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Marburger Zeitung. Nr. 138, Marburg, 18.11.1902.

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Nr. 138, 18. November 1902 Marburger Zeitung.

[Spaltenumbruch]

seines Zeichens, vom Trottoir der Rue Royale auf
einen der Hofwagen, in welchem er den König ver-
mutete, zwei Revolverkugeln ab, doch der König
hatte in einem anderen Wagen Platz genommen,
und diesem glücklichen Zufalle dankt er seine Rettung.
Der Attentäter wurde verhaftet und hat gestanden,
daß er von London nach Brüssel mit dem Vorsatze
gekommen ist, den König zu tödten; er bekennt sich
als Anarchist. Wie eine Zauberformel wirkte dieses
Attentat auf das Volk; das private Leben des
Königs -- wir erinnern nur an sein Verhalten
gegenüber der Prinzessin Stephanie, als sie zur
Leiche ihrer Mutter, König Leopolds Gattin, trat
-- ist nicht geeignet, ihm große Sympathien zu
erwecken. Aber als verfassungsmäßiger Herrscher
erwies er sich auch konstitutionell, und als die
Schreckenskunde vom Attentate durch Brüssel eilte,
durchbrauste die Residenz viel tausendstimmig der
lange nicht mehr gehörte Ruf: "Es lebe der König!"

-- Der Ausstand der Bergarbeiter in Frank-
reich ist im allgemeinen beendigt, da fast auf allen
Punkten des Streikgebietes die Arbeit von den
Ausständigen wieder aufgenommen worden ist.




Tagesneuigkeiten.
(Ein windischer Künstler als Dieb.)

Der Maler Grohow, der Kassier des slovenischen
Künstlervereines "Akademie" in Laibach hat das ganze
Vereinsvermögen defraudiert und ist geflüchtet.

(Schlau).

Nach einer wirklichen Begebenheit.
Der Girgelbauern-Nazi hat heute von seiner
Dulcinea, einer drallen Bauerndirne, ein Brieflein
erhalten. Da aber der Nazi, eine Kapazität auf
dem Gebiete der Dummheit, nicht lesen kann, ruft
er seinen Mitknecht Florian herbei. "Du, Flori,"
beginnt er geheimnisvoll, "mei Resl hat mir an
Briaf g'schrieb'n, möchst mir'n net vorles'n?" --
"Ja, warum net," bemerkt ganz trocken der Flori.
-- "Du muaßt Dir aber d' Ohr'n zuabind'n
lass'n", meint der Nazi. -- "Selbstverständli",
replizierte der Andere. Und der Flori beginnt zu
lesen. Andächtig lauscht der Nazi. Als der Brief
zu Ende gelesen war, fragte der Nazi: "Hast eppa
was vastand'n? -- "Net a Wörtl!" entgegnet
mit der aufrichtigsten Miene Florian.

(Ein origineller Stoßseufzer.)

Im
"Helvetia-Bazar" in Rorschach wurde nachstehendes
originelle Schriftstück gefunden: Mia Clara! Warum
bis nig komme su die rantewu? Abe dich ge-
wartet auf die Banof, gomme heut aben an die
Bazar von die helvezia; ick gaufen hier eine
fiertelpfund maroni ganz heiss. 1000 gus Peppi.
-- NB. ferges nüt bortenome, bin ganz auf dem
und.
-- Dieses italientsche Deutsch wird doch Klara
erhört haben, und mit "bortenome" gekommen sein
su Peppi!

("Wer das nicht glaubt ...")

In der
"Frankf. Ztg." erzählt ein Leser eine hübsche Ge-
schichte, die in den 30er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts an einem rheinischen Gymnasium passiert
ist. Sie erzählt von einem Professor der Theologie,
der bei seinem Vortrag zwar das "Fortiter in re",
doch auch das "Suaviter in modo" beobachtete,
und der, wenn er heute noch lebte, wegen der
letzteren Eigenschaft wohl schleunigst seinen Lehr-
stuhl räumen müßte. Der Fall ist folgender: Nach-
dem die Schüler der Prima des Gymnasiums von
8--9 Uhr vormittags in der Physik-Stunde den
Vortrag des Professors über Galilei und dessen
bekanntes "Und sie bewegt sich doch!" gehört hatten,
folgte von 9--10 Uhr, von demselben Professor
erteilt, die Religionsstunde, in welcher das Buch
Josua den Gegenstand des Unterrichts bildete. Bei
dem 100. Kapitel, Vers 13, wo es heißt: "Da stand
die Sonne und der Mond stille, bis daß sich das
Volk an seinen Feinden rächete" u. s. w. bemerkte
der Professor zum Schlusse: "Und wer das nicht
glaubt, kann nicht selig werden." Hierauf die ganze
Klasse einstimmig: "Oh Herr Professor! Oh Herr
Professor!" Der Professor aber zuckte die Achseln
und sagte: "Kann nicht helfen, wer das nicht glaubt,
kann nicht selig werden."




Die Kunst im Marburger Schwur-
gerichtssaal.

