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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] in ihren radikalen Ansichten, als die offenen Bekenner
des Radikalismus und Rationalismus. Jch bin fest über-
zeugt, der größte Theil unserer orthodoxen Reverends
besteht aus vollständigen Heuchlern, und nur die Tyrannei
der öffentlichen Meinung, so wie die Rücksicht auf ihr
Einkommen bestimmt sie dazu, die Maske zu tragen." --
Welche Schauspielerei gelegentlich ganz offen in Kirchen
getrieben wird, davon gab der berühmteste Kanzelredner,
Ward Beecher in Brooklyn, neulich ein recht auffallendes
Beispiel. Er stellte eines Sonntags eine achtzehnjährige Far-
bige auf einer Plattform in seiner Kirche der versammelten
Gemeinde vor als eine von ihrem Vater an einen Skla-
venhändler Verkaufte, die letzterer aus Menschenfreund-
lichkeit habe reisen lassen, damit sie den Versuch machen
könne, die zu ihrer Loskaufung erforderlichen 1200 Dollars
zusammen zu bringen. Es flossen auf diesen Theatercoup
775 Dollars und mehrere Juwelen zusammen, nachdem
vorher schon in Baltimore 500 Dollars subscribirt wor-
den waren. Hinter dieser fabricirten Rührscene steckt
natürlich zum Ueberfluß ein gutes Theil schmutziger Po-
litik, und an wahre, aufopfernde Theilnahme für die
Negersklaven ist nicht zu denken. Man agitirt eben auch
in den Kirchen in der schwebenden Präsidentschaftsfrage,
das ist alles, und ohne dramatische Kniffe sind die groben
Selbstsüchtler zu gar nichts zu bewegen. -- Ein anderer
Fall von kirchlichem Humbug oder Geschäftsbetrieb fiel
neulich im freundlichen Hoboken vor, das, zum großen
Stadtcomplex der Metropolis gehörend, am rechten
Hudsonufer der Südspitze Newyorks gegenüber liegt.
Seiner Heiligkeit der Papst hatte einer dortigen Kirche
die Gebeine irgend eines Heiligen geschenkt, und die Kir-
chenvorstände hatten nichts Eiligeres zu thun, als -- eine
Ausstellung für zwei Schillinge Eintrittsgeld zu veran-
stalten. Vormittags konnten Herrschaften kommen, der
Nachmittag war für die Dienstboten bestimmt; aber der
Eintrittspreis blieb sich demokratisch gleich. Wer Reli-
quienverehrer ist, nur nicht gerade im Sinne der prosaisch-
sten Aeußerlichkeit, wird solche Geldspekulationen eben so
verwerfen müssen, wie der Freidenker, der aber ein kirch-
liches Decorum eingehalten wissen will. Jndessen ist nun
einmal das bei dieser Gelegenheit eingeschlagene Verfah-
ren ganz amerikanisch, d. h. gut als Mittel zum Zweck.
Wer europäischen Sittenbegriffen nicht zu entsagen ver-
[Spaltenumbruch] mag in dieser und anderer Hinsicht, dem ist zu ra-
then, wo möglich fern von hier zu bleiben. Die Predi-
ger des Materialismus im idealistischen Deutschland soll-
ten insgesammt hieher in die Lehre geschickt werden. Da-
gegen können sich geistig und sittlich strebsame Leute an
Heinrich Mannel aus Marburg, der sich kürzlich im Ge-
fängniß zu Racine im Staat Wisconsin entleibte, ein
warnendes Beispiel nehmen. Er war zuerst Advokat in
Racine und stach in der Nothwehr einen französischen
Strolch, der ihn übersiel und mit einer Axt bedrohte,
mit seinem Messer nieder. Die Jury, aus Knownothings
zusammengesetzt, fand ihn "der Tödtung im ersten Grade"
schuldig, obschon in der Vertheidigung die Nothwehr be-
wiesen wurde und Entlastungszeugen den klarsten Beweis von
Mannels vorherigem ganz untadelhaften Wandel lieferten.
Der Richter, ein starrer Nativist und Fremdenfeind, ver-
hängte das höchste Strafmaß mit vierzehn Jahren und
zwanzig Tagen Staatsgefängniß, während es statistisch
als Thatsache fest steht, daß schon zwei Jahre Staatsge-
fängniß hinreichen, um einen Menschen "zu brechen."
Mannel, als Advokat, wußte dieß und endete daher sein
Leben freiwillig.

