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Marburger Zeitung. Nr. 155, Marburg, 27.12.1906.

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Marburger Zeitung Nr. 155, 27. Dezember 1906.

[Spaltenumbruch]
Politische Umschau.
Von der Wahlreform.

Die Wahlreform konnte also in der amtlichen
"Wiener Zeitung" nicht als "Weihnachtsgeschenk"
erscheinen. Das Herrenhaus macht seine endgiltige
Zustimmung zu den Wahlreform-Gesetzentwürfen
davon abhängig, daß das Abgeordnetenhaus vorerst
die sogenannte numerus clausus-Vorlage annimmt,
jenen Gesetzentwurf, der die Höchstzahl der Herren-
hausmitglieder festlegt, damit das Herrenhaus nicht
durch beliebige Pairsschübe wesentlichen Verän-
derungen unterworfen werden kann. Man sieht,
daß die Mitglieder des Herrenhauses einem Ver-
sprechen des Ministerpräsidenten Beck, der ihnen
die numerus clausus-Vorlage nach Erledigung der
Wahlreform zusicherte, nicht über den Weg trauen.
Nun, sie müssen ihn ja kennen, den Herrn v. Beck.

Der Lohn.

Wie verlautet, sollen aus Anlaß der Verab-
schiedung der Wahlreformvorlage im Parlamente
außer der Verleihung der Geheimratswürde
an die Minister, welche diese Würde noch nicht
besitzen, an 40 Parlamentarier Ordens-
auszeichnungen
erhalten; außerdem sollen an
etwa 30 Beamte, die tatkräftig sowohl bei den
Vorarbeiten als auch bei der Durchberatung dieser
Gesetze mitgearbeitet haben, teils durch Ordens-
verleihungen ausgezeichnet werden. Bekommt das
deutsche Volk mit dieser Wahlreform sein "Kreuz",
so sollen auch alle jene, die es schaffen halfen, ihre
Kreuze bekommen. Das ist nur recht und billig.

Pensionsversicherung der Privat-
bediensteten.

Das Gesetz über die Pensionierungsversicherung
der Privatbediensteten hat die kaiserliche Sanktion
erhalten. Da das Gesetz zwei Jahre nach seiner
Kundmachung in Wirksamkeit zu treten hat, wird
die Verlautbarung im Reichsgesetzblatte am 1. Jänner
1907 erfolgen, um die Eröffnung des Betriebes der
zu errichtenden Pensionsanstalt am Anfange eines
Kalenderjahres sicherzustellen.

Französische Steuerpolitik.

Die französische Kammer hat ein Gesetz über
die Besteuerung von berechtigten Adels-
titeln
angenommen, ebenso eine Klaviersteuer.
Vom nächsten Jahre ab haben die Besitzer von
Klavieren 10 Franken, von Flügeln 20 Franken
und von Orgeln 100 Franken Steuer zu bezahlen.
Es mag hiebei bemerkt werden, daß eine örtliche
Klaviersteuer bereits in 21 Städten existiert.

Aus Serbien.

Über die Folgen unserer Grenzsperre
gegen Serbien wurde aus Belgrad gemeldet:
Die kritische ökonomische Situation ist nunmehr
allerorten fühlbar geworden. Die Folgen der
Grenzsperre machen sich überall geltend. Mit
Besorgnis sieht man dem hiesigen Weihnachtsfest
entgegen. (Die serbischen Weihnachten sind bekanntlich
[Spaltenumbruch] wie die russischen später als die unseren -- d. Schriftl.)
Man erwartet, daß Ministerpräsident Pasitsch durch
einen neuen Trick, etwa durch Beantwortung der
österreichisch-ungarischen Note, die Gärung beschwich-
tigen wird, und hält den Ausbruch ernstlicher Un-
ruhen
an verschiedenen Orten Serbiens zu dem
serbischen Weihnachtsfest für sehr wahrscheinlich.

Aus Rußland.

Das Morden nimmt in Rußland kein Ende.
Fast gewinnt es den Anschein, als ob ganz Rußland
eine einzige große Mörderhöhle sei. Von den vielen
Fällen der letzten Tage seien nur einige angeführt.
Aus Kostroma, 22. d., wurde berichtet: Die
Inhaber einer Mietswohnung, bei denen eine
Hausdurchsuchung vorgenommen werden sollte,
erschossen den damit beauftragten Polizei-
kommissär
und verwundeten einen Polizei-
sergeanten. Es gelang den Tätern, durch eine
Hintertür zu entkommen. -- Aus Twer wird vom
gleichen Tage gemeldet: Das Mitglied des Reichs-
rates Graf Alexis Janatiew, früher General-
gouverneur von Kiew, Wolhynien und Podolien, ist
heute im Buffettzimmer der Adelsversammlung von
einem Unbekannten durch sechs Revolver-
schüsse getötet
worden. Der Verbrecher ver-
suchte sich darauf selbst zu erschießen. Es gelang
jedoch, ihn lebend zu verhaften.




Tagesneuigkeiten.
Tod eines Kommunarden.

Aus Paris,
21. d. wird berichtet: Hier starb im Alter von
60 Jahren Emile Fortin, der als Kommunard
im Mai 1871 im Auftrag der damaligen Pariser
Autoritäten die Exekution der Geiseln im
Gesängnis Roquette leitete und den von der Salve
verschont gebliebenen Erzbischof Darboy durch
einen Schuß niederstreckte.

Engelmacherei.

"Daily Chronicle" meldet
aus Paris die Entdeckung eines grauenhaften Falles
von Engelmacherei. Eine Hebamme habe seit Jahr
und Tag Säuglinge, deren sich die Eltern entledigen
wollten, in Pflege genommen und sie auf schreckliche
Weise getötet, indem sie die Kleinen in siedendem
Öl verbrühte. Die Verbrecherin wurde Sonnabend
verhaftet.

Ein heißblütiger Magyar und der
Eisenbahnzug.