Gestern wurde der Schwurgerichtssaal im
neuen Kreisgerichtsgebäude seiner Bestimmung über-
geben, die erste Verhandlung fand gestern in seinem
Raume statt. Nunmehr ist das ganze Bauwerk nach
Innen und nach Außen vollendet und mit Genug-
tuung sei es festgestellt, daß man einer Stätte, die
[Spaltenumbruch] dem tiefsten Ernste der Eutscheidung über die Frei-
heit, über Leben und Tod der Mitmenschen gewidmet
wurde, die milden Strahlen der Kunst teilhaftig
werden ließ, allegorischer Kunst, die das menschliche
Gemüt durch ihren Zauber hinüberführt zur Ver-
söhnung mit dem notwendig Harten und Strengen.
Es ist der Schwurgerichtssaal, bei dessen Ausge-
staltung auch die Kunst zu Rate gezogen wurde,
deren Lichter und Farbentöne dem Raume das
brutal Ernste und Empfindungslose nehmen sollen.
Die Architektur des Schwurgerichtssaales läßt an
der südlichen Schmalseite, ober dem Richtertische ein
3 x 4 m großes, von einfachem Rahmwerk um-
schlossenes Feld offen, welches zur Aufnahme eines
Bildes bestimmt wurde. Herr Anton Novak, ein
gebürtiger Marburger, erhielt den Auftrag, diese
Wandmalerei zu schaffen, und damit übernahm er
eine Aufgabe, die mit viel Kunstsinn und Geschick
gelöst werden mußte. Galt es doch, das Bild als
Farbenschöpfung mit der in moderner Richtung
gehaltenen Saalarchitektur in Uebereinstimmung zu
bringen, die auf Flächenwirkung berechnete zarte
Plastik der Saalwände mit der Wirkung der Farben
in Einklang zu bringen. Novak hat die Aufgabe
mit viel Geschick und feinem Verständnisse gelöst.
Klar und richtig treten uns die Figuren entgegen,
jede für sich in abgeschlossener Farbenwirkung und
wo zu ausgeprägte Plastik in der Darstellung ver-
mieden werden muß, ist die Wirkung durch gute
Gruppierung und feinempfundene Wahl der Farbe
erreicht. So baut sich die ganze Handlung lebendig
und ausdrucksvoll vor dem Beschauer auf, ein
Stück für sich und doch wieder nur ein Teil des
Ganzen, ein Teil der Wand. Ein glücklicher Griff
ist die Wahl des Stoffes, den Novak seinem Bilde
zugrunde legt, und daß er ein Kind seiner Zeit in
der Darstellung ist, verrät er auch im Grund-
gedanken seiner Schöpfung. Entsprechend unserem
Zeitalter humaner Tendenzen greift er jenen Augen-
blick aus dem strengen Walten der Justiz heraus,
in welchem der Anwalt des Beschuldigten an die
Gefühle appelliert und zur Milderung des Urteil-
spruches der menschlichen Schwächen gedenkt und
auf die unglückliche Frau des Beschuldigten mit dem
starr in die fremde Szene blickenden Kinde hinweist.
Hier ist die stumme Bitte einer Gattin und Mutter
um Erbarmen für die unschuldig Mitleidenden, auf
der anderen Seite des Vordergrundes die allein-
stehende Figur des Staatsanwaltes und zwischen
beiden in halbliegender Stellung die gebrochene
Gestalt des Verbrechers, ergreifend lebenswahr ge-
malt. Während sich so im Vordergrunde eine wirk-
lich dramatische Handlung abspielt, sitzt im Hinter-
grunde die Gestalt der Justitia, umgeben von ihren
Haupttugenden, der Gelehrsamkeit, der Wahrheit,
der Milde und der Stärke. Das Gesetzbuch, das
Schwert und der klare Spiegel des Rechtes werden
von den allegorischen Figuren der Szene entgegen-
gehalten. Zur dewegten Gruppe des Vordergrundes
bildet der Hintergrund einer eigenartigen Gegen-
satz. Jede der sinnbildlichen Figuren erscheint mit
ruhigem Ernst gleichsam als Wächter der Grund-
züge einer gerechten Rechtsprechung, während in
ihrer Mitte Justitia thront, erhaben und unnahbar
mit dem ungebrochenen Stab in den Händen, denn
noch ist das Urteil nicht gefällt, Novak, der bisher
zumeist in Landschaften und Porträts tätig war,
hat mit diesem Bilde in seiner Vaterstadt einen
anderen Pfad eingeschlagen und mag man auch dies
oder jenes an dem Bilde verbesserungsfähig finden,
das kann behauptet werden, daß hier ehrliches
Wollen und gutes Können zu einem schönen Er-
gebnis geführt haben. Möge der Künstler unab-
lässig auf der Bahn des künstlerischen Strebens
und künstlerischer Erkenntnis fortschreiten, sich und
seiner Vaterstadt Marburg zur Ehre.




Aus dem Gerichtssaale.

Du sollst Vater und Mutter ehren ...

Mit einem traurigen Falle wurde die dies-
malige Schwurgerichtsperiode begonnen. Ein Mann
stand vor den Geschworenen unter der furchtbaren
Anklage des Verbrechens des Totschlages, be-
gangen an seiner eigenen Mutter! Unweit von
ihm sitzt auf der Zeugenbank sein Bruder, welcher
ebenfalls die Mutter schwer mißhandelt hat. Heute
sitzt er noch auf der Zeugenbank und nach kurzer
Frist wird auch er auf der Anklagebank sitzen, um
sich vor dem Erkenntnisgericht wegen seiner Schuld
zu verantworten.

Vor dem Gerichtshofe, dem der Kreisgerichts-
[Spaltenumbruch] präsident Hofrat Greistorfer präsidiert, steht
unter der Anklage des Verbrechens des Totschlages,
begangen an seiner leiblichen Mutter, der 30jährige
katholische und ledige Taglöhner Josef Bracko
aus Kanaberg. Josef Bracko erfreut sich bereits
einer vielsagenden Strafkarte. Er wurde bereits vor-
bestraft einmal wegen des Verbrechens der schweren
körperlichen Beschädigung, zweimal wegen Diebstahl
und je einmal ob Uebertretung der §§ 312 und
314 St.-G. und § 36 W.-P.

Die Anklage legt ihm folgendes zur Last:
Die Grundbesitzer Thaddäus und Marie Bracko
in Kanadorf übergaben im Jahre 1898 ihre Rea-
lität ihrem ältesten Sohne Matthäus Bracko. Sie
bedangen sich einen Auszug aus und lebten deshalb
mit ihrem jüngeren Sohne Josef Bracko auf dieser
Besitzung. Bald entspannen sich wegen Leistung des
Auszuges Streitigkeiten. Am Abend des 11. August
l. J. kam die Mutter Maria Bracko etwas ange-
heitert nach Hause und verlangte von ihrem Sohne
Matthäus die Bezahlung von 14 Kronen zum An-
kaufe von Kleidern, die ihr nach dem Uebergabs-
vertrage gebürten. Im Verlaufe des Streites legte
sich die alte Maria Bracko ins Bett und setzte auch
hier ihre Forderung fort, worüber ihr Sohn
Matthäus Bracko so erzürnt wurde, daß er zu
ihrem Bette eilte und sich auf sie kniete; weitere
Angriffe wurden dadurch verhindert, daß ihn sein
eigenes Weib Maria Bracko wegzog und ins Freie
brachte. Matthäus Bracko drohte hiebei zwar, daß
er einen Krampen holen und alle niederschlagen
werde, er ließ es aber dabei bewenden und kam
mit seiner Mutter nicht mehr in Berührung. Im
Zimmer waren nunmehr nur die alte Maria Bracko
und ihr Sohn Josef Bracko zurückgeblieben, der
bei einem Tische saß. Der Streit wurde nun zwischen
diesen beiden fortgesetzt.