Den durch die politische Gährung von 1848 hie-
her versprengten Gebildeten hat das bekannte Dresdner
schwarze Buch viel Stoff zur Unterhaltung gegeben, ob-
schon man vom Jnhalt desselben nicht mehr weiß, als die
Allgemeine Zeitung und etwa die Kölnische Zeitung brach-
ten; denn so viel mir bekannt, ist drüben niemand so
aufmerksam gegen die Flüchtlinge gewesen, ihnen ein
Exemplar herüber zu senden. Anfänglich kam ein Paroli
in Vorschlag; es hieß, man sollte ein umgekehrtes schwar-
zes Buch von Seiten der Vertriebenen veranstalten; allein
alle haben zu sehr mit dem materiellen Leben zu ringen
und sind zum Theil arg von der Dollarschnapperei ange-
steckt. Wir dürfen uns auch freuen, daß aus der Sache
nichts wurde. Die Allgemeine Zeitung hatte Recht, den
Dresdner Witz für einen ganz schlechten zu erklären. Jch
glaube, sogar Karl Heinzen hat jetzt nicht mehr die rechte
Schneide für seine Millionen=Guillotinir=Dampfmaschine;
sogar die Engros=Mordgedanken dieses Federbramarbas
scheinen vom Roste der Zeit überzogen, und alle Unge-
heuerlichkeiten der entgegengesetzten Seite müssen daher der
Lächerlichkeit verfallen.

[Ende Spaltensatz]

( Schluß folgt. )




Verantwortlicher Redakteur: Hauff.
Druck der Buchdruckerei der J. G. Cotta' schen Buchhandlung in Stuttgart.

[Beginn Spaltensatz] in ihren radikalen Ansichten, als die offenen Bekenner
des Radikalismus und Rationalismus. Jch bin fest über-
zeugt, der größte Theil unserer orthodoxen Reverends
besteht aus vollständigen Heuchlern, und nur die Tyrannei
der öffentlichen Meinung, so wie die Rücksicht auf ihr
Einkommen bestimmt sie dazu, die Maske zu tragen.“ —
Welche Schauspielerei gelegentlich ganz offen in Kirchen
getrieben wird, davon gab der berühmteste Kanzelredner,
Ward Beecher in Brooklyn, neulich ein recht auffallendes
Beispiel. Er stellte eines Sonntags eine achtzehnjährige Far-
bige auf einer Plattform in seiner Kirche der versammelten
Gemeinde vor als eine von ihrem Vater an einen Skla-
venhändler Verkaufte, die letzterer aus Menschenfreund-
lichkeit habe reisen lassen, damit sie den Versuch machen
könne, die zu ihrer Loskaufung erforderlichen 1200 Dollars
zusammen zu bringen. Es flossen auf diesen Theatercoup
775 Dollars und mehrere Juwelen zusammen, nachdem
vorher schon in Baltimore 500 Dollars subscribirt wor-
den waren. Hinter dieser fabricirten Rührscene steckt
natürlich zum Ueberfluß ein gutes Theil schmutziger Po-
litik, und an wahre, aufopfernde Theilnahme für die
Negersklaven ist nicht zu denken. Man agitirt eben auch
in den Kirchen in der schwebenden Präsidentschaftsfrage,
das ist alles, und ohne dramatische Kniffe sind die groben
Selbstsüchtler zu gar nichts zu bewegen. — Ein anderer
Fall von kirchlichem Humbug oder Geschäftsbetrieb fiel
neulich im freundlichen Hoboken vor, das, zum großen
Stadtcomplex der Metropolis gehörend, am rechten
Hudsonufer der Südspitze Newyorks gegenüber liegt.
Seiner Heiligkeit der Papst hatte einer dortigen Kirche
die Gebeine irgend eines Heiligen geschenkt, und die Kir-
chenvorstände hatten nichts Eiligeres zu thun, als — eine
Ausstellung für zwei Schillinge Eintrittsgeld zu veran-
stalten. Vormittags konnten Herrschaften kommen, der
Nachmittag war für die Dienstboten bestimmt; aber der
Eintrittspreis blieb sich demokratisch gleich. Wer Reli-
quienverehrer ist, nur nicht gerade im Sinne der prosaisch-
sten Aeußerlichkeit, wird solche Geldspekulationen eben so
verwerfen müssen, wie der Freidenker, der aber ein kirch-
liches Decorum eingehalten wissen will. Jndessen ist nun
einmal das bei dieser Gelegenheit eingeschlagene Verfah-
ren ganz amerikanisch, d. h. gut als Mittel zum Zweck.
Wer europäischen Sittenbegriffen nicht zu entsagen ver-
[Spaltenumbruch] mag in dieser und anderer Hinsicht, dem ist zu ra-
then, wo möglich fern von hier zu bleiben. Die Predi-
ger des Materialismus im idealistischen Deutschland soll-
ten insgesammt hieher in die Lehre geschickt werden. Da-
gegen können sich geistig und sittlich strebsame Leute an
Heinrich Mannel aus Marburg, der sich kürzlich im Ge-
fängniß zu Racine im Staat Wisconsin entleibte, ein
warnendes Beispiel nehmen. Er war zuerst Advokat in
Racine und stach in der Nothwehr einen französischen
Strolch, der ihn übersiel und mit einer Axt bedrohte,
mit seinem Messer nieder. Die Jury, aus Knownothings
zusammengesetzt, fand ihn „der Tödtung im ersten Grade“
schuldig, obschon in der Vertheidigung die Nothwehr be-
wiesen wurde und Entlastungszeugen den klarsten Beweis von
Mannels vorherigem ganz untadelhaften Wandel lieferten.
Der Richter, ein starrer Nativist und Fremdenfeind, ver-
hängte das höchste Strafmaß mit vierzehn Jahren und
zwanzig Tagen Staatsgefängniß, während es statistisch
als Thatsache fest steht, daß schon zwei Jahre Staatsge-
fängniß hinreichen, um einen Menschen „zu brechen.“
Mannel, als Advokat, wußte dieß und endete daher sein
Leben freiwillig.

