Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
Nach der einen Seite, der theoretischen so zu sagen, ...... Alles, Alles muß verwehen, Ob Halbheit kann die ganze Schöpfung klagen! Die letzte Zeile, an sich schon prosaisch ungelenk und Blieb im Verderben auch ein Keim der Wonne." Da in der "Jnnenwelt" des Dichters solche " Stimmun- ( Schluß folgt. ) Korrespondenz=Nachrichten. London, Oktober. ( Schluß. ) Die Bibel, der Talmud und das englische Gesetz. Jm Jahr 1849 erließ das Parlament ein Gesetz, [Beginn Spaltensatz]
Nach der einen Seite, der theoretischen so zu sagen, ...... Alles, Alles muß verwehen, Ob Halbheit kann die ganze Schöpfung klagen! Die letzte Zeile, an sich schon prosaisch ungelenk und Blieb im Verderben auch ein Keim der Wonne.“ Da in der „Jnnenwelt“ des Dichters solche „ Stimmun- ( Schluß folgt. ) Korrespondenz=Nachrichten. London, Oktober. ( Schluß. ) Die Bibel, der Talmud und das englische Gesetz. Jm Jahr 1849 erließ das Parlament ein Gesetz, <TEI> <text> <body> <div type="jCulturalNews" n="1"> <pb facs="#f0020" n="1052"/> <fw type="pageNum" place="top">1052</fw> <cb type="start"/> <p>Nach der einen Seite, der theoretischen so zu sagen,<lb/> steht Siebel Dichtern wie Meister und Gottschall am näch-<lb/> sten. Bei diesen ist aber der Pantheismus, obgleich auch<lb/> ein durchaus abstrakter und äußerlicher, mehr aggressiv<lb/> und der Welt, wenn er sie auch nicht durchdringt, we-<lb/> nigstens von außen her stürmisch zu Leibe gehend. Der<lb/> Siebelsche Pantheismus dagegen ist, wie gesagt, ein passi-<lb/> ver, sentimentaler, resignirender. Er ließe sich daher am<lb/> besten mit Leopold Schefer zusammen stellen, bei welchem<lb/> jede Mücke den süßen Weltschmerz hervorzurufen im Stande<lb/> ist, der in dem Zerfließen, in der Rückkehr in das All<lb/> liegt. So tröstet sich auch Siebel: „Was soll ich bangen<lb/> und was soll ich zagen?“</p><lb/> <lg type="poem"> <l>...... Alles, Alles muß verwehen,</l><lb/> <l>Ob Halbheit kann die ganze Schöpfung klagen!</l> </lg><lb/> <p>Die letzte Zeile, an sich schon prosaisch ungelenk und<lb/> doktrinär, ist eigentlich ein Schnitzer gegen das Sy-<lb/> stem, ein Zurücksinken von dem absoluten Standpunkt in<lb/> den ordinären der Reflexion; die Jntention des ganzen<lb/><cb n="2"/> Gedichts aber ist offenbar keine andere als die, den Schmerz<lb/> des Vergehens aufzulösen in die Wonne eines ewigen<lb/> Werdens. „Wenn jeder Strahl der Sonnen in trübes<lb/> Dunkel einstens dir zerronnen, </p><lb/> <lg> <l>Blieb im Verderben auch ein Keim der Wonne.“</l> </lg><lb/> <p>Da in der „Jnnenwelt“ des Dichters solche „ Stimmun-<lb/> gen “ vorherrschen, da das „Beschauliche“ meistens aus dieser<lb/> Richtung kommt, so kann auch das, was er „aus dem<lb/> Leben“ greift, nicht wohl einen andern Charakter haben.<lb/> Die meisten Situationen sind elegische, schmerzliche: Die<lb/> zweite Frau, Ein Wittwer, Ein einsam Kämmerlein, Das<lb/> unglückliche Kind, Haß und Liebe und die meisten andern.<lb/> Der sentimentale Pantheismus, der sich in der Natur-<lb/> und Weltbetrachtung ausspricht, wird zu einer kränklich<lb/> schmerzlichen Psychologie; wie er dort sich mit dem Keim<lb/> der Wonne tröstete, der in jedem Verderben liegt, so ge-<lb/> fällt er sich hier in dem süßen Schmerz, der für das em-<lb/> pfindsame Herz bei der äußeren Zurückstoßung und Ver-<lb/> letzung seiner innersten Gefühle übrig bleibt. </p><lb/> <cb type="end"/> <p> <hi rendition="#c">( Schluß folgt. )</hi> </p> </div><lb/> <space dim="vertical"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <space dim="vertical"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#fr">Korrespondenz=Nachrichten.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head>London, <date>Oktober</date>.<lb/> ( Schluß. )</head><lb/> <argument> <p>Die Bibel, der Talmud und das englische Gesetz.</p> </argument><lb/> <cb type="start"/> <p>Jm Jahr 1849 erließ das Parlament ein Gesetz,<lb/> das zum Zweck hatte, die Thiere vor Mißhandlung<lb/> zu schützen Ochsen und Pferde hatten in der Lokomo-<lb/> tive eine furchtbare Concurentin gefunden, mit der<lb/> sie nicht gleichen Schritt halten konnten, und das Gesetz<lb/> beabsichtigte eigentlich nur, die Menschen von den Ge-<lb/> walthätigkeiten abzuhalten, mit denen sie den Schritt der<lb/> Thiere übermäßig zu beschleunigen suchten. Jn England<lb/> ein Last= oder Zugthier zu seyn, ist ein hartes Loos,<lb/> und die Engländer gehen nicht auf die feinste Weise mit<lb/> diesen ihren Sklaven um. Um also die Thiere vor den<lb/> Menschen zu schützen, hatte das englische Parlament das<lb/> neue Gesetz erlassen. Nun gibt es bekanntlich in England<lb/> keine öffentlichen Ankläger; das Jndividuum muß immer<lb/> die Klage selbst stellen und den jedesmaligen Uebertreter<lb/> eines Gesetzes vor Gericht belangen und zur Strafe zie-<lb/> hen, was für den ersteren meistens mit Kosten und oft<lb/> mit großen Gefahren verbunden ist. Von den mißhan-<lb/> delten Thieren aber war nicht zu erwarten, daß sie die<lb/> Menschen, ihre Unterdrücker, vor Gericht ziehen würden.<lb/><cb n="2"/> Es bildete sich daher sofort eine Gesellschaft von philan-<lb/> thropischen oder vielmehr philozoischen Engländern, die<lb/> sich zur Aufgabe stellten, auf jede Thierquälerei ein wach-<lb/> sames Auge zu haben und allenthalben, wo es Noth<lb/> that, auf eigene Kosten die Procedur einzuleiten und auf<lb/> Vestrafung eines jeden das geringste Geschöpf der Erde,<lb/> Hund oder Katze, Pferd oder Schaf, mißhandelnden Men-<lb/> schen zu dringen. Für die mißhandelten Weiber, die<lb/> eben so gut Gottes Geschöpfe sind als Pferde und Schafe,<lb/> Hunde und Katzen, besteht keine menschenfreundliche Ge-<lb/> sellschaft, und wenn sie von ihren Männern auf die bru-<lb/> talste Weise mißhandelt werden, bleibt ihnen nichts übrig,<lb/> als in eigener Person, auf ihre eigenen Kosten die Pro-<lb/> cedur zu führen. Unglücklicherweise fällt die Strafe im-<lb/> mer auf das arme Weib zurück. Ob nun der Mann<lb/> zu einer Geldstrafe oder zum Gefängniß verurtheilt wird,<lb/> in beiden Fällen hat die Frau den Schaden zu tragen,<lb/> da dieselbe hiedurch mit ihren Kindern der Existenz-<lb/> mittel beraubt wird. Für diese unglücklichen, miß-<lb/> handelten Weiber besteht keine Gesellschaft von Thier = oder<lb/><cb type="end"/> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1052/0020]
1052
Nach der einen Seite, der theoretischen so zu sagen,
steht Siebel Dichtern wie Meister und Gottschall am näch-
sten. Bei diesen ist aber der Pantheismus, obgleich auch
ein durchaus abstrakter und äußerlicher, mehr aggressiv
und der Welt, wenn er sie auch nicht durchdringt, we-
nigstens von außen her stürmisch zu Leibe gehend. Der
Siebelsche Pantheismus dagegen ist, wie gesagt, ein passi-
ver, sentimentaler, resignirender. Er ließe sich daher am
besten mit Leopold Schefer zusammen stellen, bei welchem
jede Mücke den süßen Weltschmerz hervorzurufen im Stande
ist, der in dem Zerfließen, in der Rückkehr in das All
liegt. So tröstet sich auch Siebel: „Was soll ich bangen
und was soll ich zagen?“
...... Alles, Alles muß verwehen,
Ob Halbheit kann die ganze Schöpfung klagen!
Die letzte Zeile, an sich schon prosaisch ungelenk und
doktrinär, ist eigentlich ein Schnitzer gegen das Sy-
stem, ein Zurücksinken von dem absoluten Standpunkt in
den ordinären der Reflexion; die Jntention des ganzen
Gedichts aber ist offenbar keine andere als die, den Schmerz
des Vergehens aufzulösen in die Wonne eines ewigen
Werdens. „Wenn jeder Strahl der Sonnen in trübes
Dunkel einstens dir zerronnen,
Blieb im Verderben auch ein Keim der Wonne.“
Da in der „Jnnenwelt“ des Dichters solche „ Stimmun-
gen “ vorherrschen, da das „Beschauliche“ meistens aus dieser
Richtung kommt, so kann auch das, was er „aus dem
Leben“ greift, nicht wohl einen andern Charakter haben.
Die meisten Situationen sind elegische, schmerzliche: Die
zweite Frau, Ein Wittwer, Ein einsam Kämmerlein, Das
unglückliche Kind, Haß und Liebe und die meisten andern.
Der sentimentale Pantheismus, der sich in der Natur-
und Weltbetrachtung ausspricht, wird zu einer kränklich
schmerzlichen Psychologie; wie er dort sich mit dem Keim
der Wonne tröstete, der in jedem Verderben liegt, so ge-
fällt er sich hier in dem süßen Schmerz, der für das em-
pfindsame Herz bei der äußeren Zurückstoßung und Ver-
letzung seiner innersten Gefühle übrig bleibt.
( Schluß folgt. )
Korrespondenz=Nachrichten.
London, Oktober.
( Schluß. )
Die Bibel, der Talmud und das englische Gesetz.
Jm Jahr 1849 erließ das Parlament ein Gesetz,
das zum Zweck hatte, die Thiere vor Mißhandlung
zu schützen Ochsen und Pferde hatten in der Lokomo-
tive eine furchtbare Concurentin gefunden, mit der
sie nicht gleichen Schritt halten konnten, und das Gesetz
beabsichtigte eigentlich nur, die Menschen von den Ge-
walthätigkeiten abzuhalten, mit denen sie den Schritt der
Thiere übermäßig zu beschleunigen suchten. Jn England
ein Last= oder Zugthier zu seyn, ist ein hartes Loos,
und die Engländer gehen nicht auf die feinste Weise mit
diesen ihren Sklaven um. Um also die Thiere vor den
Menschen zu schützen, hatte das englische Parlament das
neue Gesetz erlassen. Nun gibt es bekanntlich in England
keine öffentlichen Ankläger; das Jndividuum muß immer
die Klage selbst stellen und den jedesmaligen Uebertreter
eines Gesetzes vor Gericht belangen und zur Strafe zie-
hen, was für den ersteren meistens mit Kosten und oft
mit großen Gefahren verbunden ist. Von den mißhan-
delten Thieren aber war nicht zu erwarten, daß sie die
Menschen, ihre Unterdrücker, vor Gericht ziehen würden.
Es bildete sich daher sofort eine Gesellschaft von philan-
thropischen oder vielmehr philozoischen Engländern, die
sich zur Aufgabe stellten, auf jede Thierquälerei ein wach-
sames Auge zu haben und allenthalben, wo es Noth
that, auf eigene Kosten die Procedur einzuleiten und auf
Vestrafung eines jeden das geringste Geschöpf der Erde,
Hund oder Katze, Pferd oder Schaf, mißhandelnden Men-
schen zu dringen. Für die mißhandelten Weiber, die
eben so gut Gottes Geschöpfe sind als Pferde und Schafe,
Hunde und Katzen, besteht keine menschenfreundliche Ge-
sellschaft, und wenn sie von ihren Männern auf die bru-
talste Weise mißhandelt werden, bleibt ihnen nichts übrig,
als in eigener Person, auf ihre eigenen Kosten die Pro-
cedur zu führen. Unglücklicherweise fällt die Strafe im-
mer auf das arme Weib zurück. Ob nun der Mann
zu einer Geldstrafe oder zum Gefängniß verurtheilt wird,
in beiden Fällen hat die Frau den Schaden zu tragen,
da dieselbe hiedurch mit ihren Kindern der Existenz-
mittel beraubt wird. Für diese unglücklichen, miß-
handelten Weiber besteht keine Gesellschaft von Thier = oder
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