Da die Mutter dem Sohne Josef deshalb
Vorwürfe machte, weil er seit Jahren mit einem
Weibsbild ein Verhältnis hat, welchem bereits zwei
uneheliche Kinder entsprungen sind, wurde nun
dieser gegen die eigene Mutter gewaltthätig. Er
erzählt, daß die Mutter aus dem Bett gefallen sei,
daß er sie aufgehoben und in die Mitte des Zimmers
gezogen habe, daß sie jedoch hiebei in die Kniee
gesunken sei und ihn wieder beschimpft habe, weshalb
er ihr mit der flachen Hand drei Schläge über
den Kopf gehauen habe, infolge deren sie zu Boden
fiel, worauf er ihr noch mit der Hand zwei Hiebe
auf den Rücken gab und sie ins Vorhaus schleifte,
um sie zu ihrem Gatten in den Stall zu schaffen,
was er aber nicht habe durchführen können, da sie
selbst aufstand und in ihr Bett ins Wohnzimmer
sich verfügte und daselbst einschlief. Aus diesem
Schlafe ist jedoch die arme mißhandelte alte Mutter
nicht mehr erwacht.

Sie hauchte am 13. August l. J. nachmittags
ihren Geist aus, ohne das Bewußtsein wieder er-
langt zu haben. Die Obduktion ergab, daß Maria
Bracko an einer Blutung unter der harten Hirnhaut
gestorben sei.

Von Bedeutung ist eine Beobachtung, die
Matthäus Bracko machte. Er sah nämlich, wie
Josef Bracko gegen seine Mutter mit dem beschuhten
Fuße stieß und hörte, wie Josef Bracko seiner
Mutter zurief: "Prokleta kuga, proc da bom
imel kje hoditi, prekleta mrcina proc."

Da die Mutter darauf entgegnete: "Pusti
me, ne brcni me, jaz bom ze sla"
ist es zweifel-
los, daß er sie auch getroffen habe.

Entscheidend war für die Beurteilung der
Tathandlung des Josef Bracko das Gutachten der
Gerichtsärzte Dr. Leonhard und Dr. Berg-
mann,
welche den Tod der Marie Bracko direkt
auf die vom Josef Bracko seiner Mutter auf den
Kopf versetzten Faustschläge zurückführten, während
die Radkersburger Sachverständigen nach der Durch-
führung der Obduktion als Todesursache eine Ver-
kalkung der Gehirnmasse ansahen. Josef Bracko
selbst, der wie auch die Zeugen, nur slovenisch
spricht, leugnete anfänglich überhaupt, die Mutter
mit Faustschlägen traktiert zu haben; er wollte ihr
nur Schläge mit der flachen Hand gegeben haben.
Später gab er zu, sie auch mit der Faust geschlagen
zu haben, jedoch nur auf den Rücken. Der öffent-
liche Ankläger, Staatsanwalt Dr. Nemanitsch,
leitete seine Anklage ein mit den Worten des
vierten Gebotes: "Du sollst Vater und Mutter
ehren." Nicht durch die Religion wurde dieses Ge-
bot gegründet, es ist der Menschheit in Fleisch und
Blut eingesetzt schon durch die Natur. Dr. Nema-
nitsch wies auf das von der Mutterliebe handelnde
Kapitel in Hamerlings "Ahasver in Rom" hin

Nr. 138, 18. November 1902 Marburger Zeitung.

[Spaltenumbruch]

ſeines Zeichens, vom Trottoir der Rue Royale auf
einen der Hofwagen, in welchem er den König ver-
mutete, zwei Revolverkugeln ab, doch der König
hatte in einem anderen Wagen Platz genommen,
und dieſem glücklichen Zufalle dankt er ſeine Rettung.
Der Attentäter wurde verhaftet und hat geſtanden,
daß er von London nach Brüſſel mit dem Vorſatze
gekommen iſt, den König zu tödten; er bekennt ſich
als Anarchiſt. Wie eine Zauberformel wirkte dieſes
Attentat auf das Volk; das private Leben des
Königs — wir erinnern nur an ſein Verhalten
gegenüber der Prinzeſſin Stephanie, als ſie zur
Leiche ihrer Mutter, König Leopolds Gattin, trat
— iſt nicht geeignet, ihm große Sympathien zu
erwecken. Aber als verfaſſungsmäßiger Herrſcher
erwies er ſich auch konſtitutionell, und als die
Schreckenskunde vom Attentate durch Brüſſel eilte,
durchbrauſte die Reſidenz viel tauſendſtimmig der
lange nicht mehr gehörte Ruf: „Es lebe der König!“

— Der Ausſtand der Bergarbeiter in Frank-
reich iſt im allgemeinen beendigt, da faſt auf allen
Punkten des Streikgebietes die Arbeit von den
Ausſtändigen wieder aufgenommen worden iſt.




Tagesneuigkeiten.
(Ein windiſcher Künſtler als Dieb.)

Der Maler Grohow, der Kaſſier des ſloveniſchen
Künſtlervereines „Akademie“ in Laibach hat das ganze
Vereinsvermögen defraudiert und iſt geflüchtet.

(Schlau).

Nach einer wirklichen Begebenheit.
Der Girgelbauern-Nazi hat heute von ſeiner
Dulcinea, einer drallen Bauerndirne, ein Brieflein
erhalten. Da aber der Nazi, eine Kapazität auf
dem Gebiete der Dummheit, nicht leſen kann, ruft
er ſeinen Mitknecht Florian herbei. „Du, Flori,“
beginnt er geheimnisvoll, „mei Resl hat mir an
Briaf g’ſchrieb’n, möchſt mir’n net vorleſ’n?“ —
„Ja, warum net,“ bemerkt ganz trocken der Flori.
— „Du muaßt Dir aber d’ Ohr’n zuabind’n
laſſ’n“, meint der Nazi. — „Selbſtverſtändli“,
replizierte der Andere. Und der Flori beginnt zu
leſen. Andächtig lauſcht der Nazi. Als der Brief
zu Ende geleſen war, fragte der Nazi: „Haſt eppa
was vaſtand’n? — „Net a Wörtl!“ entgegnet
mit der aufrichtigſten Miene Florian.