Den durch die politische Gährung von 1848 hie-
her versprengten Gebildeten hat das bekannte Dresdner
schwarze Buch viel Stoff zur Unterhaltung gegeben, ob-
schon man vom Jnhalt desselben nicht mehr weiß, als die
Allgemeine Zeitung und etwa die Kölnische Zeitung brach-
ten; denn so viel mir bekannt, ist drüben niemand so
aufmerksam gegen die Flüchtlinge gewesen, ihnen ein
Exemplar herüber zu senden. Anfänglich kam ein Paroli
in Vorschlag; es hieß, man sollte ein umgekehrtes schwar-
zes Buch von Seiten der Vertriebenen veranstalten; allein
alle haben zu sehr mit dem materiellen Leben zu ringen
und sind zum Theil arg von der Dollarschnapperei ange-
steckt. Wir dürfen uns auch freuen, daß aus der Sache
nichts wurde. Die Allgemeine Zeitung hatte Recht, den
Dresdner Witz für einen ganz schlechten zu erklären. Jch
glaube, sogar Karl Heinzen hat jetzt nicht mehr die rechte
Schneide für seine Millionen=Guillotinir=Dampfmaschine;
sogar die Engros=Mordgedanken dieses Federbramarbas
scheinen vom Roste der Zeit überzogen, und alle Unge-
heuerlichkeiten der entgegengesetzten Seite müssen daher der
Lächerlichkeit verfallen.

[Ende Spaltensatz]

( Schluß folgt. )




Verantwortlicher Redakteur: Hauff.
Druck der Buchdruckerei der J. G. Cotta' schen Buchhandlung in Stuttgart.

