Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
diese Betrachtungen vermochten nichts gegen den unheim- Zuerst ergreift einen ein unbehagliches Frösteln, An den Wänden zeigen sich Massen von Tropf- Jnmitten der Tiefe werden auf einmal die Lampen Es war Mitternacht, als wir aus der Höhle heraus [Beginn Spaltensatz]
diese Betrachtungen vermochten nichts gegen den unheim- Zuerst ergreift einen ein unbehagliches Frösteln, An den Wänden zeigen sich Massen von Tropf- Jnmitten der Tiefe werden auf einmal die Lampen Es war Mitternacht, als wir aus der Höhle heraus <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0018" n="1098"/><fw type="pageNum" place="top">1098</fw><cb type="start"/> diese Betrachtungen vermochten nichts gegen den unheim-<lb/> lichen, beklemmenden Eindruck, den diese unterirdischen<lb/> Gänge und Gewölbe auf mich machten, und wohl auf<lb/> jeden Menschen mit reger Phantasie und reizbaren Nerven<lb/> hervorbringen müssen. Erst jetzt wurde mir der Schauer<lb/> ganz verständlich, den die Alten vor der Unterwelt,<lb/> „des A<hi rendition="#aq">ï</hi>des dunkler Behausung“ empfanden, und was<lb/> anders war diese denn auch wohl als solch eine unter-<lb/> irdische Höhle, welche die Phantasie leicht mit den Gei-<lb/> stern der Abgeschiedenen und den übrigen Bewohnern<lb/> des Schattenreichs füllte? Uebrigens, wie die Wirk-<lb/> lichkeit oft fabelhafter ist als irgendwelche Erfindung,<lb/> so macht diese Unterwelt in ihrer ewigen dunkeln Ein-<lb/> samkeit einen schauerlicheren Eindruck, als wenn man<lb/> sie sich mit allen jenen Gestalten bevölkert, die Odysseus<lb/> dort unten antraf. Dieses Grauen erstreckt sich selbst<lb/> auf die Thiere, und ich bemerkte, wie ein junger mun-<lb/> terer Hund, der Howe auf jedem Schritt begleitete und<lb/> uns auch zum Eingang folgte, hier auf einmal stehen<lb/> blieb, wedelte und dann umkehrte.</p><lb/> <p>Zuerst ergreift einen ein unbehagliches Frösteln,<lb/> doch bald gewöhnt man sich an die Temperatur, welche<lb/> im Sommer wie im Winter 49 Grad Fahrenheit, un-<lb/> gefähr 7 Grad Reaumur beträgt. Die Luft ist auf-<lb/> fallend frisch und rein, und zwar mehrere Meilen weit<lb/> im Jnnern nicht weniger als am Eingang. Zuerst ge-<lb/> langt man in weite, oft dreißig bis vierzig Fuß hohe<lb/> Gewölbe, von denen eines, » <hi rendition="#aq">the musical hall</hi>,« eine so<lb/> starke Resonnanz hat, daß ein aus geringer Höhe nie-<lb/> derfallendes Brett den Donner eines Kanonenschusses<lb/> hervorbringt. Bald verengt sich der Weg und man<lb/> muß sich gebückt durch Gänge winden, wo man auf<lb/> beiden Seiten die Felswand berührt. Zur Seite rauschen<lb/> Bäche, und wenn man an einer Stelle das Ohr an<lb/> die Wand legt, hört mar. deutlich das Brausen eines<lb/> unterirdischen Wasserfalls, den noch kein menschliches<lb/> Auge erblickt hat. Bald darauf kommt man an einen<lb/> kleinen sehr klaren See, den Acheron dieser Unterwelt,<lb/> den man in einem Boot überschifft. Nicht lange darauf<lb/> erreicht man den Fuß eines überaus rauhen und steilen<lb/> Felsenweges, von Howe » <hi rendition="#aq">the Rocky Mountains</hi> « genannt<lb/> hat. Ueber abschüssige Felsen, zwischen denen weite<lb/> Spalten schwarze Abgründe sehen lassen, auf schmalen<lb/> Brettern über rauschende Bäche hin, klettert man bald<lb/><cb n="2"/> hoch empor, bald wieder hinunter in die gähnende Tiefe,<lb/> bis sechshundert Fuß unter die Oberfläche des Berges.