(Ein origineller Stoßſeufzer.)

Im
„Helvetia-Bazar“ in Rorſchach wurde nachſtehendes
originelle Schriftſtück gefunden: Mia Clara! Warum
bis nig komme su die rantewu? Abe dich ge-
wartet auf die Banof, gomme heut aben an die
Bazar von die helvezia; ick gaufen hier eine
fiertelpfund maroni ganz heiss. 1000 gus Peppi.
— NB. ferges nüt bortenome, bin ganz auf dem
und.
— Dieſes italientſche Deutſch wird doch Klara
erhört haben, und mit „bortenome“ gekommen ſein
su Peppi!

(„Wer das nicht glaubt ...“)

In der
„Frankf. Ztg.“ erzählt ein Leſer eine hübſche Ge-
ſchichte, die in den 30er Jahren des vorigen Jahr-
hunderts an einem rheiniſchen Gymnaſium paſſiert
iſt. Sie erzählt von einem Profeſſor der Theologie,
der bei ſeinem Vortrag zwar das „Fortiter in re“,
doch auch das „Suaviter in modo“ beobachtete,
und der, wenn er heute noch lebte, wegen der
letzteren Eigenſchaft wohl ſchleunigſt ſeinen Lehr-
ſtuhl räumen müßte. Der Fall iſt folgender: Nach-
dem die Schüler der Prima des Gymnaſiums von
8—9 Uhr vormittags in der Phyſik-Stunde den
Vortrag des Profeſſors über Galilei und deſſen
bekanntes „Und ſie bewegt ſich doch!“ gehört hatten,
folgte von 9—10 Uhr, von demſelben Profeſſor
erteilt, die Religionsſtunde, in welcher das Buch
Joſua den Gegenſtand des Unterrichts bildete. Bei
dem 100. Kapitel, Vers 13, wo es heißt: „Da ſtand
die Sonne und der Mond ſtille, bis daß ſich das
Volk an ſeinen Feinden rächete“ u. ſ. w. bemerkte
der Profeſſor zum Schluſſe: „Und wer das nicht
glaubt, kann nicht ſelig werden.“ Hierauf die ganze
Klaſſe einſtimmig: „Oh Herr Profeſſor! Oh Herr
Profeſſor!“ Der Profeſſor aber zuckte die Achſeln
und ſagte: „Kann nicht helfen, wer das nicht glaubt,
kann nicht ſelig werden.“




Die Kunſt im Marburger Schwur-
gerichtsſaal.

Geſtern wurde der Schwurgerichtsſaal im
neuen Kreisgerichtsgebäude ſeiner Beſtimmung über-
geben, die erſte Verhandlung fand geſtern in ſeinem
Raume ſtatt. Nunmehr iſt das ganze Bauwerk nach
Innen und nach Außen vollendet und mit Genug-
tuung ſei es feſtgeſtellt, daß man einer Stätte, die
[Spaltenumbruch] dem tiefſten Ernſte der Eutſcheidung über die Frei-
heit, über Leben und Tod der Mitmenſchen gewidmet
wurde, die milden Strahlen der Kunſt teilhaftig
werden ließ, allegoriſcher Kunſt, die das menſchliche
Gemüt durch ihren Zauber hinüberführt zur Ver-
ſöhnung mit dem notwendig Harten und Strengen.
Es iſt der Schwurgerichtsſaal, bei deſſen Ausge-
ſtaltung auch die Kunſt zu Rate gezogen wurde,
deren Lichter und Farbentöne dem Raume das
brutal Ernſte und Empfindungsloſe nehmen ſollen.
Die Architektur des Schwurgerichtsſaales läßt an
der ſüdlichen Schmalſeite, ober dem Richtertiſche ein
3 × 4 m großes, von einfachem Rahmwerk um-
ſchloſſenes Feld offen, welches zur Aufnahme eines
Bildes beſtimmt wurde. Herr Anton Novak, ein
gebürtiger Marburger, erhielt den Auftrag, dieſe
Wandmalerei zu ſchaffen, und damit übernahm er
eine Aufgabe, die mit viel Kunſtſinn und Geſchick
gelöſt werden mußte. Galt es doch, das Bild als
Farbenſchöpfung mit der in moderner Richtung
gehaltenen Saalarchitektur in Uebereinſtimmung zu
bringen, die auf Flächenwirkung berechnete zarte
Plaſtik der Saalwände mit der Wirkung der Farben
in Einklang zu bringen. Novak hat die Aufgabe
mit viel Geſchick und feinem Verſtändniſſe gelöſt.
Klar und richtig treten uns die Figuren entgegen,
jede für ſich in abgeſchloſſener Farbenwirkung und
wo zu ausgeprägte Plaſtik in der Darſtellung ver-
mieden werden muß, iſt die Wirkung durch gute
Gruppierung und feinempfundene Wahl der Farbe
erreicht. So baut ſich die ganze Handlung lebendig
und ausdrucksvoll vor dem Beſchauer auf, ein
Stück für ſich und doch wieder nur ein Teil des
Ganzen, ein Teil der Wand. Ein glücklicher Griff
iſt die Wahl des Stoffes, den Novak ſeinem Bilde
zugrunde legt, und daß er ein Kind ſeiner Zeit in
der Darſtellung iſt, verrät er auch im Grund-
gedanken ſeiner Schöpfung. Entſprechend unſerem
Zeitalter humaner Tendenzen greift er jenen Augen-
blick aus dem ſtrengen Walten der Juſtiz heraus,
in welchem der Anwalt des Beſchuldigten an die
Gefühle appelliert und zur Milderung des Urteil-
ſpruches der menſchlichen Schwächen gedenkt und
auf die unglückliche Frau des Beſchuldigten mit dem
ſtarr in die fremde Szene blickenden Kinde hinweiſt.
Hier iſt die ſtumme Bitte einer Gattin und Mutter
um Erbarmen für die unſchuldig Mitleidenden, auf
der anderen Seite des Vordergrundes die allein-
ſtehende Figur des Staatsanwaltes und zwiſchen
beiden in halbliegender Stellung die gebrochene
Geſtalt des Verbrechers, ergreifend lebenswahr ge-
malt. Während ſich ſo im Vordergrunde eine wirk-
lich dramatiſche Handlung abſpielt, ſitzt im Hinter-
grunde die Geſtalt der Juſtitia, umgeben von ihren
Haupttugenden, der Gelehrſamkeit, der Wahrheit,
der Milde und der Stärke. Das Geſetzbuch, das
Schwert und der klare Spiegel des Rechtes werden
von den allegoriſchen Figuren der Szene entgegen-
gehalten. Zur dewegten Gruppe des Vordergrundes
bildet der Hintergrund einer eigenartigen Gegen-
ſatz. Jede der ſinnbildlichen Figuren erſcheint mit
ruhigem Ernſt gleichſam als Wächter der Grund-
züge einer gerechten Rechtſprechung, während in
ihrer Mitte Juſtitia thront, erhaben und unnahbar
mit dem ungebrochenen Stab in den Händen, denn
noch iſt das Urteil nicht gefällt, Novak, der bisher
zumeiſt in Landſchaften und Porträts tätig war,
hat mit dieſem Bilde in ſeiner Vaterſtadt einen
anderen Pfad eingeſchlagen und mag man auch dies
oder jenes an dem Bilde verbeſſerungsfähig finden,
das kann behauptet werden, daß hier ehrliches
Wollen und gutes Können zu einem ſchönen Er-
gebnis geführt haben. Möge der Künſtler unab-
läſſig auf der Bahn des künſtleriſchen Strebens
und künſtleriſcher Erkenntnis fortſchreiten, ſich und
ſeiner Vaterſtadt Marburg zur Ehre.