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[720/0024] 720 in ihren radikalen Ansichten, als die offenen Bekenner des Radikalismus und Rationalismus. Jch bin fest über- zeugt, der größte Theil unserer orthodoxen Reverends besteht aus vollständigen Heuchlern, und nur die Tyrannei der öffentlichen Meinung, so wie die Rücksicht auf ihr Einkommen bestimmt sie dazu, die Maske zu tragen.“ — Welche Schauspielerei gelegentlich ganz offen in Kirchen getrieben wird, davon gab der berühmteste Kanzelredner, Ward Beecher in Brooklyn, neulich ein recht auffallendes Beispiel. Er stellte eines Sonntags eine achtzehnjährige Far- bige auf einer Plattform in seiner Kirche der versammelten Gemeinde vor als eine von ihrem Vater an einen Skla- venhändler Verkaufte, die letzterer aus Menschenfreund- lichkeit habe reisen lassen, damit sie den Versuch machen könne, die zu ihrer Loskaufung erforderlichen 1200 Dollars zusammen zu bringen. Es flossen auf diesen Theatercoup 775 Dollars und mehrere Juwelen zusammen, nachdem vorher schon in Baltimore 500 Dollars subscribirt wor- den waren. Hinter dieser fabricirten Rührscene steckt natürlich zum Ueberfluß ein gutes Theil schmutziger Po- litik, und an wahre, aufopfernde Theilnahme für die Negersklaven ist nicht zu denken. Man agitirt eben auch in den Kirchen in der schwebenden Präsidentschaftsfrage, das ist alles, und ohne dramatische Kniffe sind die groben Selbstsüchtler zu gar nichts zu bewegen. — Ein anderer Fall von kirchlichem Humbug oder Geschäftsbetrieb fiel neulich im freundlichen Hoboken vor, das, zum großen Stadtcomplex der Metropolis gehörend, am rechten Hudsonufer der Südspitze Newyorks gegenüber liegt. Seiner Heiligkeit der Papst hatte einer dortigen Kirche die Gebeine irgend eines Heiligen geschenkt, und die Kir- chenvorstände hatten nichts Eiligeres zu thun, als — eine Ausstellung für zwei Schillinge Eintrittsgeld zu veran- stalten. Vormittags konnten Herrschaften kommen, der Nachmittag war für die Dienstboten bestimmt; aber der Eintrittspreis blieb sich demokratisch gleich. Wer Reli- quienverehrer ist, nur nicht gerade im Sinne der prosaisch- sten Aeußerlichkeit, wird solche Geldspekulationen eben so verwerfen müssen, wie der Freidenker, der aber ein kirch- liches Decorum eingehalten wissen will. Jndessen ist nun einmal das bei dieser Gelegenheit eingeschlagene Verfah- ren ganz amerikanisch, d. h. gut als Mittel zum Zweck. Wer europäischen Sittenbegriffen nicht zu entsagen ver- mag in dieser und anderer Hinsicht, dem ist zu ra- then, wo möglich fern von hier zu bleiben. Die Predi- ger des Materialismus im idealistischen Deutschland soll- ten insgesammt hieher in die Lehre geschickt werden. Da- gegen können sich geistig und sittlich strebsame Leute an Heinrich Mannel aus Marburg, der sich kürzlich im Ge- fängniß zu Racine im Staat Wisconsin entleibte, ein warnendes Beispiel nehmen. Er war zuerst Advokat in Racine und stach in der Nothwehr einen französischen Strolch, der ihn übersiel und mit einer Axt bedrohte, mit seinem Messer nieder. Die Jury, aus Knownothings zusammengesetzt, fand ihn „der Tödtung im ersten Grade“ schuldig, obschon in der Vertheidigung die Nothwehr be- wiesen wurde und Entlastungszeugen den klarsten Beweis von Mannels vorherigem ganz untadelhaften Wandel lieferten. Der Richter, ein starrer Nativist und Fremdenfeind, ver- hängte das höchste Strafmaß mit vierzehn Jahren und zwanzig Tagen Staatsgefängniß, während es statistisch als Thatsache fest steht, daß schon zwei Jahre Staatsge- fängniß hinreichen, um einen Menschen „zu brechen.“ Mannel, als Advokat, wußte dieß und endete daher sein Leben freiwillig. Den durch die politische Gährung von 1848 hie- her versprengten Gebildeten hat das bekannte Dresdner schwarze Buch viel Stoff zur Unterhaltung gegeben, ob- schon man vom Jnhalt desselben nicht mehr weiß, als die Allgemeine Zeitung und etwa die Kölnische Zeitung brach- ten; denn so viel mir bekannt, ist drüben niemand so aufmerksam gegen die Flüchtlinge gewesen, ihnen ein Exemplar herüber zu senden. Anfänglich kam ein Paroli in Vorschlag; es hieß, man sollte ein umgekehrtes schwar- zes Buch von Seiten der Vertriebenen veranstalten; allein alle haben zu sehr mit dem materiellen Leben zu ringen und sind zum Theil arg von der Dollarschnapperei ange- steckt. Wir dürfen uns auch freuen, daß aus der Sache nichts wurde. Die Allgemeine Zeitung hatte Recht, den Dresdner Witz für einen ganz schlechten zu erklären. Jch glaube, sogar Karl Heinzen hat jetzt nicht mehr die rechte Schneide für seine Millionen=Guillotinir=Dampfmaschine; sogar die Engros=Mordgedanken dieses Federbramarbas scheinen vom Roste der Zeit überzogen, und alle Unge- heuerlichkeiten der entgegengesetzten Seite müssen daher der Lächerlichkeit verfallen. ( Schluß folgt. ) Verantwortlicher Redakteur: Hauff. Druck der Buchdruckerei der J. G. Cotta' schen Buchhandlung in Stuttgart.

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/24>, abgerufen am 27.11.2024.