In der Nähe des Klostertors
in Hamburg stellte sich ein Ungar mitten auf das
Eisenbahngleis vor einen Rangierzug. Der Lokomotiv-
führer des Zuges gab wiederholt Signale mit der
Dampfpfeife; der Ungar rührte sich nicht; wie eine
Statue stand er da. Dem Lokomotivführer blieb
nichts anderes übrig, als den Zug zum Halten zu
bringen. Als er dann den Ungarn aufforderte, die
Strecke frei zu geben, zog der Pußtasohn ein Messer,
sprang auf die Lokomotive und drang mit gezücktem
Messer auf den Führer ein. Inzwischen war ein
Schutzmann herbeigekommen, der aber von dem
heißblütigen Magyaren ebenfalls mit dem Messer
bedroht wurde. Erst nach langem Kampfe gelang
[Spaltenumbruch] es, den Ungarn zu überwältigen und gefesselt zur
Wache zu bringen. Er wird sich wegen Beleidigung,
Widerstands gegen die Staatsgewalt, Bedrohung
und Gefährdung eines Eisenbahntransports zu ver-
antworten haben.

Tod durch Kurzschluß.

Im Berliner
Zentraltheater entstand am 23. d. beim Kinemato-
graphen ein Kurzschluß. Der Maschinenmeister
Jahnke wurde sofort getötet. Der Direktor des
Theaters erlitt schwere Brandwunden. Das Publikum
wurde von einer großen Panik ergriffen, doch kam
niemand zu Schaden.

Eine neue Verbindung zwischen Berlin
und Petersburg.

Wie man dem "Berliner
Tagblatt" aus Stockholm schreibt, erregt dort ein
der Regierung unterbreitenes Projekt lebhaftes
Interesse, das den Zweck verfolgt, eine schnelle und
luxuriöse Verbindung zwischen Berlin und Peters-
burg über Stockholm herzustellen. Nach diesem
Plane soll zwischen Stockholm und Trelleborg oder
einem anderen dazu geeigneten Hafen Südschwedens
eine elektrische Bahn angelegt, die Verbindung zwischen
diesem Hafen und Saßnitz auf der Insel Rügen mittels
Riesendampffähren aufrecht gehalten und von Saßnitz
aus nach Berlin ebenfalls eine elektrische Bahn ge-
baut werden. Des weiteren wäre zwischen Stock-
holm und Abo in Finnland eine Dampffährenver-
bindung zu errichten und zwischen Abo und Peters-
burg eine elektrische Schnellbahn anzulegen. Nach
Herstellung dieser Anlagen wird es möglich sein, die
Reise zwischen Petersburg und Berlin in 20 Stunden
zu machen, während gegenwärtig die Fahrt zwischen
den beiden Hauptstädten via Eydtkuhnen 31 Stunden
beansprucht.

Benützen Sie auch Malzkaffee?

Wird
diese Frage in Gesellschaft von Damen aufgeworfen,
begegnet sie oft einem mitleidig verneinenden Lächeln
und es zeigt sich, daß viele noch gegen den Malz-
kaffee ein starkes Vorurteil hegen. Zum Teil ist
das auch erklärlich, denn was unter dem Namen
Malzkaffee verkauft wird, ist zumeist gar kein Malz-
kaffee, sondern fast immer nur gewöhnlich gebrannte
Gerste oder einfach geröstetes Braumalz, und diese
geben nur eine fade, süßliche Brühe, die gewiß
nicht nach Kaffee schmeckt. Sehr viele wissen eben
noch nicht oder überzeugten sich noch nicht, daß nur
in Kathreiners Kneipp-Malzkaffee ein Produkt
existiert, das selbst einen wohligen Kaffeegeschmack
besitzt, weil seine Körner mit einem Extrakt aus
der Kaffeekirsche durchtränkt werden, ohne daß das
giftige Koffein des Bohnenkaffees mit übertragen
wird. Kathreiners Kneipp-Malzkaffee vereinigt daher
allein in hohem Grade den beliebten Geschmack und
das Arome des Bohnenkaffees mit den bekannten,
gesundheitlichen Vorzügen des Malzes. Wer daher
den echten Kathreiner probiert hat, wird gewiß
die Vorurteile gegen den guten Malzkaffee nicht
länger hegen. Der echte Kathreiner wird aber nur
in verschlossenen Paketen mit dem Namen Kathreiner
verkauft und beim Einkauf ist es daher dringend
notwendig, den Namen Kathreiner immer ausdrück-
lich zu betonen.




[Spaltenumbruch]

ewigen, unsterblichen Keimen befruchtet, die ihre
Wunderblasen unaufhaltsam zum Tageslichte
fördern; und wie mörderisch Du auch unter ihnen,
also gegen Dich selbst wüten magst, Du wirst nie
imstande sein, sie zu zerstören. Zuletzt wirst Du,
das Vergebliche des Auflehnens einsehend, nach-
geben oder an dem Übermaß des auf Dich ein-
strömenden Reichtums allmählich zu Grunde gehen."

Esther schwieg, während sie gedankenvoll das
überall aus der Erde quellende Wachsen betrachtete;
Thomas Holm nahm seine Arbeit wieder auf und
setzte das Gespräch für heute nicht fort. Er wußte,
daß er genug gesagt und Esther seine Worte in
ihrem Herzem bewahren würde.

Und sie behielt sie, ohne jedoch den zerstören-
den Kampf in ihrem Innern aufzugeben, immer
unter dem großen Refrain, der, wie sie meinte,
trotz allem endlich doch zum Siege führen mußte.

Bald darauf ging sie durch den Wald nach
Wiken zu.

