sich leicht jede Direktion zur Auf- führung dieses nachgelassenen Dramas entschlossen hätte. Sind doch seit beinahe zwei Jahren die meisten angesehe- nen Federn Frankreichs von Girardin, dem Erben ihrer Werke, in Bewegung gesetzt, um einen Ruhm zu ver- künden, den der guten Frau Girardin, geb. Gay, bei Leb- zeiten kein noch so großer Verehrer vorausgesagt haben würde. Humbug, nichts als Humbug! — Das Drama, dessen Schauplatz eine Stadt in der Bretagne und Zeit der Hand- lung die Schreckensepoche ist, malt eine treue Gattin und Aristokratin, welche vor dem Schreckensmann ihrer Stadt, der ihr den Hof macht, die treuloseste Gattin und die blutigste Republikanerin spielt, nur um sich selbst unver- dächtig zu machen und ihren Mann, der in einem Kabi- nette bei ihr versteckt ist und auf den man fahndet, zu retten. Die Gefahr der Entdeckung ist immer da; sie muß sich fortwährend verstellen und muß sich von ihrem eigenen Kinde und ihren Anverwandten verabscheuen lassen, bis endlich aus Paris die Nachricht vom 9. Thermidor und dem Sturz Robespierre's ankommt und die edle Heuch- lerin entlarvt und den Gatten definitiv rettet. Mit Hülfe dieser Handlung, die nichts anderes ist als eine fortgesetzte Folter der Heldin sowohl wie des Zuschauers, bringt die Verfasserin die grassesten Scenen und Effekte hervor, die sich als Krämpfe äußern müßten, wenn nicht glücklicher- weise die ungeheure Uebertreibung und die ganz und gar verzeichneten und unwahrscheinlichen Charaktere fortwäh- rend daran erinnerten, nicht daß man eine Dichtung, sondern daß man eine ganz platte Unwahrheit vor sich habe. — Noch Schlimmeres ließe sich über Paul Meurice's neues Stück in der Gait é, über » l'Avocat des pauvres « sagen, aber ich begnüge mich, Jhnen bloß eines der Haupt- motive der Handlung hervorzuheben, und Sie mögen dann selbst urtheilen. Der Held des Stückes kommt in die grausamsten Lagen, weil die Jnitialen seines Namens dieselben sind, wie die des Namens eines diebischen Be- amten, der Gelder veruntreut hat und für den nun der Held genommen und beinahe verurtheilt wird. Der sonst nicht dumme Paul Meurice hätte diese geistreiche Erfin- dung wahrhaftig einem Dichter des Theaters Mont Par- nasse überlassen können. An Büchern ist nichts von Bedeutung erschienen. Von Barthelemy=St. Hilaires Briefen über Egypten lie- gen über zwanzig Probebogen vor mir, welche nicht viel Neues über das viel besprochene Land und seine Monu- mente enthalten. Jm Ganzen schließen sie sich an die bereits zu einer Bibliothek angewachsene Suez=Literatur an, und der Durchstich der Landenge bildet eigentlich den Hauptinhalt; alles übrige ist nur Nebensache, Beschrei- bung der Denkmäler und Reiseeindrücke, wie sie der Ver- fasser, der in Gesellschaft der internationalen Commission gereist ist, nur auf flüchtige Weise betrachten und in sich aufnehmen konnte. Er gibt sich große Mühe, den Vice- könig zu loben und das Land so darzustellen, als ob es mit Hülfe des Suezkanals ein Eldorado und eine Hei- math der Civilisation werden müßte. Sein Buch hat, wie fast alle über die Suezangelegenheit geschriebenen Zei- tungen, Abhandlungen und Bücher, den Charakter einer bestellten Arbeit und flößt darum wenig Vertrauen ein, obwohl nicht zu verkennen ist, daß der Verfasser zu den Suez=Gläubigen gehört, die hier noch immer in Mino- rität sind, und daß er selbst auf die Realisirung des großen Planes und auf die goldenen Früchte, die diese Verwirklichung tragen soll, mit Bestimmtheit hofft. Wir wollen sehen! Zur Zeit würde noch kein solider Bankier auf Suezaktien Einzahlungen machen wollen, und in der That mußten sämmtliche, bereits zu bedeutender Höhe angewachsenen Kosten der Vorbereitungen zum Durchstich aus der Tasche des Vicekönigs von Egypten bestritten werden. Noch ein anderer Gegenstand, der ehemals die Fran- zosen sehr beschäftigt und theilweise im Charivari amusirt hat, ist in einem neuen Buche bearbeitet worden. Jch meine Gustave d'Alaux's » l'Empereur Soulouque et son Empire.« Der Verfasser sucht Faustin I., Kaiser von Haiti, ernst zu nehmen und ein ordentliches Geschichts- werk zu liefern, aber das Talent des Verfassers hat sich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/23
Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/23>, abgerufen am 14.08.2024.