Aus dem Gerichtsſaale.

Du ſollſt Vater und Mutter ehren ...

Mit einem traurigen Falle wurde die dies-
malige Schwurgerichtsperiode begonnen. Ein Mann
ſtand vor den Geſchworenen unter der furchtbaren
Anklage des Verbrechens des Totſchlages, be-
gangen an ſeiner eigenen Mutter! Unweit von
ihm ſitzt auf der Zeugenbank ſein Bruder, welcher
ebenfalls die Mutter ſchwer mißhandelt hat. Heute
ſitzt er noch auf der Zeugenbank und nach kurzer
Friſt wird auch er auf der Anklagebank ſitzen, um
ſich vor dem Erkenntnisgericht wegen ſeiner Schuld
zu verantworten.

Vor dem Gerichtshofe, dem der Kreisgerichts-
[Spaltenumbruch] präſident Hofrat Greistorfer präſidiert, ſteht
unter der Anklage des Verbrechens des Totſchlages,
begangen an ſeiner leiblichen Mutter, der 30jährige
katholiſche und ledige Taglöhner Joſef Bračko
aus Kanaberg. Joſef Bračko erfreut ſich bereits
einer vielſagenden Strafkarte. Er wurde bereits vor-
beſtraft einmal wegen des Verbrechens der ſchweren
körperlichen Beſchädigung, zweimal wegen Diebſtahl
und je einmal ob Uebertretung der §§ 312 und
314 St.-G. und § 36 W.-P.

Die Anklage legt ihm folgendes zur Laſt:
Die Grundbeſitzer Thaddäus und Marie Bračko
in Kanadorf übergaben im Jahre 1898 ihre Rea-
lität ihrem älteſten Sohne Matthäus Bračko. Sie
bedangen ſich einen Auszug aus und lebten deshalb
mit ihrem jüngeren Sohne Joſef Bračko auf dieſer
Beſitzung. Bald entſpannen ſich wegen Leiſtung des
Auszuges Streitigkeiten. Am Abend des 11. Auguſt
l. J. kam die Mutter Maria Bračko etwas ange-
heitert nach Hauſe und verlangte von ihrem Sohne
Matthäus die Bezahlung von 14 Kronen zum An-
kaufe von Kleidern, die ihr nach dem Uebergabs-
vertrage gebürten. Im Verlaufe des Streites legte
ſich die alte Maria Bračko ins Bett und ſetzte auch
hier ihre Forderung fort, worüber ihr Sohn
Matthäus Bračko ſo erzürnt wurde, daß er zu
ihrem Bette eilte und ſich auf ſie kniete; weitere
Angriffe wurden dadurch verhindert, daß ihn ſein
eigenes Weib Maria Bračko wegzog und ins Freie
brachte. Matthäus Bračko drohte hiebei zwar, daß
er einen Krampen holen und alle niederſchlagen
werde, er ließ es aber dabei bewenden und kam
mit ſeiner Mutter nicht mehr in Berührung. Im
Zimmer waren nunmehr nur die alte Maria Bračko
und ihr Sohn Joſef Bračko zurückgeblieben, der
bei einem Tiſche ſaß. Der Streit wurde nun zwiſchen
dieſen beiden fortgeſetzt.

Da die Mutter dem Sohne Joſef deshalb
Vorwürfe machte, weil er ſeit Jahren mit einem
Weibsbild ein Verhältnis hat, welchem bereits zwei
uneheliche Kinder entſprungen ſind, wurde nun
dieſer gegen die eigene Mutter gewaltthätig. Er
erzählt, daß die Mutter aus dem Bett gefallen ſei,
daß er ſie aufgehoben und in die Mitte des Zimmers
gezogen habe, daß ſie jedoch hiebei in die Kniee
geſunken ſei und ihn wieder beſchimpft habe, weshalb
er ihr mit der flachen Hand drei Schläge über
den Kopf gehauen habe, infolge deren ſie zu Boden
fiel, worauf er ihr noch mit der Hand zwei Hiebe
auf den Rücken gab und ſie ins Vorhaus ſchleifte,
um ſie zu ihrem Gatten in den Stall zu ſchaffen,
was er aber nicht habe durchführen können, da ſie
ſelbſt aufſtand und in ihr Bett ins Wohnzimmer
ſich verfügte und daſelbſt einſchlief. Aus dieſem
Schlafe iſt jedoch die arme mißhandelte alte Mutter
nicht mehr erwacht.

Sie hauchte am 13. Auguſt l. J. nachmittags
ihren Geiſt aus, ohne das Bewußtſein wieder er-
langt zu haben. Die Obduktion ergab, daß Maria
Bračko an einer Blutung unter der harten Hirnhaut
geſtorben ſei.