Eins wollte Esther dulden, wenigstens auf
kurze Zeit, solange der Frühling währte; das hatten
zu ihrem eigenen Erstaunen des Vaters Worte
bewirkt --; das innere, gegenwärtige Erleben, er
hatte Recht -- sobald sie ruhig war und horchte,
gingen da drinnen unbeschreiblich holde Wunder
vor. Das ließ sich auch durchaus nicht verbannen
-- es war da; mit jedem Schritt durch den
stillen Wald lächelte es geheimnisvoll aus Blüten
und Knospen. Da klang es wie Jubel aus
[Spaltenumbruch] allen Tiefen so leicht und frohbewegt! Der Vater
hatte Recht; aus ihrem Blute sproß ein nie geahntes,
schwellendes Werden, die Welt war wie ein einziges
jubelndes Lied geworden, in das alle Töne ihrer
eigenen Seele jauchzend einstimmten.

Ein Vogel fliegt vorüber, im Schnäbelchen
eine weiße Flocke tragend, die er emsig zum Nest-
chen bringt -- am sandigen Wegrand grünen freudig
spärliche Gräser -- dort an den Gebüschen sprengten
winzige Blättchen die braunen Hülsen und lugen
nun rundlich und keck in die Welt hinein. Esther
findet das rührend und zugleich entzückend. Das
Brausen der brandenden Wasserwogen klingt melodisch,
durch die Kieferkronen dort oben klingt es harmo-
nisch wie Sphärenmusik -- lauter Wunder, die des
Frühlings belebende Macht bewirkt; oder denkt das
eigene freudetrunkene Herz es in die lebendige Natur
hinein?

Alles webt und strebt, sich auf das große Er-
eignis vorzubereiten, das die Sonne im Wald ins
Leben ruft: die Liebe. Denn was ist Werden,
Wachsen, Leben, Sterben anderes als die ewige
Liebe?

Selbstvergessen lauscht Esther den Erlebnisseu
des Innern. Ganz allein mit sich selbst das Wunder-
bare zu durchleben, ist doch auch keine Schwäche,
sie ist sanft und demütig um diese Stunde, befreit
von dem gestrengen Richter des vernichtenden
Zwanges, unter den sie selbst sich gestellt, verklärt
[Spaltenumbruch] und verschönt wie von der Morgenröte eines neuen
Tages.

-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Am Bauplatz hat schon seit vielen Wochen
reges Treiben geherrscht, die starken Mauern der
neuen Kirche erheben sich zusehends, der Herbst wird
den stolzen Bau vollendet sehen.

Von seinem Standpunkte auf dem Hügel hat
Uwe Jens Esther in das Holz gehen sehen. Fast
einen Moment hat er es über sich vermocht, ihr
Begegnen zu vermeiden; doch auch Esther hat nichts
getan, ein Zusammentreffen zu erleichtern, will er
sie nicht ganz verlieren, muß er der erste sein, der
die Hand zu einer scheinbaren Versöhnung bietet;
er muß ihr heute folgen und wartet nicht weit vom
Ausgang des Gehölzes ihre Rückkehr ab.

Es hatte wohl eine Stunde gedauert.

Als ihn Esther kommen sah, regte sich neben
der verborgenen Freude über sein Erscheinen auch
der Zorn. Aber sie nimmt sich vor, ruhig zu bleiben,
nicht mehr mit der früheren unschönen Heftigkeit,
sondern mit gehaltenem Ernst, wenn auch nicht
weniger energisch, jede Annäherung zurückzuweisen.

Trotz aller verständigen Vorsätze pocht ihr
Herz bei seinem Näherkommen in immer wilderen
Schlägen.

Die Sonne stand schon tief jenseits des Meeres;
ihr purpurrotes Licht durchdrang den Tannenwald,
in dem der Frühling webte, sang und duftete. Ein
kräftiger Hauch von gesprengten harzigen Knospen-


Marburger Zeitung Nr. 155, 27. Dezember 1906.

[Spaltenumbruch]
Politiſche Umſchau.
Von der Wahlreform.

Die Wahlreform konnte alſo in der amtlichen
„Wiener Zeitung“ nicht als „Weihnachtsgeſchenk“
erſcheinen. Das Herrenhaus macht ſeine endgiltige
Zuſtimmung zu den Wahlreform-Geſetzentwürfen
davon abhängig, daß das Abgeordnetenhaus vorerſt
die ſogenannte numerus clausus-Vorlage annimmt,
jenen Geſetzentwurf, der die Höchſtzahl der Herren-
hausmitglieder feſtlegt, damit das Herrenhaus nicht
durch beliebige Pairsſchübe weſentlichen Verän-
derungen unterworfen werden kann. Man ſieht,
daß die Mitglieder des Herrenhauſes einem Ver-
ſprechen des Miniſterpräſidenten Beck, der ihnen
die numerus clausus-Vorlage nach Erledigung der
Wahlreform zuſicherte, nicht über den Weg trauen.
Nun, ſie müſſen ihn ja kennen, den Herrn v. Beck.

Der Lohn.

Wie verlautet, ſollen aus Anlaß der Verab-
ſchiedung der Wahlreformvorlage im Parlamente
außer der Verleihung der Geheimratswürde
an die Miniſter, welche dieſe Würde noch nicht
beſitzen, an 40 Parlamentarier Ordens-
auszeichnungen
erhalten; außerdem ſollen an
etwa 30 Beamte, die tatkräftig ſowohl bei den
Vorarbeiten als auch bei der Durchberatung dieſer
Geſetze mitgearbeitet haben, teils durch Ordens-
verleihungen ausgezeichnet werden. Bekommt das
deutſche Volk mit dieſer Wahlreform ſein „Kreuz“,
ſo ſollen auch alle jene, die es ſchaffen halfen, ihre
Kreuze bekommen. Das iſt nur recht und billig.

Penſionsverſicherung der Privat-
bedienſteten.

Das Geſetz über die Penſionierungsverſicherung
der Privatbedienſteten hat die kaiſerliche Sanktion
erhalten. Da das Geſetz zwei Jahre nach ſeiner
Kundmachung in Wirkſamkeit zu treten hat, wird
die Verlautbarung im Reichsgeſetzblatte am 1. Jänner
1907 erfolgen, um die Eröffnung des Betriebes der
zu errichtenden Penſionsanſtalt am Anfange eines
Kalenderjahres ſicherzuſtellen.

