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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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[Beginn Spaltensatz] populäreren Namen und heißt " quietness," beruhigendes,
rauschvertreibendes, Trunkenheit stillendes Getränk. Auch
wird es nicht aus der Apotheke geholt, sondern man fin-
det es vorräthig in allen Läden, beim Gewürzkrämer wie
beim Tabakhändler in fertigen Paketchen, zu einem Penny.
Daß dieses gepriesene und stark gebrauchte Heilmittel ein
wirkliches Gift ist, das wollen die Krämer, die es ver-
kaufen, so wenig zugeben, als die Weiber, die es kaufen.
Jn den Augen der einen wie der andern ist es ein ganz
unschuldiges Mittel, das die Männer, wenn sie Samstags
und Sonntags zu viel getrunken haben und zur Arbeit
unfähig geworden sind, bloß zu nehmen brauchen, um so-
gleich wieder arbeitsfähig und im Stande zu seyn, in die
Fabrik zurückzukehren.

Unglücklicherweise mußte es sich fügen, daß ein Mann,
der zu viel getrunken und dem seine Frau vom köstlichen
Heilmittel nicht genug geben zu können glaubte, daran
gestorben ist. Die Paketchen zu einem Penny sollen nach
der Vorschrift in vier Dosen verabreicht werden; die Frau
in ihrer Ungeduld gab die vier Dosen auf einmal und
der Mann starb mit allen Zeichen der Vergiftung. Bei
der Untersuchung, zu der dieser Fall Veranlassung gege-
ben, hat sich dann herausgestellt, daß ein wirkliches Gift,
das bloß in äußersten Fällen und nie ohne Vorschrift des
Arztes gegeben werden sollte, in Bolton als ein sich von
selbst verstehendes Mittel gegen die Folgen der Trunkenheit
in jedem Laden ohne die mindeste Schwierigkeit zu haben
ist, und daß die Weiber dasselbe ihren Männern mit eben
so wenig Gewissensskrupel reichen, als ob sie ihnen eine
Prise Tabak böten, und endlich daß die Männer selbst
dieses Mittel aus den Händen ihrer Weiber arglos an-
nehmen und verschlucken, als wäre es die magenstärkendste
Medicin. Daß mit der Zeit der Mann ein Opfer dieses
die Constitution untergrabenden Giftes werden muß, brau-
chen wir nicht weiter auszuführen. Was die Frau für
den Augenblick bezwecken will, die Rückkehr zur Nüchtern-
heit wird allerdings bezweckt; der Rausch wird verscheucht
und der Mann kann wieder zu arbeiten anfangen, um am
Ende der Woche sich auf's neue berauschen zu können und am
Anfang der folgenden Woche sich auf's neue vergiften zu
lassen. Hunderte und aber Hunderte von Männern fallen
in Bolton als Opfer dieses dreifachen Processes; denn der
Gin, den sie trinken, die Arbeit, die sie verrichten ( Blei-
chen, bleaching ) sind vielleicht nicht minder gefährliche
Gifte, als der tartarus emeticus, so daß es am Ende
schwer zu ermitteln ist, wer oder was die Schuld des
Todes gewesen und die Frau daher nicht so leicht beschul-
digt werden kann.

Man muß dieses quietness, wie es in Bolton für
Männer im Gebrauche ist, nicht mit einem andern quiet-
ness
verwechseln, welches bloß Kindern verabreicht wird
und in Manchester und Lancashire aufgekommen ist. Jn
Lancashire nämlich, wo die Weiber so gut wie die Män-
ner den Tag über in den Fabriken arbeiten müssen, kennt
man keine bessere Amme, um die Säuglinge bei Nacht
[Spaltenumbruch] wie am Tage ruhig zu halten, als die Laudanumflasche,
oder Godfroy's cordial, das ebenfalls den Namen von
quietness führt, weil diese Mixtur das Kind ruhig er-
hält, sondern dadurch auch der Mutter die nöthige Ruhe
verschafft. Die Mutter, obgleich sie die verderblichen
Wirkungen dieses quietness kennt, sieht sich wider Willen,
durch die Noth gezwungen, ihre Zuflucht dazu zu nehmen.
Die Mutter kann nicht zu jeder Stunde des Tags aus
der Fabrik nach Hause zurückkehren, um ihrem Säugling
die Brust zu reichen, und die Nachtruhe ist ihr unentbehr-
lich, um am folgenden Tag wieder in die Fabrik zur Ar-
beit zurückkehren zu können. Diese Umstände erklären,
wie der Gebrauch des Laudanum in Lancashire mit der
Ausbreitung des Fabrikwesens immer allgemeiner werden
mußte.