Von Bedeutung iſt eine Beobachtung, die
Matthäus Bračko machte. Er ſah nämlich, wie
Joſef Bračko gegen ſeine Mutter mit dem beſchuhten
Fuße ſtieß und hörte, wie Joſef Bračko ſeiner
Mutter zurief: „Prokleta kuga, proč da bom
imel kje hoditi, prekleta mrcina proč.“

Da die Mutter darauf entgegnete: „Pusti
me, ne brcni me, jaz bom že šla“
iſt es zweifel-
los, daß er ſie auch getroffen habe.

Entſcheidend war für die Beurteilung der
Tathandlung des Joſef Bračko das Gutachten der
Gerichtsärzte Dr. Leonhard und Dr. Berg-
mann,
welche den Tod der Marie Bračko direkt
auf die vom Joſef Bračko ſeiner Mutter auf den
Kopf verſetzten Fauſtſchläge zurückführten, während
die Radkersburger Sachverſtändigen nach der Durch-
führung der Obduktion als Todesurſache eine Ver-
kalkung der Gehirnmaſſe anſahen. Joſef Bračko
ſelbſt, der wie auch die Zeugen, nur ſloveniſch
ſpricht, leugnete anfänglich überhaupt, die Mutter
mit Fauſtſchlägen traktiert zu haben; er wollte ihr
nur Schläge mit der flachen Hand gegeben haben.
Später gab er zu, ſie auch mit der Fauſt geſchlagen
zu haben, jedoch nur auf den Rücken. Der öffent-
liche Ankläger, Staatsanwalt Dr. Nemanitſch,
leitete ſeine Anklage ein mit den Worten des
vierten Gebotes: „Du ſollſt Vater und Mutter
ehren.“ Nicht durch die Religion wurde dieſes Ge-
bot gegründet, es iſt der Menſchheit in Fleiſch und
Blut eingeſetzt ſchon durch die Natur. Dr. Nema-
nitſch wies auf das von der Mutterliebe handelnde
Kapitel in Hamerlings „Ahasver in Rom“ hin

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[3/0003] Nr. 138, 18. November 1902 Marburger Zeitung. ſeines Zeichens, vom Trottoir der Rue Royale auf einen der Hofwagen, in welchem er den König ver- mutete, zwei Revolverkugeln ab, doch der König hatte in einem anderen Wagen Platz genommen, und dieſem glücklichen Zufalle dankt er ſeine Rettung. Der Attentäter wurde verhaftet und hat geſtanden, daß er von London nach Brüſſel mit dem Vorſatze gekommen iſt, den König zu tödten; er bekennt ſich als Anarchiſt. Wie eine Zauberformel wirkte dieſes Attentat auf das Volk; das private Leben des Königs — wir erinnern nur an ſein Verhalten gegenüber der Prinzeſſin Stephanie, als ſie zur Leiche ihrer Mutter, König Leopolds Gattin, trat — iſt nicht geeignet, ihm große Sympathien zu erwecken. Aber als verfaſſungsmäßiger Herrſcher erwies er ſich auch konſtitutionell, und als die Schreckenskunde vom Attentate durch Brüſſel eilte, durchbrauſte die Reſidenz viel tauſendſtimmig der lange nicht mehr gehörte Ruf: „Es lebe der König!“ — Der Ausſtand der Bergarbeiter in Frank- reich iſt im allgemeinen beendigt, da faſt auf allen Punkten des Streikgebietes die Arbeit von den Ausſtändigen wieder aufgenommen worden iſt. Tagesneuigkeiten. (Ein windiſcher Künſtler als Dieb.) Der Maler Grohow, der Kaſſier des ſloveniſchen Künſtlervereines „Akademie“ in Laibach hat das ganze Vereinsvermögen defraudiert und iſt geflüchtet. (Schlau). Nach einer wirklichen Begebenheit. Der Girgelbauern-Nazi hat heute von ſeiner Dulcinea, einer drallen Bauerndirne, ein Brieflein erhalten. Da aber der Nazi, eine Kapazität auf dem Gebiete der Dummheit, nicht leſen kann, ruft er ſeinen Mitknecht Florian herbei. „Du, Flori,“ beginnt er geheimnisvoll, „mei Resl hat mir an Briaf g’ſchrieb’n, möchſt mir’n net vorleſ’n?“ — „Ja, warum net,“ bemerkt ganz trocken der Flori. — „Du muaßt Dir aber d’ Ohr’n zuabind’n laſſ’n“, meint der Nazi. — „Selbſtverſtändli“, replizierte der Andere. Und der Flori beginnt zu leſen. Andächtig lauſcht der Nazi. Als der Brief zu Ende geleſen war, fragte der Nazi: „Haſt eppa was vaſtand’n? — „Net a Wörtl!“ entgegnet mit der aufrichtigſten Miene Florian. (Ein origineller Stoßſeufzer.) Im „Helvetia-Bazar“ in Rorſchach wurde nachſtehendes originelle Schriftſtück gefunden: Mia Clara! Warum bis nig komme su die rantewu? Abe dich ge- wartet auf die Banof, gomme heut aben an die Bazar von die helvezia; ick gaufen hier eine fiertelpfund maroni ganz heiss. 1000 gus Peppi. — NB. ferges nüt bortenome, bin ganz auf dem und. — Dieſes italientſche Deutſch wird doch Klara erhört haben, und mit „bortenome“ gekommen ſein su Peppi! („Wer das nicht glaubt ...“) In der „Frankf. Ztg.“ erzählt ein Leſer eine hübſche Ge- ſchichte, die in den 30er Jahren des vorigen Jahr- hunderts an einem rheiniſchen Gymnaſium paſſiert iſt. Sie erzählt von einem Profeſſor der Theologie, der bei ſeinem Vortrag zwar das „Fortiter in re“, doch auch das „Suaviter in modo“ beobachtete, und der, wenn er heute noch lebte, wegen der letzteren Eigenſchaft wohl ſchleunigſt ſeinen Lehr- ſtuhl räumen müßte. Der Fall iſt folgender: Nach- dem die Schüler der Prima des Gymnaſiums von 8—9 Uhr vormittags in der Phyſik-Stunde den Vortrag des Profeſſors über Galilei und deſſen bekanntes „Und ſie bewegt ſich doch!“ gehört hatten, folgte von 9—10 Uhr, von demſelben Profeſſor erteilt, die Religionsſtunde, in welcher das Buch Joſua den Gegenſtand des Unterrichts bildete. Bei dem 100. Kapitel, Vers 13, wo es heißt: „Da ſtand die Sonne und der Mond ſtille, bis daß ſich das Volk an ſeinen Feinden rächete“ u. ſ. w. bemerkte der Profeſſor zum Schluſſe: „Und wer das nicht glaubt, kann nicht ſelig werden.“ Hierauf die ganze Klaſſe einſtimmig: „Oh Herr Profeſſor! Oh Herr Profeſſor!“ Der Profeſſor aber zuckte die Achſeln und ſagte: „Kann nicht helfen, wer das nicht glaubt, kann nicht ſelig werden.“ Die Kunſt im Marburger Schwur- gerichtsſaal. Geſtern wurde der Schwurgerichtsſaal im neuen Kreisgerichtsgebäude ſeiner Beſtimmung über- geben, die erſte Verhandlung fand geſtern in ſeinem Raume ſtatt. Nunmehr iſt das ganze Bauwerk nach Innen und nach Außen vollendet und mit Genug- tuung ſei es feſtgeſtellt, daß man einer Stätte, die dem tiefſten Ernſte der Eutſcheidung über die Frei- heit, über Leben und Tod der Mitmenſchen gewidmet wurde, die milden Strahlen der Kunſt teilhaftig werden ließ, allegoriſcher Kunſt, die das menſchliche Gemüt durch ihren Zauber hinüberführt zur Ver- ſöhnung mit dem notwendig Harten und Strengen. Es iſt der Schwurgerichtsſaal, bei deſſen Ausge- ſtaltung auch die Kunſt zu Rate gezogen wurde, deren Lichter und Farbentöne dem Raume das brutal Ernſte und Empfindungsloſe nehmen ſollen. Die Architektur des Schwurgerichtsſaales läßt an der ſüdlichen Schmalſeite, ober dem Richtertiſche ein 3 × 4 m großes, von einfachem Rahmwerk um- ſchloſſenes Feld offen, welches zur Aufnahme eines Bildes beſtimmt wurde. Herr Anton Novak, ein gebürtiger Marburger, erhielt den Auftrag, dieſe Wandmalerei zu ſchaffen, und damit übernahm er eine Aufgabe, die mit viel Kunſtſinn und Geſchick gelöſt werden mußte. Galt es doch, das Bild als Farbenſchöpfung mit der in moderner Richtung gehaltenen Saalarchitektur in Uebereinſtimmung zu bringen, die auf Flächenwirkung berechnete zarte Plaſtik der Saalwände mit der Wirkung der Farben in Einklang zu bringen. Novak hat die Aufgabe mit viel Geſchick und feinem Verſtändniſſe gelöſt. Klar und richtig treten uns die Figuren entgegen, jede für ſich in abgeſchloſſener Farbenwirkung und wo zu ausgeprägte Plaſtik in der Darſtellung ver- mieden werden muß, iſt die Wirkung durch gute Gruppierung und feinempfundene Wahl der Farbe erreicht. So baut ſich die ganze Handlung lebendig und ausdrucksvoll vor dem Beſchauer auf, ein Stück für ſich und doch wieder nur ein Teil des Ganzen, ein Teil der Wand. Ein glücklicher Griff iſt die Wahl des Stoffes, den Novak ſeinem Bilde zugrunde legt, und daß er ein Kind ſeiner Zeit in der Darſtellung iſt, verrät er auch im Grund- gedanken ſeiner Schöpfung. Entſprechend unſerem Zeitalter humaner Tendenzen greift er jenen Augen- blick aus dem ſtrengen Walten der Juſtiz heraus, in welchem der Anwalt des Beſchuldigten an die Gefühle appelliert und zur Milderung des Urteil- ſpruches der menſchlichen Schwächen gedenkt und auf die unglückliche Frau des Beſchuldigten mit dem ſtarr in die fremde Szene blickenden Kinde hinweiſt. Hier iſt die ſtumme Bitte einer Gattin und Mutter um Erbarmen für die unſchuldig Mitleidenden, auf der anderen Seite des Vordergrundes die