Franzöſiſche Steuerpolitik.

Die franzöſiſche Kammer hat ein Geſetz über
die Beſteuerung von berechtigten Adels-
titeln
angenommen, ebenſo eine Klavierſteuer.
Vom nächſten Jahre ab haben die Beſitzer von
Klavieren 10 Franken, von Flügeln 20 Franken
und von Orgeln 100 Franken Steuer zu bezahlen.
Es mag hiebei bemerkt werden, daß eine örtliche
Klavierſteuer bereits in 21 Städten exiſtiert.

Aus Serbien.

Über die Folgen unſerer Grenzſperre
gegen Serbien wurde aus Belgrad gemeldet:
Die kritiſche ökonomiſche Situation iſt nunmehr
allerorten fühlbar geworden. Die Folgen der
Grenzſperre machen ſich überall geltend. Mit
Beſorgnis ſieht man dem hieſigen Weihnachtsfeſt
entgegen. (Die ſerbiſchen Weihnachten ſind bekanntlich
[Spaltenumbruch] wie die ruſſiſchen ſpäter als die unſeren — d. Schriftl.)
Man erwartet, daß Miniſterpräſident Paſitſch durch
einen neuen Trick, etwa durch Beantwortung der
öſterreichiſch-ungariſchen Note, die Gärung beſchwich-
tigen wird, und hält den Ausbruch ernſtlicher Un-
ruhen
an verſchiedenen Orten Serbiens zu dem
ſerbiſchen Weihnachtsfeſt für ſehr wahrſcheinlich.

Aus Rußland.

Das Morden nimmt in Rußland kein Ende.
Faſt gewinnt es den Anſchein, als ob ganz Rußland
eine einzige große Mörderhöhle ſei. Von den vielen
Fällen der letzten Tage ſeien nur einige angeführt.
Aus Koſtroma, 22. d., wurde berichtet: Die
Inhaber einer Mietswohnung, bei denen eine
Hausdurchſuchung vorgenommen werden ſollte,
erſchoſſen den damit beauftragten Polizei-
kommiſſär
und verwundeten einen Polizei-
ſergeanten. Es gelang den Tätern, durch eine
Hintertür zu entkommen. — Aus Twer wird vom
gleichen Tage gemeldet: Das Mitglied des Reichs-
rates Graf Alexis Janatiew, früher General-
gouverneur von Kiew, Wolhynien und Podolien, iſt
heute im Buffettzimmer der Adelsverſammlung von
einem Unbekannten durch ſechs Revolver-
ſchüſſe getötet
worden. Der Verbrecher ver-
ſuchte ſich darauf ſelbſt zu erſchießen. Es gelang
jedoch, ihn lebend zu verhaften.




Tagesneuigkeiten.
Tod eines Kommunarden.

Aus Paris,
21. d. wird berichtet: Hier ſtarb im Alter von
60 Jahren Emile Fortin, der als Kommunard
im Mai 1871 im Auftrag der damaligen Pariſer
Autoritäten die Exekution der Geiſeln im
Geſängnis Roquette leitete und den von der Salve
verſchont gebliebenen Erzbiſchof Darboy durch
einen Schuß niederſtreckte.

Engelmacherei.

„Daily Chronicle“ meldet
aus Paris die Entdeckung eines grauenhaften Falles
von Engelmacherei. Eine Hebamme habe ſeit Jahr
und Tag Säuglinge, deren ſich die Eltern entledigen
wollten, in Pflege genommen und ſie auf ſchreckliche
Weiſe getötet, indem ſie die Kleinen in ſiedendem
Öl verbrühte. Die Verbrecherin wurde Sonnabend
verhaftet.

Ein heißblütiger Magyar und der
Eiſenbahnzug.

In der Nähe des Kloſtertors
in Hamburg ſtellte ſich ein Ungar mitten auf das
Eiſenbahngleis vor einen Rangierzug. Der Lokomotiv-
führer des Zuges gab wiederholt Signale mit der
Dampfpfeife; der Ungar rührte ſich nicht; wie eine
Statue ſtand er da. Dem Lokomotivführer blieb
nichts anderes übrig, als den Zug zum Halten zu
bringen. Als er dann den Ungarn aufforderte, die
Strecke frei zu geben, zog der Pußtaſohn ein Meſſer,
ſprang auf die Lokomotive und drang mit gezücktem
Meſſer auf den Führer ein. Inzwiſchen war ein
Schutzmann herbeigekommen, der aber von dem
heißblütigen Magyaren ebenfalls mit dem Meſſer
bedroht wurde. Erſt nach langem Kampfe gelang
[Spaltenumbruch] es, den Ungarn zu überwältigen und gefeſſelt zur
Wache zu bringen. Er wird ſich wegen Beleidigung,
Widerſtands gegen die Staatsgewalt, Bedrohung
und Gefährdung eines Eiſenbahntransports zu ver-
antworten haben.

Tod durch Kurzſchluß.

Im Berliner
Zentraltheater entſtand am 23. d. beim Kinemato-
graphen ein Kurzſchluß. Der Maſchinenmeiſter
Jahnke wurde ſofort getötet. Der Direktor des
Theaters erlitt ſchwere Brandwunden. Das Publikum
wurde von einer großen Panik ergriffen, doch kam
niemand zu Schaden.

Eine neue Verbindung zwiſchen Berlin
und Petersburg.