Die Boltoner quietness, um zu dieser zurückzukehren,
ist ein gefährliches Gift, eines von denen, das Palmer
oft in Anwendung brachte, ehe er sich des Strychnins be-
diente. Und doch sehen wir Tausende von Weibern in
England damit ihr Spiel treiben und in diesem Spiele
von den Krämern auf's eifrigste unterstützt werden. Ohne
Palmer wäre das quietness für die großen Kinder so
unberücksichtigt geblieben, wie das quietness für die
kleinen Kinder in Lancashire es noch heutzutage ist, da
letzteres zu den nothwendigen Uebeln in England gezählt
wird, denen keine Gesetzgebung ein Ende machen kann.
Wir haben es Palmer zu verdanken, daß die Regierung
aufmerksam geworden auf die gefährliche Cur, welche die
Weiber mit ihren Männern vornehmen. Wir haben es
ferner Palmer zu danken, daß die Männer anfangen selbst
auf die Gefahr aufmerksam zu werden und sich nicht mehr
auf so leichtfertige Weise von der Trunkenheit und andern
übeln Gewohnheiten curiren lassen wollen.

Apropos Palmers müssen wir noch erwähnen, daß der
neueste Vergifter, der sozusagen aus Palmer hervorgegan-
gen und durch ihn die gefährlichen Wirkungen des Strych-
nins kennen gelernt hat, in diesem Augenblick vor den
Assisen zu Leeds steht. Auch diese Verhandlungen haben,
wie man sich denken kann, für das englische Publikum den
fesselndsten Reiz. Dove, wie der Mann heißt, ist ein
independant gentleman, d. h. ein Mann, der eigenes
Vermögen besitzt und dabei eine gewisse Bildung genossen
hat. Er war früher ein Farmer, mehr aus Liebhaberei
als des Erwerbs wegen. Seine Frau, die ebenfalls einer
respektablen Familie angehörte, erfreute sich nicht immer
der besten Gesundheit und der Mann führte oft Klagen
über die Kosten und Ausgaben, die ihm die Kränklichkeit
seiner Frau verursachte. Dabei war er nur zu sehr ein
Freund vom Trinken, und wenn er einen Rausch hatte,
ließ er diesem seinem Unwillen freien Lauf und über-
häufte seine Frau mit Vorwürfen und Mißhandlungen.
Der Fall Palmers, der damals in allen Journalen be-
sprochen wurde, scheint zuerst seine Aufmerksamkeit auf
das Strychnin gelenkt zu haben, und er ließ zu verschie-
denen Zeiten und in Gegenwart verschiedener Personen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] populäreren Namen und heißt » quietness,« beruhigendes,
rauschvertreibendes, Trunkenheit stillendes Getränk. Auch
wird es nicht aus der Apotheke geholt, sondern man fin-
det es vorräthig in allen Läden, beim Gewürzkrämer wie
beim Tabakhändler in fertigen Paketchen, zu einem Penny.
Daß dieses gepriesene und stark gebrauchte Heilmittel ein
wirkliches Gift ist, das wollen die Krämer, die es ver-
kaufen, so wenig zugeben, als die Weiber, die es kaufen.
Jn den Augen der einen wie der andern ist es ein ganz
unschuldiges Mittel, das die Männer, wenn sie Samstags
und Sonntags zu viel getrunken haben und zur Arbeit
unfähig geworden sind, bloß zu nehmen brauchen, um so-
gleich wieder arbeitsfähig und im Stande zu seyn, in die
Fabrik zurückzukehren.

Unglücklicherweise mußte es sich fügen, daß ein Mann,
der zu viel getrunken und dem seine Frau vom köstlichen
Heilmittel nicht genug geben zu können glaubte, daran
gestorben ist. Die Paketchen zu einem Penny sollen nach
der Vorschrift in vier Dosen verabreicht werden; die Frau
in ihrer Ungeduld gab die vier Dosen auf einmal und
der Mann starb mit allen Zeichen der Vergiftung. Bei
der Untersuchung, zu der dieser Fall Veranlassung gege-
ben, hat sich dann herausgestellt, daß ein wirkliches Gift,
das bloß in äußersten Fällen und nie ohne Vorschrift des
Arztes gegeben werden sollte, in Bolton als ein sich von
selbst verstehendes Mittel gegen die Folgen der Trunkenheit
in jedem Laden ohne die mindeste Schwierigkeit zu haben
ist, und daß die Weiber dasselbe ihren Männern mit eben
so wenig Gewissensskrupel reichen, als ob sie ihnen eine
Prise Tabak böten, und endlich daß die Männer selbst
dieses Mittel aus den Händen ihrer Weiber arglos an-
nehmen und verschlucken, als wäre es die magenstärkendste
Medicin. Daß mit der Zeit der Mann ein Opfer dieses
die Constitution untergrabenden Giftes werden muß, brau-
chen wir nicht weiter auszuführen. Was die Frau für
den Augenblick bezwecken will, die Rückkehr zur Nüchtern-
heit wird allerdings bezweckt; der Rausch wird verscheucht
und der Mann kann wieder zu arbeiten anfangen, um am
Ende der Woche sich auf's neue berauschen zu können und am
Anfang der folgenden Woche sich auf's neue vergiften zu
lassen. Hunderte und aber Hunderte von Männern fallen
in Bolton als Opfer dieses dreifachen Processes; denn der
Gin, den sie trinken, die Arbeit, die sie verrichten ( Blei-
chen, bleaching ) sind vielleicht nicht minder gefährliche
Gifte, als der tartarus emeticus, so daß es am Ende
schwer zu ermitteln ist, wer oder was die Schuld des
Todes gewesen und die Frau daher nicht so leicht beschul-
digt werden kann.