allein- ſtehende Figur des Staatsanwaltes und zwiſchen beiden in halbliegender Stellung die gebrochene Geſtalt des Verbrechers, ergreifend lebenswahr ge- malt. Während ſich ſo im Vordergrunde eine wirk- lich dramatiſche Handlung abſpielt, ſitzt im Hinter- grunde die Geſtalt der Juſtitia, umgeben von ihren Haupttugenden, der Gelehrſamkeit, der Wahrheit, der Milde und der Stärke. Das Geſetzbuch, das Schwert und der klare Spiegel des Rechtes werden von den allegoriſchen Figuren der Szene entgegen- gehalten. Zur dewegten Gruppe des Vordergrundes bildet der Hintergrund einer eigenartigen Gegen- ſatz. Jede der ſinnbildlichen Figuren erſcheint mit ruhigem Ernſt gleichſam als Wächter der Grund- züge einer gerechten Rechtſprechung, während in ihrer Mitte Juſtitia thront, erhaben und unnahbar mit dem ungebrochenen Stab in den Händen, denn noch iſt das Urteil nicht gefällt, Novak, der bisher zumeiſt in Landſchaften und Porträts tätig war, hat mit dieſem Bilde in ſeiner Vaterſtadt einen anderen Pfad eingeſchlagen und mag man auch dies oder jenes an dem Bilde verbeſſerungsfähig finden, das kann behauptet werden, daß hier ehrliches Wollen und gutes Können zu einem ſchönen Er- gebnis geführt haben. Möge der Künſtler unab- läſſig auf der Bahn des künſtleriſchen Strebens und künſtleriſcher Erkenntnis fortſchreiten, ſich und ſeiner Vaterſtadt Marburg zur Ehre. Aus dem Gerichtsſaale. Marburg, 17. November 1902. Du ſollſt Vater und Mutter ehren ... Mit einem traurigen Falle wurde die dies- malige Schwurgerichtsperiode begonnen. Ein Mann ſtand vor den Geſchworenen unter der furchtbaren Anklage des Verbrechens des Totſchlages, be- gangen an ſeiner eigenen Mutter! Unweit von ihm ſitzt auf der Zeugenbank ſein Bruder, welcher ebenfalls die Mutter ſchwer mißhandelt hat. Heute ſitzt er noch auf der Zeugenbank und nach kurzer Friſt wird auch er auf der Anklagebank ſitzen, um ſich vor dem Erkenntnisgericht wegen ſeiner Schuld zu verantworten. Vor dem Gerichtshofe, dem der Kreisgerichts- präſident Hofrat Greistorfer präſidiert, ſteht unter der Anklage des Verbrechens des Totſchlages, begangen an ſeiner leiblichen Mutter, der 30jährige katholiſche und ledige Taglöhner Joſef Bračko aus Kanaberg. Joſef Bračko erfreut ſich bereits einer vielſagenden Strafkarte. Er wurde bereits vor- beſtraft einmal wegen des Verbrechens der ſchweren körperlichen Beſchädigung, zweimal wegen Diebſtahl und je einmal ob Uebertretung der §§ 312 und 314 St.-G. und § 36 W.-P. Die Anklage legt ihm folgendes zur Laſt: Die Grundbeſitzer Thaddäus und Marie Bračko in Kanadorf übergaben im Jahre 1898 ihre Rea- lität ihrem älteſten Sohne Matthäus Bračko. Sie bedangen ſich einen Auszug aus und lebten deshalb mit ihrem jüngeren Sohne Joſef Bračko auf dieſer Beſitzung. Bald entſpannen ſich wegen Leiſtung des Auszuges Streitigkeiten. Am Abend des 11. Auguſt l. J. kam die Mutter Maria Bračko etwas ange- heitert nach Hauſe und verlangte von ihrem Sohne Matthäus die Bezahlung von 14 Kronen zum An- kaufe von Kleidern, die ihr nach dem Uebergabs- vertrage gebürten. Im Verlaufe des Streites legte ſich die alte Maria Bračko ins Bett und ſetzte auch hier ihre Forderung fort, worüber ihr Sohn Matthäus Bračko ſo erzürnt wurde, daß er zu ihrem Bette eilte und ſich auf ſie kniete; weitere Angriffe wurden dadurch verhindert, daß ihn ſein eigenes Weib Maria Bračko wegzog und ins Freie brachte. Matthäus Bračko drohte hiebei zwar, daß er einen Krampen holen und alle niederſchlagen werde, er ließ es aber dabei bewenden und kam mit ſeiner Mutter nicht mehr in Berührung. Im Zimmer waren nunmehr nur die alte Maria Bračko und ihr Sohn Joſef Bračko zurückgeblieben, der bei einem Tiſche ſaß. Der Streit wurde nun zwiſchen dieſen beiden fortgeſetzt. Da die Mutter dem Sohne Joſef deshalb Vorwürfe machte, weil er ſeit Jahren mit einem Weibsbild ein Verhältnis hat, welchem bereits zwei uneheliche Kinder entſprungen ſind, wurde nun dieſer gegen die eigene Mutter gewaltthätig. Er erzählt, daß die Mutter aus dem Bett gefallen ſei, daß er ſie aufgehoben und in die Mitte des Zimmers gezogen habe, daß ſie jedoch hiebei in die Kniee geſunken ſei und ihn wieder beſchimpft habe, weshalb er ihr mit der flachen Hand drei Schläge über den Kopf gehauen habe, infolge deren ſie zu Boden fiel, worauf er ihr noch mit der Hand zwei Hiebe auf den Rücken gab und ſie ins Vorhaus ſchleifte, um ſie zu ihrem Gatten in den Stall zu ſchaffen, was er aber nicht habe durchführen können, da ſie ſelbſt aufſtand und in ihr Bett ins Wohnzimmer ſich verfügte und daſelbſt einſchlief. Aus dieſem Schlafe iſt jedoch die arme mißhandelte alte Mutter nicht mehr erwacht. Sie hauchte am 13. Auguſt l. J. nachmittags ihren Geiſt aus, ohne das Bewußtſein wieder er- langt zu haben. Die Obduktion ergab, daß Maria Bračko an einer Blutung unter der harten Hirnhaut geſtorben ſei. Von Bedeutung iſt eine Beobachtung, die Matthäus Bračko machte. Er ſah nämlich, wie Joſef Bračko gegen ſeine Mutter mit dem beſchuhten Fuße ſtieß und hörte, wie Joſef Bračko ſeiner Mutter zurief: „Prokleta kuga, proč da bom imel kje hoditi, prekleta mrcina proč.“ Da die Mutter darauf entgegnete: „Pusti me, ne brcni me, jaz bom že šla“ iſt es zweifel- los, daß er ſie auch getroffen habe. Entſcheidend war für die Beurteilung der Tathandlung des Joſef Bračko das Gutachten der Gerichtsärzte Dr. Leonhard und Dr. Berg- mann, welche den Tod der Marie Bračko direkt auf die vom Joſef Bračko ſeiner Mutter auf den Kopf verſetzten Fauſtſchläge zurückführten, während die Radkersburger Sachverſtändigen nach der Durch- führung der Obduktion als Todesurſache eine Ver- kalkung der Gehirnmaſſe anſahen. Joſef Bračko ſelbſt, der wie auch die Zeugen, nur ſloveniſch ſpricht, leugnete anfänglich überhaupt, die Mutter mit Fauſtſchlägen traktiert zu haben; er wollte ihr nur Schläge mit der flachen Hand gegeben haben. Später gab er zu, ſie auch mit der Fauſt geſchlagen zu haben, jedoch nur auf den Rücken. Der öffent- liche Ankläger, Staatsanwalt Dr. Nemanitſch, leitete ſeine Anklage ein mit den Worten des vierten Gebotes: „Du ſollſt Vater und Mutter ehren.“ Nicht durch die Religion wurde dieſes Ge- bot gegründet, es iſt der Menſchheit in Fleiſch und Blut eingeſetzt ſchon durch die Natur. Dr. Nema- nitſch wies auf das von der Mutterliebe handelnde Kapitel in Hamerlings „Ahasver in Rom“ hin

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Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 138, Marburg, 18.11.1902, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger138_1902/3>, abgerufen am 27.11.2024.