Wie man dem „Berliner
Tagblatt“ aus Stockholm ſchreibt, erregt dort ein
der Regierung unterbreitenes Projekt lebhaftes
Intereſſe, das den Zweck verfolgt, eine ſchnelle und
luxuriöſe Verbindung zwiſchen Berlin und Peters-
burg über Stockholm herzuſtellen. Nach dieſem
Plane ſoll zwiſchen Stockholm und Trelleborg oder
einem anderen dazu geeigneten Hafen Südſchwedens
eine elektriſche Bahn angelegt, die Verbindung zwiſchen
dieſem Hafen und Saßnitz auf der Inſel Rügen mittels
Rieſendampffähren aufrecht gehalten und von Saßnitz
aus nach Berlin ebenfalls eine elektriſche Bahn ge-
baut werden. Des weiteren wäre zwiſchen Stock-
holm und Abo in Finnland eine Dampffährenver-
bindung zu errichten und zwiſchen Abo und Peters-
burg eine elektriſche Schnellbahn anzulegen. Nach
Herſtellung dieſer Anlagen wird es möglich ſein, die
Reiſe zwiſchen Petersburg und Berlin in 20 Stunden
zu machen, während gegenwärtig die Fahrt zwiſchen
den beiden Hauptſtädten via Eydtkuhnen 31 Stunden
beanſprucht.

Benützen Sie auch Malzkaffee?

Wird
dieſe Frage in Geſellſchaft von Damen aufgeworfen,
begegnet ſie oft einem mitleidig verneinenden Lächeln
und es zeigt ſich, daß viele noch gegen den Malz-
kaffee ein ſtarkes Vorurteil hegen. Zum Teil iſt
das auch erklärlich, denn was unter dem Namen
Malzkaffee verkauft wird, iſt zumeiſt gar kein Malz-
kaffee, ſondern faſt immer nur gewöhnlich gebrannte
Gerſte oder einfach geröſtetes Braumalz, und dieſe
geben nur eine fade, ſüßliche Brühe, die gewiß
nicht nach Kaffee ſchmeckt. Sehr viele wiſſen eben
noch nicht oder überzeugten ſich noch nicht, daß nur
in Kathreiners Kneipp-Malzkaffee ein Produkt
exiſtiert, das ſelbſt einen wohligen Kaffeegeſchmack
beſitzt, weil ſeine Körner mit einem Extrakt aus
der Kaffeekirſche durchtränkt werden, ohne daß das
giftige Koffein des Bohnenkaffees mit übertragen
wird. Kathreiners Kneipp-Malzkaffee vereinigt daher
allein in hohem Grade den beliebten Geſchmack und
das Arome des Bohnenkaffees mit den bekannten,
geſundheitlichen Vorzügen des Malzes. Wer daher
den echten Kathreiner probiert hat, wird gewiß
die Vorurteile gegen den guten Malzkaffee nicht
länger hegen. Der echte Kathreiner wird aber nur
in verſchloſſenen Paketen mit dem Namen Kathreiner
verkauft und beim Einkauf iſt es daher dringend
notwendig, den Namen Kathreiner immer ausdrück-
lich zu betonen.




[Spaltenumbruch]

ewigen, unſterblichen Keimen befruchtet, die ihre
Wunderblaſen unaufhaltſam zum Tageslichte
fördern; und wie mörderiſch Du auch unter ihnen,
alſo gegen Dich ſelbſt wüten magſt, Du wirſt nie
imſtande ſein, ſie zu zerſtören. Zuletzt wirſt Du,
das Vergebliche des Auflehnens einſehend, nach-
geben oder an dem Übermaß des auf Dich ein-
ſtrömenden Reichtums allmählich zu Grunde gehen.“

Eſther ſchwieg, während ſie gedankenvoll das
überall aus der Erde quellende Wachſen betrachtete;
Thomas Holm nahm ſeine Arbeit wieder auf und
ſetzte das Geſpräch für heute nicht fort. Er wußte,
daß er genug geſagt und Eſther ſeine Worte in
ihrem Herzem bewahren würde.

Und ſie behielt ſie, ohne jedoch den zerſtören-
den Kampf in ihrem Innern aufzugeben, immer
unter dem großen Refrain, der, wie ſie meinte,
trotz allem endlich doch zum Siege führen mußte.

Bald darauf ging ſie durch den Wald nach
Wiken zu.

Eins wollte Eſther dulden, wenigſtens auf
kurze Zeit, ſolange der Frühling währte; das hatten
zu ihrem eigenen Erſtaunen des Vaters Worte
bewirkt —; das innere, gegenwärtige Erleben, er
hatte Recht — ſobald ſie ruhig war und horchte,
gingen da drinnen unbeſchreiblich holde Wunder
vor. Das ließ ſich auch durchaus nicht verbannen
— es war da; mit jedem Schritt durch den
ſtillen Wald lächelte es geheimnisvoll aus Blüten
und Knoſpen. Da klang es wie Jubel aus
[Spaltenumbruch] allen Tiefen ſo leicht und frohbewegt! Der Vater
hatte Recht; aus ihrem Blute ſproß ein nie geahntes,
ſchwellendes Werden, die Welt war wie ein einziges
jubelndes Lied geworden, in das alle Töne ihrer
eigenen Seele jauchzend einſtimmten.

Ein Vogel fliegt vorüber, im Schnäbelchen
eine weiße Flocke tragend, die er emſig zum Neſt-
chen bringt — am ſandigen Wegrand grünen freudig
ſpärliche Gräſer — dort an den Gebüſchen ſprengten
winzige Blättchen die braunen Hülſen und lugen
nun rundlich und keck in die Welt hinein. Eſther
findet das rührend und zugleich entzückend. Das
Brauſen der brandenden Waſſerwogen klingt melodiſch,
durch die Kieferkronen dort oben klingt es harmo-
niſch wie Sphärenmuſik — lauter Wunder, die des
Frühlings belebende Macht bewirkt; oder denkt das
eigene freudetrunkene Herz es in die lebendige Natur
hinein?

Alles webt und ſtrebt, ſich auf das große Er-
eignis vorzubereiten, das die Sonne im Wald ins
Leben ruft: die Liebe. Denn was iſt Werden,
Wachſen, Leben, Sterben anderes als die ewige
Liebe?