<lb/> Howe ließ seine Töchter, die mit der Behendigkeit von<lb/> Katzen über das wilde Gestein kletterten, hier voraus<lb/> gehen, und erst wenn man sie beim Schein der Lampen<lb/> mehrere hundert Fuß über oder unter sich erblickte, be-<lb/> kam man einen Begriff von der Höhe und Tiefe, die<lb/> man durchmessen hatte.</p><lb/> <p>An den Wänden zeigen sich Massen von Tropf-<lb/> steingebilden, Crystallisationen und Versteinerungen von<lb/> Schaalthieren und Pflanzen. Ein großer Theil der<lb/> Wände besteht aus crystallisirtem Kalkstein, der im mat-<lb/> ten Lichtschein den Eindruck von Eisbergen macht und<lb/> einen nur eine bessere Beleuchtung wünschen läßt, um<lb/> ihn in seinem vollen Glanze zu bewundern. Ferner wird<lb/> einem ein großer dunkler, ganz runder Stein gezeigt, der<lb/> vierzig Fuß im Umkreis haben soll und nur durch die<lb/> Gewalt des seit der Urzeit darauf wirkenden Wassers<lb/> seine runde Gestalt erhielt, wozu nach der Berechnung<lb/> nicht weniger als der kleine Zeitraum von 260,000<lb/> Jahren erforderlich war.</p><lb/> <p>Jnmitten der Tiefe werden auf einmal die Lampen<lb/> ausgelöscht, um einem einen Begriff von der schwarzen,<lb/> man möchte sagen handgreiflichen Finsterniß zu geben,<lb/> deren ungeachtet aber Howe hier so zu Hause ist, daß<lb/> er selbst im Dunkeln seinen Weg zwar langsam, aber<lb/> nicht weniger sicher finden würde. Er liebt die Auf-<lb/> regung und die Schauer, welche die Durchforschung der<lb/> Höhle mit sich bringt, und fühlt sich dadurch gestählt und<lb/> gehoben. Jch bewundere diese ruhige Kühnheit mehr als<lb/> die des Backwoodman, der sein Leben im Kampfe mit<lb/> Jndianern und Bären in die Schanze schlägt, mehr als<lb/> die des Soldaten auf dem Schlachtfelde, da beide doch<lb/> nur gegen bekannte Gewalten streiten, während die stille,<lb/> unheimliche, unerforschte Finsterniß bei jedem Schritt<lb/> mit neuen, unbekannten Gefahren droht.</p><lb/> <p>Es war Mitternacht, als wir aus der Höhle heraus<lb/> traten; am Himmel glänzten Mond und Sterne, und<lb/> gleich einem der Gefangenschaft Entronnenen begrüßte<lb/> ich die Stimmen der Jnsekten, athmete ich die warme<lb/> Sommerluft und den Duft der Bäume, fast so, als da<lb/> ich nach sechswöchentlicher Seereise zuerst den festen<lb/> Boden betrat. Jch fühlte mich wieder in meinem Element.</p> </div> </div><lb/> <cb type="end"/> <space dim="vertical"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [1098/0018]
1098
diese Betrachtungen vermochten nichts gegen den unheim-
lichen, beklemmenden Eindruck, den diese unterirdischen
Gänge und Gewölbe auf mich machten, und wohl auf
jeden Menschen mit reger Phantasie und reizbaren Nerven
hervorbringen müssen. Erst jetzt wurde mir der Schauer
ganz verständlich, den die Alten vor der Unterwelt,
„des Aïdes dunkler Behausung“ empfanden, und was
anders war diese denn auch wohl als solch eine unter-
irdische Höhle, welche die Phantasie leicht mit den Gei-
stern der Abgeschiedenen und den übrigen Bewohnern
des Schattenreichs füllte? Uebrigens, wie die Wirk-
lichkeit oft fabelhafter ist als irgendwelche Erfindung,
so macht diese Unterwelt in ihrer ewigen dunkeln Ein-
samkeit einen schauerlicheren Eindruck, als wenn man
sie sich mit allen jenen Gestalten bevölkert, die Odysseus
dort unten antraf. Dieses Grauen erstreckt sich selbst
auf die Thiere, und ich bemerkte, wie ein junger mun-
terer Hund, der Howe auf jedem Schritt begleitete und
uns auch zum Eingang folgte, hier auf einmal stehen
blieb, wedelte und dann umkehrte.