Man muß dieses quietness, wie es in Bolton für
Männer im Gebrauche ist, nicht mit einem andern quiet-
ness
verwechseln, welches bloß Kindern verabreicht wird
und in Manchester und Lancashire aufgekommen ist. Jn
Lancashire nämlich, wo die Weiber so gut wie die Män-
ner den Tag über in den Fabriken arbeiten müssen, kennt
man keine bessere Amme, um die Säuglinge bei Nacht
[Spaltenumbruch] wie am Tage ruhig zu halten, als die Laudanumflasche,
oder Godfroy's cordial, das ebenfalls den Namen von
quietness führt, weil diese Mixtur das Kind ruhig er-
hält, sondern dadurch auch der Mutter die nöthige Ruhe
verschafft. Die Mutter, obgleich sie die verderblichen
Wirkungen dieses quietness kennt, sieht sich wider Willen,
durch die Noth gezwungen, ihre Zuflucht dazu zu nehmen.
Die Mutter kann nicht zu jeder Stunde des Tags aus
der Fabrik nach Hause zurückkehren, um ihrem Säugling
die Brust zu reichen, und die Nachtruhe ist ihr unentbehr-
lich, um am folgenden Tag wieder in die Fabrik zur Ar-
beit zurückkehren zu können. Diese Umstände erklären,
wie der Gebrauch des Laudanum in Lancashire mit der
Ausbreitung des Fabrikwesens immer allgemeiner werden
mußte.

Die Boltoner quietness, um zu dieser zurückzukehren,
ist ein gefährliches Gift, eines von denen, das Palmer
oft in Anwendung brachte, ehe er sich des Strychnins be-
diente. Und doch sehen wir Tausende von Weibern in
England damit ihr Spiel treiben und in diesem Spiele
von den Krämern auf's eifrigste unterstützt werden. Ohne
Palmer wäre das quietness für die großen Kinder so
unberücksichtigt geblieben, wie das quietness für die
kleinen Kinder in Lancashire es noch heutzutage ist, da
letzteres zu den nothwendigen Uebeln in England gezählt
wird, denen keine Gesetzgebung ein Ende machen kann.
Wir haben es Palmer zu verdanken, daß die Regierung
aufmerksam geworden auf die gefährliche Cur, welche die
Weiber mit ihren Männern vornehmen. Wir haben es
ferner Palmer zu danken, daß die Männer anfangen selbst
auf die Gefahr aufmerksam zu werden und sich nicht mehr
auf so leichtfertige Weise von der Trunkenheit und andern
übeln Gewohnheiten curiren lassen wollen.

Apropos Palmers müssen wir noch erwähnen, daß der
neueste Vergifter, der sozusagen aus Palmer hervorgegan-
gen und durch ihn die gefährlichen Wirkungen des Strych-
nins kennen gelernt hat, in diesem Augenblick vor den
Assisen zu Leeds steht. Auch diese Verhandlungen haben,
wie man sich denken kann, für das englische Publikum den
fesselndsten Reiz. Dove, wie der Mann heißt, ist ein
independant gentleman, d. h. ein Mann, der eigenes
Vermögen besitzt und dabei eine gewisse Bildung genossen
hat. Er war früher ein Farmer, mehr aus Liebhaberei
als des Erwerbs wegen. Seine Frau, die ebenfalls einer
respektablen Familie angehörte, erfreute sich nicht immer
der besten Gesundheit und der Mann führte oft Klagen
über die Kosten und Ausgaben, die ihm die Kränklichkeit
seiner Frau verursachte. Dabei war er nur zu sehr ein
Freund vom Trinken, und wenn er einen Rausch hatte,
ließ er diesem seinem Unwillen freien Lauf und über-
häufte seine Frau mit Vorwürfen und Mißhandlungen.
Der Fall Palmers, der damals in allen Journalen be-
sprochen wurde, scheint zuerst seine Aufmerksamkeit auf
das Strychnin gelenkt zu haben, und er ließ zu verschie-
denen Zeiten und in Gegenwart verschiedener Personen
[Ende Spaltensatz]

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Der Fall Palmers, der damals in allen Journalen be- sprochen wurde, scheint zuerst seine Aufmerksamkeit auf das Strychnin gelenkt zu haben, und er ließ zu verschie- denen Zeiten und in Gegenwart verschiedener Personen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. 741. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/21>, abgerufen am 23.11.2024.