Selbſtvergeſſen lauſcht Eſther den Erlebniſſeu
des Innern. Ganz allein mit ſich ſelbſt das Wunder-
bare zu durchleben, iſt doch auch keine Schwäche,
ſie iſt ſanft und demütig um dieſe Stunde, befreit
von dem geſtrengen Richter des vernichtenden
Zwanges, unter den ſie ſelbſt ſich geſtellt, verklärt
[Spaltenumbruch] und verſchönt wie von der Morgenröte eines neuen
Tages.

— — — — — — — — — — — — — —

Am Bauplatz hat ſchon ſeit vielen Wochen
reges Treiben geherrſcht, die ſtarken Mauern der
neuen Kirche erheben ſich zuſehends, der Herbſt wird
den ſtolzen Bau vollendet ſehen.

Von ſeinem Standpunkte auf dem Hügel hat
Uwe Jens Eſther in das Holz gehen ſehen. Faſt
einen Moment hat er es über ſich vermocht, ihr
Begegnen zu vermeiden; doch auch Eſther hat nichts
getan, ein Zuſammentreffen zu erleichtern, will er
ſie nicht ganz verlieren, muß er der erſte ſein, der
die Hand zu einer ſcheinbaren Verſöhnung bietet;
er muß ihr heute folgen und wartet nicht weit vom
Ausgang des Gehölzes ihre Rückkehr ab.

Es hatte wohl eine Stunde gedauert.

Als ihn Eſther kommen ſah, regte ſich neben
der verborgenen Freude über ſein Erſcheinen auch
der Zorn. Aber ſie nimmt ſich vor, ruhig zu bleiben,
nicht mehr mit der früheren unſchönen Heftigkeit,
ſondern mit gehaltenem Ernſt, wenn auch nicht
weniger energiſch, jede Annäherung zurückzuweiſen.

Trotz aller verſtändigen Vorſätze pocht ihr
Herz bei ſeinem Näherkommen in immer wilderen
Schlägen.

Die Sonne ſtand ſchon tief jenſeits des Meeres;
ihr purpurrotes Licht durchdrang den Tannenwald,
in dem der Frühling webte, ſang und duftete. Ein
kräftiger Hauch von geſprengten harzigen Knoſpen-


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[2/0002] Marburger Zeitung Nr. 155, 27. Dezember 1906. Politiſche Umſchau. Von der Wahlreform. Die Wahlreform konnte alſo in der amtlichen „Wiener Zeitung“ nicht als „Weihnachtsgeſchenk“ erſcheinen. Das Herrenhaus macht ſeine endgiltige Zuſtimmung zu den Wahlreform-Geſetzentwürfen davon abhängig, daß das Abgeordnetenhaus vorerſt die ſogenannte numerus clausus-Vorlage annimmt, jenen Geſetzentwurf, der die Höchſtzahl der Herren- hausmitglieder feſtlegt, damit das Herrenhaus nicht durch beliebige Pairsſchübe weſentlichen Verän- derungen unterworfen werden kann. Man ſieht, daß die Mitglieder des Herrenhauſes einem Ver- ſprechen des Miniſterpräſidenten Beck, der ihnen die numerus clausus-Vorlage nach Erledigung der Wahlreform zuſicherte, nicht über den Weg trauen. Nun, ſie müſſen ihn ja kennen, den Herrn v. Beck. Der Lohn. Wie verlautet, ſollen aus Anlaß der Verab- ſchiedung der Wahlreformvorlage im Parlamente außer der Verleihung der Geheimratswürde an die Miniſter, welche dieſe Würde noch nicht beſitzen, an 40 Parlamentarier Ordens- auszeichnungen erhalten; außerdem ſollen an etwa 30 Beamte, die tatkräftig ſowohl bei den Vorarbeiten als auch bei der Durchberatung dieſer Geſetze mitgearbeitet haben, teils durch Ordens- verleihungen ausgezeichnet werden. Bekommt das deutſche Volk mit dieſer Wahlreform ſein „Kreuz“, ſo ſollen auch alle jene, die es ſchaffen halfen, ihre Kreuze bekommen. Das iſt nur recht und billig. Penſionsverſicherung der Privat- bedienſteten. Das Geſetz über die Penſionierungsverſicherung der Privatbedienſteten hat die kaiſerliche Sanktion erhalten. Da das Geſetz zwei Jahre nach ſeiner Kundmachung in Wirkſamkeit zu treten hat, wird die Verlautbarung im Reichsgeſetzblatte am 1. Jänner 1907 erfolgen, um die Eröffnung des Betriebes der zu errichtenden Penſionsanſtalt am Anfange eines Kalenderjahres ſicherzuſtellen. Franzöſiſche Steuerpolitik. Die franzöſiſche Kammer hat ein Geſetz über die Beſteuerung von berechtigten Adels- titeln angenommen, ebenſo eine Klavierſteuer. Vom nächſten Jahre ab haben die Beſitzer von Klavieren 10 Franken, von Flügeln 20 Franken und von Orgeln 100 Franken Steuer zu bezahlen. Es mag hiebei bemerkt werden, daß eine örtliche Klavierſteuer bereits in 21 Städten exiſtiert. Aus Serbien. Über die Folgen unſerer Grenzſperre gegen Serbien wurde aus Belgrad gemeldet: Die kritiſche ökonomiſche Situation iſt nunmehr allerorten fühlbar geworden. Die Folgen der Grenzſperre machen ſich überall geltend. Mit Beſorgnis ſieht man dem hieſigen Weihnachtsfeſt entgegen. (Die ſerbiſchen Weihnachten ſind bekanntlich wie die ruſſiſchen ſpäter als die unſeren — d. Schriftl.) Man erwartet, daß Miniſterpräſident Paſitſch durch einen neuen Trick, etwa durch Beantwortung der öſterreichiſch-ungariſchen Note, die Gärung beſchwich- tigen wird, und hält den Ausbruch ernſtlicher Un- ruhen an verſchiedenen Orten Serbiens zu dem ſerbiſchen Weihnachtsfeſt für ſehr wahrſcheinlich. Aus Rußland. Das Morden nimmt in Rußland kein Ende. Faſt gewinnt es den Anſchein, als ob ganz Rußland eine einzige große Mörderhöhle ſei. Von den vielen Fällen der letzten Tage ſeien nur einige angeführt. Aus Koſtroma, 22. d., wurde berichtet: Die Inhaber einer Mietswohnung, bei denen eine Hausdurchſuchung vorgenommen werden ſollte, erſchoſſen den damit beauftragten Polizei- kommiſſär und verwundeten einen Polizei- ſergeanten. Es gelang den Tätern, durch eine Hintertür zu entkommen. — Aus Twer wird vom gleichen Tage gemeldet: Das Mitglied des Reichs- rates Graf Alexis Janatiew, früher General- gouverneur von Kiew, Wolhynien und Podolien, iſt heute im Buffettzimmer der Adelsverſammlung von einem Unbekannten durch ſechs Revolver- ſchüſſe getötet worden. Der Verbrecher ver- ſuchte ſich darauf ſelbſt zu erſchießen. Es gelang jedoch, ihn lebend zu verhaften. Tagesneuigkeiten. Tod eines Kommunarden. Aus Paris, 21. d. wird berichtet: Hier ſtarb im Alter von 60 Jahren Emile Fortin, der als Kommunard im Mai 1871 im Auftrag der damaligen Pariſer Autoritäten die Exekution der Geiſeln im Geſängnis Roquette leitete und den von der Salve verſchont gebliebenen Erzbiſchof Darboy durch einen Schuß niederſtreckte. Engelmacherei. „Daily Chronicle“ meldet aus Paris die Entdeckung eines grauenhaften Falles von Engelmacherei. Eine Hebamme habe ſeit Jahr und Tag Säuglinge, deren ſich die Eltern entledigen wollten, in Pflege genommen und ſie auf ſchreckliche Weiſe getötet, indem ſie die Kleinen in ſiedendem Öl verbrühte. Die Verbrecherin wurde Sonnabend verhaftet. Ein heißblütiger Magyar und der Eiſenbahnzug. In der Nähe des Kloſtertors in Hamburg ſtellte ſich ein Ungar mitten auf das Eiſenbahngleis vor einen Rangierzug. Der Lokomotiv- führer des Zuges gab wiederholt Signale mit der Dampfpfeife; der Ungar rührte ſich nicht; wie eine Statue ſtand er da. Dem Lokomotivführer blieb nichts anderes übrig, als den Zug zum Halten zu bringen. Als er dann den Ungarn aufforderte, die Strecke frei zu geben, zog der Pußtaſohn ein Meſſer, ſprang auf die Lokomotive und drang mit gezücktem Meſſer auf den Führer ein. Inzwiſchen war ein Schutzmann herbeigekommen, der aber von dem heißblütigen Magyaren ebenfalls mit dem Meſſer bedroht wurde. Erſt nach langem Kampfe gelang es, den Ungarn zu überwältigen und gefeſſelt zur Wache zu bringen. Er wird ſich wegen Beleidigung, Widerſtands gegen die Staatsgewalt, Bedrohung und Gefährdung eines Eiſenbahntransports zu ver- antworten haben. Tod durch Kurzſchluß. Im Berliner Zentraltheater entſtand am 23. d. beim Kinemato- graphen ein Kurzſchluß. Der Maſchinenmeiſter Jahnke wurde ſofort getötet. Der Direktor des Theaters erlitt ſchwere Brandwunden. Das Publikum wurde von einer großen Panik ergriffen, doch kam niemand zu Schaden. Eine neue Verbindung zwiſchen Berlin und Petersburg. Wie man dem „Berliner Tagblatt“ aus Stockholm ſchreibt, erregt dort ein der Regierung unterbreitenes Projekt lebhaftes Intereſſe, das den Zweck verfolgt, eine ſchnelle und luxuriöſe Verbindung zwiſchen Berlin und Peters- burg über Stockholm herzuſtellen. Nach dieſem Plane ſoll zwiſchen Stockholm und Trelleborg oder einem anderen dazu geeigneten Hafen Südſchwedens eine elektriſche Bahn angelegt, die Verbindung zwiſchen dieſem Hafen und Saßnitz auf der Inſel Rügen mittels Rieſendampffähren aufrecht gehalten und von Saßnitz aus nach Berlin ebenfalls eine elektriſche Bahn ge- baut werden. Des weiteren wäre zwiſchen Stock- holm und Abo in Finnland eine Dampffährenver- bindung zu errichten und zwiſchen Abo und Peters- burg eine elektriſche Schnellbahn anzulegen. Nach Herſtellung dieſer Anlagen wird es möglich ſein, die Reiſe zwiſchen Petersburg und Berlin in 20 Stunden zu machen, während gegenwärtig die Fahrt zwiſchen den beiden Hauptſtädten via Eydtkuhnen 31 Stunden beanſprucht. Benützen Sie auch Malzkaffee? Wird dieſe Frage in Geſellſchaft von Damen aufgeworfen, begegnet ſie oft einem mitleidig verneinenden Lächeln und es zeigt ſich, daß viele noch gegen den Malz- kaffee ein ſtarkes Vorurteil hegen. Zum Teil iſt das auch erklärlich, denn was unter dem Namen Malzkaffee verkauft wird, iſt zumeiſt gar kein Malz- kaffee, ſondern faſt immer nur gewöhnlich gebrannte Gerſte oder einfach geröſtetes Braumalz, und dieſe geben nur eine fade, ſüßliche Brühe, die gewiß nicht nach Kaffee ſchmeckt. Sehr viele wiſſen eben noch nicht oder überzeugten ſich noch nicht, daß nur in Kathreiners Kneipp-Malzkaffee ein Produkt exiſtiert, das ſelbſt einen wohligen Kaffeegeſchmack beſitzt, weil ſeine Körner mit einem Extrakt aus der Kaffeekirſche durchtränkt werden, ohne daß das giftige Koffein des Bohnenkaffees mit übertragen wird. Kathreiners Kneipp-Malzkaffee vereinigt daher allein in hohem Grade den beliebten Geſchmack und das Arome des Bohnenkaffees mit den bekannten, geſundheitlichen Vorzügen des Malzes. Wer daher den echten Kathreiner probiert hat, wird gewiß die Vorurteile gegen den guten Malzkaffee nicht länger hegen. Der echte Kathreiner wird aber nur in verſchloſſenen Paketen mit dem Namen Kathreiner verkauft und beim Einkauf iſt es daher dringend notwendig, den Namen Kathreiner immer ausdrück- lich zu betonen. ewigen, unſterblichen Keimen befruchtet, die ihre Wunderblaſen unaufhaltſam zum Tageslichte fördern; und wie mörderiſch Du auch unter ihnen, alſo gegen Dich ſelbſt wüten magſt, Du wirſt nie imſtande ſein, ſie zu zerſtören. Zuletzt wirſt Du, das Vergebliche des Auflehnens einſehend, nach- geben oder an dem Übermaß des auf Dich ein- ſtrömenden Reichtums allmählich zu Grunde gehen.“ Eſther ſchwieg, während ſie gedankenvoll das überall aus der Erde quellende Wachſen betrachtete; Thomas Holm nahm ſeine Arbeit wieder auf und ſetzte das Geſpräch für heute nicht fort. Er wußte, daß er genug geſagt und Eſther ſeine Worte in ihrem Herzem bewahren würde. Und ſie behielt ſie, ohne jedoch den zerſtören- den Kampf in ihrem Innern aufzugeben, immer unter dem großen Refrain, der, wie ſie meinte, trotz allem endlich doch zum Siege führen mußte. Bald darauf ging ſie durch den Wald nach Wiken zu. Eins wollte Eſther dulden, wenigſtens auf kurze Zeit, ſolange der Frühling währte; das hatten zu ihrem eigenen Erſtaunen des Vaters Worte bewirkt —; das innere, gegenwärtige Erleben, er hatte Recht — ſobald ſie ruhig war und horchte, gingen da drinnen unbeſchreiblich holde Wunder vor. Das ließ ſich auch durchaus nicht verbannen — es war da; mit jedem Schritt durch den ſtillen Wald lächelte es geheimnisvoll aus Blüten und Knoſpen. Da klang es wie Jubel aus allen Tiefen ſo leicht und frohbewegt! Der Vater hatte Recht; aus ihrem Blute ſproß ein nie geahntes, ſchwellendes Werden, die Welt war wie ein einziges jubelndes Lied geworden, in das alle Töne ihrer eigenen Seele jauchzend einſtimmten. Ein Vogel fliegt vorüber, im Schnäbelchen eine weiße Flocke tragend, die er emſig zum Neſt- chen bringt — am ſandigen Wegrand grünen freudig ſpärliche Gräſer — dort an den Gebüſchen ſprengten winzige Blättchen die braunen Hülſen und lugen nun rundlich und keck in die Welt hinein. Eſther findet das rührend und zugleich entzückend. Das Brauſen der brandenden Waſſerwogen klingt melodiſch, durch die Kieferkronen dort oben klingt es harmo- niſch wie Sphärenmuſik — lauter Wunder, die des Frühlings belebende Macht bewirkt; oder denkt das eigene freudetrunkene Herz es in die lebendige Natur hinein? Alles webt und ſtrebt, ſich auf das große Er- eignis vorzubereiten, das die Sonne im Wald ins Leben ruft: die Liebe. Denn was iſt Werden, Wachſen, Leben, Sterben anderes als die ewige Liebe? Selbſtvergeſſen lauſcht Eſther den Erlebniſſeu des Innern. Ganz allein mit ſich ſelbſt das Wunder- bare zu durchleben, iſt doch auch keine Schwäche, ſie iſt ſanft und demütig um dieſe Stunde, befreit von dem geſtrengen Richter des vernichtenden Zwanges, unter den ſie ſelbſt ſich geſtellt, verklärt und verſchönt wie von der Morgenröte eines neuen Tages. — — — — — — — — — — — — — — Am Bauplatz hat ſchon ſeit vielen Wochen reges Treiben geherrſcht, die ſtarken Mauern der neuen Kirche erheben ſich zuſehends, der Herbſt wird den ſtolzen Bau vollendet ſehen. Von ſeinem Standpunkte auf dem Hügel hat Uwe Jens Eſther in das Holz gehen ſehen. Faſt einen Moment hat er es über ſich vermocht, ihr Begegnen zu vermeiden; doch auch Eſther hat nichts getan, ein Zuſammentreffen zu erleichtern, will er ſie nicht ganz verlieren, muß er der erſte ſein, der die Hand zu einer ſcheinbaren Verſöhnung bietet; er muß ihr heute folgen und wartet nicht weit vom Ausgang des Gehölzes ihre Rückkehr ab. Es hatte wohl eine Stunde gedauert. Als ihn Eſther kommen ſah, regte ſich neben der verborgenen Freude über ſein Erſcheinen auch der Zorn. Aber ſie nimmt ſich vor, ruhig zu bleiben, nicht mehr mit der früheren unſchönen Heftigkeit, ſondern mit gehaltenem Ernſt, wenn auch nicht weniger energiſch, jede Annäherung zurückzuweiſen. Trotz aller verſtändigen Vorſätze pocht ihr Herz bei ſeinem Näherkommen in immer wilderen Schlägen. Die Sonne ſtand ſchon tief jenſeits des Meeres; ihr purpurrotes Licht durchdrang den Tannenwald, in dem der Frühling webte, ſang und duftete. Ein kräftiger Hauch von geſprengten harzigen Knoſpen-

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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 155, Marburg, 27.12.1906, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger155_1906/2>, abgerufen am 24.11.2024.