Zuerst ergreift einen ein unbehagliches Frösteln,
doch bald gewöhnt man sich an die Temperatur, welche
im Sommer wie im Winter 49 Grad Fahrenheit, un-
gefähr 7 Grad Reaumur beträgt. Die Luft ist auf-
fallend frisch und rein, und zwar mehrere Meilen weit
im Jnnern nicht weniger als am Eingang. Zuerst ge-
langt man in weite, oft dreißig bis vierzig Fuß hohe
Gewölbe, von denen eines, » the musical hall,« eine so
starke Resonnanz hat, daß ein aus geringer Höhe nie-
derfallendes Brett den Donner eines Kanonenschusses
hervorbringt. Bald verengt sich der Weg und man
muß sich gebückt durch Gänge winden, wo man auf
beiden Seiten die Felswand berührt. Zur Seite rauschen
Bäche, und wenn man an einer Stelle das Ohr an
die Wand legt, hört mar. deutlich das Brausen eines
unterirdischen Wasserfalls, den noch kein menschliches
Auge erblickt hat. Bald darauf kommt man an einen
kleinen sehr klaren See, den Acheron dieser Unterwelt,
den man in einem Boot überschifft. Nicht lange darauf
erreicht man den Fuß eines überaus rauhen und steilen
Felsenweges, von Howe » the Rocky Mountains « genannt
hat. Ueber abschüssige Felsen, zwischen denen weite
Spalten schwarze Abgründe sehen lassen, auf schmalen
Brettern über rauschende Bäche hin, klettert man bald
hoch empor, bald wieder hinunter in die gähnende Tiefe,
bis sechshundert Fuß unter die Oberfläche des Berges.
Howe ließ seine Töchter, die mit der Behendigkeit von
Katzen über das wilde Gestein kletterten, hier voraus
gehen, und erst wenn man sie beim Schein der Lampen
mehrere hundert Fuß über oder unter sich erblickte, be-
kam man einen Begriff von der Höhe und Tiefe, die
man durchmessen hatte.
An den Wänden zeigen sich Massen von Tropf-
steingebilden, Crystallisationen und Versteinerungen von
Schaalthieren und Pflanzen. Ein großer Theil der
Wände besteht aus crystallisirtem Kalkstein, der im mat-
ten Lichtschein den Eindruck von Eisbergen macht und
einen nur eine bessere Beleuchtung wünschen läßt, um
ihn in seinem vollen Glanze zu bewundern. Ferner wird
einem ein großer dunkler, ganz runder Stein gezeigt, der
vierzig Fuß im Umkreis haben soll und nur durch die
Gewalt des seit der Urzeit darauf wirkenden Wassers
seine runde Gestalt erhielt, wozu nach der Berechnung
nicht weniger als der kleine Zeitraum von 260,000
Jahren erforderlich war.
Jnmitten der Tiefe werden auf einmal die Lampen
ausgelöscht, um einem einen Begriff von der schwarzen,
man möchte sagen handgreiflichen Finsterniß zu geben,
deren ungeachtet aber Howe hier so zu Hause ist, daß
er selbst im Dunkeln seinen Weg zwar langsam, aber
nicht weniger sicher finden würde. Er liebt die Auf-
regung und die Schauer, welche die Durchforschung der
Höhle mit sich bringt, und fühlt sich dadurch gestählt und
gehoben. Jch bewundere diese ruhige Kühnheit mehr als
die des Backwoodman, der sein Leben im Kampfe mit
Jndianern und Bären in die Schanze schlägt, mehr als
die des Soldaten auf dem Schlachtfelde, da beide doch
nur gegen bekannte Gewalten streiten, während die stille,
unheimliche, unerforschte Finsterniß bei jedem Schritt
mit neuen, unbekannten Gefahren droht.
Es war Mitternacht, als wir aus der Höhle heraus
traten; am Himmel glänzten Mond und Sterne, und
gleich einem der Gefangenschaft Entronnenen begrüßte
ich die Stimmen der Jnsekten, athmete ich die warme
Sommerluft und den Duft der Bäume, fast so, als da
ich nach sechswöchentlicher Seereise zuerst den festen
Boden betrat. Jch fühlte mich wieder in meinem Element.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung
Weitere Informationen:Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |