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Mainzer Journal. Nr. 249. Mainz, 19. Oktober 1849.

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Mainzer Journal.


Nro 249. Freitag, den 19. October. 1849.


[Beginn Spaltensatz]
Aus den Papieren eines im Jahre 1837 ver-
storbenen Staatsmannes 1).

Unsere Zeit ist leider mehr zum Zweifeln als zum Glauben
aufgelegt, eben daher mehr geeigenschaftet zum Einreißen als zum
Aufbauen. Wirklich ist auch im Raume weniger Jahre viel ein-
gerissen und aller Wechsel gar geläufig worden; die Achtung für
das Bestehende aber, die Ehrfurcht und heilige Scheu für Das,
was in Jahrhunderten sich gebildet und Jahrhunderte bestanden,
sind gewichen! Einseitige Ausbildung, nämlich die des Verstan-
des, verlockte zu Uebermuth; Verwöhnung an gewaltige Bewe-
gung, an ungeheuere Ereignisse machte ungeschickt zu allmäliger
gediegener Entwickelung. Die Stubengelehrten, also diejenigen,
welche durch Bildung und Beruf am vollständigsten vom Leben
getrennt sind, haben sich durch die Geläufigkeit ihrer Federn und
die Bereitwilligkeit der Pressen des Wortes bemächtigt, sogar in
der Politik, also in der Angelegenheit, welche gerade am engsten
mit dem Leben, mit dem Leben von Gesammtheiten, verwachsen
ist. Wenige belehren und klären auf, die weit größere Mehrzahl
beschwatzt und verwirrt. Schon der oft rohe, und öfter noch ganz
unverständige Ton im Vortrage zeugt von Arroganz in der Be-
schränktheit, von gemüthlichem Ungeschicke zur Würdigung des
verwickeltsten, vielseitigsten aller Gegenstände.

Wir haben es auch in Deutschland erfahren, was die Ver-
pflanzung von Kathedern in den Geheimen Rath der Fürsten den
Staaten und Völkern bedeute. Der Monarch in seinem einsamen
Studierzimmer, der Beherrscher von Papierbogen, Federposen und
Pappendeckeln, der vor der stummen Versammlung in seinem
Hörsaale allein und ohne Widerspruch redende Professor, taugt
nicht für den unendlich mannigfaltigen Verkehr, für das bunte,
jeden Augenblick neue Leben im Staate. Alles behandelt er, wie
seine bisherige todte Umgebung, höchstens wie Studenten! Für
Austausch und Ausgleichung der Meinungen und Ansichten, für
collegialische Verbindung, für billige Rücksicht auf die Tempera-
mente Anderer und deren Eigenschaften, oder auf das Vorhan-
dene, Gegebene
in dem besonderen Staate und beson-
deren
Augenblick, hat er weder Sinn und Geschick, noch Scho-
nung und Achtung -- ein eigensichtiger, rechthaberischer, pedanti-
scher Despot ist er und hält sich selbstgefällig für ein großes Licht
und nolens volens für einen Wohlthäter der Menschheit.

Setzte man ein Concilium von den Männern zusammen, die
in Büchelchen und Zeitschriften laut und anmaßlich genug verkün-
den: "Wie es seyn sollte" und trüge ihnen auf, gemeinschaftlich
zu berathen, wie uns ein Deutschland erbaut, oder wie einzelnen
deutschen Staaten eine Landesverfassung zu bereiten sey? nach
"den Bedürfnissen der Zeit," oder modischer ausgedrückt: "nach
dem Geiste der Zeit," so träte ein Jeglicher von ihnen in den Ver-
sammlungssaal selbstgefällig, zuversichtlich, mit einem breiten,
wohlverfaßten Hefte in der Tasche, er verließe ihn demnächst
grollend, betreten und mit Condolenz: daß Deutschland in diesem
wichtigen Augenblicke nur einen einsichtsvollen Mann zähle,
nämlich ihn! Es wäre ein Lustspiel, die Herren N. N. und N. N.
und N. N um die Tafel zur Berathung des Staatenwohles
sitzen zu sehen, wenn es nicht auch eine tragische Seite hätte.
Schon jetzt statuirt Keiner den Anderen, aber sich selbst sieht ein
Jeder für den wahrer Vertreter der öffentlichen Meinung, für
den Herold des Zeitgeistes an. Jeder von ihnen und Alle zu-
sammen haben wirklich auch ein Publicum in unserer lesesüchtigen
skeptischen Zeit. Jn der That und Wahrheit ist aber weder der
Welt noch Deutschland mit den einsamen Theorien gedient, von
Einzelnen willkührlich hingestellt, nicht aus dem Gesammtleben
hervorquellend, daher auf dem Wege unreifer Leserei ins Leben
hinein von schädlicher verwirrender Einwirkung.

[Spaltenumbruch]

Wir haben Schöpfungen des Augenblickes entstehen sehen und
vergehen, wir haben erfahren, wie es mit der papiernen Völker-
beglückung, mit der anmaßlichen Anwendung von Gemeinplätzen
und von angeblich reinen Vernunftsätzen bewandt sey. Der Faden
der Geschichte wird frech zerhauen, alles Bisherige heißt veraltet,
verrottet, die Arroganz ergreift den Griffel, der Uebermuth wohl
gar das Schwert und zeichnet Striche durchs bunte Leben oder
mähet sich Bahnen, keck vermeinend, Arme und Beine und Köpfe
und das Herzblut und alle Glückseligkeit ganzer Generationen
seyen ein zu großes Opfer nicht für Das, was der Einzelnen arges
krankes Hirn gebrütet und im Wahne für die Basis hält, auf
welcher einer zukünftigen Zukunft eine himmlische Seligkeit schon
auf Erden zu erbauen!

Es gibt keinen allgemeinen Leisten für Völkerglück! Verfas-
sungen müssen entstehen in der Zeit und mit der Zeit und sich le-
bendig erweisen in beständiger Fortbildung und Ausbildung, wie
sich der Einzelne, der Wohlgesinnte, fortbildet, während das be-
wegte Leben um ihn ohne Unterlaß zur immer wieder neuen Auf-
gabe und Schule für ihn wird. Die selbstbestallten Herolde des
Zeitgeistes aber, mit sich selbst fix und fertig, sind es auch mit der
Welt, wissen Alles, was da ist, und was da seyn soll und
seyn wird, und schneiden zuversichtlich das politische Kleid zu,
was da passen soll und wird für jetzt und immerdar! Prüfet
euch, ihr Herolde, ob ihr den Glauben habet und die Liebe! Ha-
bet ihr sie nicht -- und ihr habet sie nicht -- so bessert zuerst euch
selbst, seyd demüthig vor Gott, habet hinfort keine Lust an Unlust,
wohl aber an friedlicher freudiger Entwickelung, wie sie aus der
anspruchslosen Thätigkeit wohlwollend reger Gemüther hervor-
geht: schmückend, beglückend, belebend, erhebend!

Gehen wir etwa rückwärts in Deutschland, ist gerechter Grund
da zur Ungeduld oder gar zur Verzweiflung? Eben erst ist der
Feind bezwungen, und er hinterließ uns ein zerrissenes verwirrtes
Deutschland, ja ein zerrissenes verwirrtes Europa! Große Schritte
sind geschehen zur neuen Gestaltung und ich sage zuversichtlich: es
ist Hoffnung da zur glücklichen Entwickelung! Soll Mißtrauen
verbreitet werden, damit die Saat keinen Boden findet zum Ge-
deihen? Eben weil man der Zukunft nicht übermüthig vorgreift,
eben weil jeder Schritt mit Ruhe und Besonnenheit geschieht, eben
darum dürfen wir hoffen und vertrauen.

Zwischen jetzt und dem Ende des deutschen Reiches liegen
Jahre und welche Jahre! Welche gänzliche Umgestaltung der
einzelnen deutschen Staaten nach Jnnen und nach Außen! Wollet
ihr ganz das Alte, wollet ihr ein ganz Neues? -- Weder das Eine
noch das Andere konnte werden! Ein einziges mächtiges Deutsch-
land -- nicht wahr? -- ein deutscher Kaiser, sonst deutsches Volk
und Vasallen? Auf dem Papiere immerhin, aber in der That und
Wahrheit? Soll Preußen sich Oesterreich, oder Oesterreich sich
Preußen in solchem Maße fügen? Soll Bayern selbst -- mit drei
Millionen Einwohnern -- nur als ein bloser Landstand, ein
mächtiger Vasall sich fühlen können? -- Das Unnatürliche, Un-
mögliche kann nicht beschlossen und vereinbart werden, noch we-
niger Bestand haben. Oder wolltet ihr euren Willen um jeden
Preis, also Tumult, Revolution, bis sich Alles umgestaltet und
auf den Trümmern das jetzt Unmögliche möglich werde? Ge-
denket Frankreichs! Nach Blut und Zerstörung würden auch wir
einen schlauen wilden Despoten an die Spitze werfen, und hätten
bis dahin die Mächte Europa's unserer Anarchie wirklich müßig
zugeschaut und nicht zur Eroberung und Zerstückelung Deutsch-
lands benutzt -- unser Napoleon würde sie anfallen und aufs
Aeußerste treiben, bis er und wir Frankreichs Schicksal erfahren.
Wir sind keine Franzosen. Gottlob nein; aber ehrenwerthe,
menschliche, gerechte Empörer würden auch wir nicht seyn, und
Demagogen würden auch bei uns seyn und gelten, denn wir ha-
ben deren und sie gelten! Der deutsche Marat und Robespierre
würden kein französischer Marat und Robespierre seyn, aber
Bluthunde wären sie auch und eingefleischte Teufel und ein Teufel
verdrängte und würfe den anderen und der Teufelei wäre weder
[Ende Spaltensatz]

1) Der Aufsatz ist jedenfalls zwischen 1817 und 1823 geschrieben
worden: näher kann die Zeit der Abfassung nicht bestimmt werden.
Den Scharfblick des verewigten Verfassers werden unsere Leser mit uns
bewundern.
Mainzer Journal.


Nro 249. Freitag, den 19. October. 1849.


[Beginn Spaltensatz]
Aus den Papieren eines im Jahre 1837 ver-
storbenen Staatsmannes 1).

Unsere Zeit ist leider mehr zum Zweifeln als zum Glauben
aufgelegt, eben daher mehr geeigenschaftet zum Einreißen als zum
Aufbauen. Wirklich ist auch im Raume weniger Jahre viel ein-
gerissen und aller Wechsel gar geläufig worden; die Achtung für
das Bestehende aber, die Ehrfurcht und heilige Scheu für Das,
was in Jahrhunderten sich gebildet und Jahrhunderte bestanden,
sind gewichen! Einseitige Ausbildung, nämlich die des Verstan-
des, verlockte zu Uebermuth; Verwöhnung an gewaltige Bewe-
gung, an ungeheuere Ereignisse machte ungeschickt zu allmäliger
gediegener Entwickelung. Die Stubengelehrten, also diejenigen,
welche durch Bildung und Beruf am vollständigsten vom Leben
getrennt sind, haben sich durch die Geläufigkeit ihrer Federn und
die Bereitwilligkeit der Pressen des Wortes bemächtigt, sogar in
der Politik, also in der Angelegenheit, welche gerade am engsten
mit dem Leben, mit dem Leben von Gesammtheiten, verwachsen
ist. Wenige belehren und klären auf, die weit größere Mehrzahl
beschwatzt und verwirrt. Schon der oft rohe, und öfter noch ganz
unverständige Ton im Vortrage zeugt von Arroganz in der Be-
schränktheit, von gemüthlichem Ungeschicke zur Würdigung des
verwickeltsten, vielseitigsten aller Gegenstände.

Wir haben es auch in Deutschland erfahren, was die Ver-
pflanzung von Kathedern in den Geheimen Rath der Fürsten den
Staaten und Völkern bedeute. Der Monarch in seinem einsamen
Studierzimmer, der Beherrscher von Papierbogen, Federposen und
Pappendeckeln, der vor der stummen Versammlung in seinem
Hörsaale allein und ohne Widerspruch redende Professor, taugt
nicht für den unendlich mannigfaltigen Verkehr, für das bunte,
jeden Augenblick neue Leben im Staate. Alles behandelt er, wie
seine bisherige todte Umgebung, höchstens wie Studenten! Für
Austausch und Ausgleichung der Meinungen und Ansichten, für
collegialische Verbindung, für billige Rücksicht auf die Tempera-
mente Anderer und deren Eigenschaften, oder auf das Vorhan-
dene, Gegebene
in dem besonderen Staate und beson-
deren
Augenblick, hat er weder Sinn und Geschick, noch Scho-
nung und Achtung — ein eigensichtiger, rechthaberischer, pedanti-
scher Despot ist er und hält sich selbstgefällig für ein großes Licht
und nolens volens für einen Wohlthäter der Menschheit.

Setzte man ein Concilium von den Männern zusammen, die
in Büchelchen und Zeitschriften laut und anmaßlich genug verkün-
den: „Wie es seyn sollte“ und trüge ihnen auf, gemeinschaftlich
zu berathen, wie uns ein Deutschland erbaut, oder wie einzelnen
deutschen Staaten eine Landesverfassung zu bereiten sey? nach
„den Bedürfnissen der Zeit,“ oder modischer ausgedrückt: „nach
dem Geiste der Zeit,“ so träte ein Jeglicher von ihnen in den Ver-
sammlungssaal selbstgefällig, zuversichtlich, mit einem breiten,
wohlverfaßten Hefte in der Tasche, er verließe ihn demnächst
grollend, betreten und mit Condolenz: daß Deutschland in diesem
wichtigen Augenblicke nur einen einsichtsvollen Mann zähle,
nämlich ihn! Es wäre ein Lustspiel, die Herren N. N. und N. N.
und N. N um die Tafel zur Berathung des Staatenwohles
sitzen zu sehen, wenn es nicht auch eine tragische Seite hätte.
Schon jetzt statuirt Keiner den Anderen, aber sich selbst sieht ein
Jeder für den wahrer Vertreter der öffentlichen Meinung, für
den Herold des Zeitgeistes an. Jeder von ihnen und Alle zu-
sammen haben wirklich auch ein Publicum in unserer lesesüchtigen
skeptischen Zeit. Jn der That und Wahrheit ist aber weder der
Welt noch Deutschland mit den einsamen Theorien gedient, von
Einzelnen willkührlich hingestellt, nicht aus dem Gesammtleben
hervorquellend, daher auf dem Wege unreifer Leserei ins Leben
hinein von schädlicher verwirrender Einwirkung.

[Spaltenumbruch]

Wir haben Schöpfungen des Augenblickes entstehen sehen und
vergehen, wir haben erfahren, wie es mit der papiernen Völker-
beglückung, mit der anmaßlichen Anwendung von Gemeinplätzen
und von angeblich reinen Vernunftsätzen bewandt sey. Der Faden
der Geschichte wird frech zerhauen, alles Bisherige heißt veraltet,
verrottet, die Arroganz ergreift den Griffel, der Uebermuth wohl
gar das Schwert und zeichnet Striche durchs bunte Leben oder
mähet sich Bahnen, keck vermeinend, Arme und Beine und Köpfe
und das Herzblut und alle Glückseligkeit ganzer Generationen
seyen ein zu großes Opfer nicht für Das, was der Einzelnen arges
krankes Hirn gebrütet und im Wahne für die Basis hält, auf
welcher einer zukünftigen Zukunft eine himmlische Seligkeit schon
auf Erden zu erbauen!

Es gibt keinen allgemeinen Leisten für Völkerglück! Verfas-
sungen müssen entstehen in der Zeit und mit der Zeit und sich le-
bendig erweisen in beständiger Fortbildung und Ausbildung, wie
sich der Einzelne, der Wohlgesinnte, fortbildet, während das be-
wegte Leben um ihn ohne Unterlaß zur immer wieder neuen Auf-
gabe und Schule für ihn wird. Die selbstbestallten Herolde des
Zeitgeistes aber, mit sich selbst fix und fertig, sind es auch mit der
Welt, wissen Alles, was da ist, und was da seyn soll und
seyn wird, und schneiden zuversichtlich das politische Kleid zu,
was da passen soll und wird für jetzt und immerdar! Prüfet
euch, ihr Herolde, ob ihr den Glauben habet und die Liebe! Ha-
bet ihr sie nicht — und ihr habet sie nicht — so bessert zuerst euch
selbst, seyd demüthig vor Gott, habet hinfort keine Lust an Unlust,
wohl aber an friedlicher freudiger Entwickelung, wie sie aus der
anspruchslosen Thätigkeit wohlwollend reger Gemüther hervor-
geht: schmückend, beglückend, belebend, erhebend!

Gehen wir etwa rückwärts in Deutschland, ist gerechter Grund
da zur Ungeduld oder gar zur Verzweiflung? Eben erst ist der
Feind bezwungen, und er hinterließ uns ein zerrissenes verwirrtes
Deutschland, ja ein zerrissenes verwirrtes Europa! Große Schritte
sind geschehen zur neuen Gestaltung und ich sage zuversichtlich: es
ist Hoffnung da zur glücklichen Entwickelung! Soll Mißtrauen
verbreitet werden, damit die Saat keinen Boden findet zum Ge-
deihen? Eben weil man der Zukunft nicht übermüthig vorgreift,
eben weil jeder Schritt mit Ruhe und Besonnenheit geschieht, eben
darum dürfen wir hoffen und vertrauen.

Zwischen jetzt und dem Ende des deutschen Reiches liegen
Jahre und welche Jahre! Welche gänzliche Umgestaltung der
einzelnen deutschen Staaten nach Jnnen und nach Außen! Wollet
ihr ganz das Alte, wollet ihr ein ganz Neues? — Weder das Eine
noch das Andere konnte werden! Ein einziges mächtiges Deutsch-
land — nicht wahr? — ein deutscher Kaiser, sonst deutsches Volk
und Vasallen? Auf dem Papiere immerhin, aber in der That und
Wahrheit? Soll Preußen sich Oesterreich, oder Oesterreich sich
Preußen in solchem Maße fügen? Soll Bayern selbst — mit drei
Millionen Einwohnern — nur als ein bloser Landstand, ein
mächtiger Vasall sich fühlen können? — Das Unnatürliche, Un-
mögliche kann nicht beschlossen und vereinbart werden, noch we-
niger Bestand haben. Oder wolltet ihr euren Willen um jeden
Preis, also Tumult, Revolution, bis sich Alles umgestaltet und
auf den Trümmern das jetzt Unmögliche möglich werde? Ge-
denket Frankreichs! Nach Blut und Zerstörung würden auch wir
einen schlauen wilden Despoten an die Spitze werfen, und hätten
bis dahin die Mächte Europa's unserer Anarchie wirklich müßig
zugeschaut und nicht zur Eroberung und Zerstückelung Deutsch-
lands benutzt — unser Napoleon würde sie anfallen und aufs
Aeußerste treiben, bis er und wir Frankreichs Schicksal erfahren.
Wir sind keine Franzosen. Gottlob nein; aber ehrenwerthe,
menschliche, gerechte Empörer würden auch wir nicht seyn, und
Demagogen würden auch bei uns seyn und gelten, denn wir ha-
ben deren und sie gelten! Der deutsche Marat und Robespierre
würden kein französischer Marat und Robespierre seyn, aber
Bluthunde wären sie auch und eingefleischte Teufel und ein Teufel
verdrängte und würfe den anderen und der Teufelei wäre weder
[Ende Spaltensatz]

1) Der Aufsatz ist jedenfalls zwischen 1817 und 1823 geschrieben
worden: näher kann die Zeit der Abfassung nicht bestimmt werden.
Den Scharfblick des verewigten Verfassers werden unsere Leser mit uns
bewundern.
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[0001] Mainzer Journal. Nro 249. Freitag, den 19. October. 1849. Aus den Papieren eines im Jahre 1837 ver- storbenen Staatsmannes 1). Unsere Zeit ist leider mehr zum Zweifeln als zum Glauben aufgelegt, eben daher mehr geeigenschaftet zum Einreißen als zum Aufbauen. Wirklich ist auch im Raume weniger Jahre viel ein- gerissen und aller Wechsel gar geläufig worden; die Achtung für das Bestehende aber, die Ehrfurcht und heilige Scheu für Das, was in Jahrhunderten sich gebildet und Jahrhunderte bestanden, sind gewichen! Einseitige Ausbildung, nämlich die des Verstan- des, verlockte zu Uebermuth; Verwöhnung an gewaltige Bewe- gung, an ungeheuere Ereignisse machte ungeschickt zu allmäliger gediegener Entwickelung. Die Stubengelehrten, also diejenigen, welche durch Bildung und Beruf am vollständigsten vom Leben getrennt sind, haben sich durch die Geläufigkeit ihrer Federn und die Bereitwilligkeit der Pressen des Wortes bemächtigt, sogar in der Politik, also in der Angelegenheit, welche gerade am engsten mit dem Leben, mit dem Leben von Gesammtheiten, verwachsen ist. Wenige belehren und klären auf, die weit größere Mehrzahl beschwatzt und verwirrt. Schon der oft rohe, und öfter noch ganz unverständige Ton im Vortrage zeugt von Arroganz in der Be- schränktheit, von gemüthlichem Ungeschicke zur Würdigung des verwickeltsten, vielseitigsten aller Gegenstände. Wir haben es auch in Deutschland erfahren, was die Ver- pflanzung von Kathedern in den Geheimen Rath der Fürsten den Staaten und Völkern bedeute. Der Monarch in seinem einsamen Studierzimmer, der Beherrscher von Papierbogen, Federposen und Pappendeckeln, der vor der stummen Versammlung in seinem Hörsaale allein und ohne Widerspruch redende Professor, taugt nicht für den unendlich mannigfaltigen Verkehr, für das bunte, jeden Augenblick neue Leben im Staate. Alles behandelt er, wie seine bisherige todte Umgebung, höchstens wie Studenten! Für Austausch und Ausgleichung der Meinungen und Ansichten, für collegialische Verbindung, für billige Rücksicht auf die Tempera- mente Anderer und deren Eigenschaften, oder auf das Vorhan- dene, Gegebene in dem besonderen Staate und beson- deren Augenblick, hat er weder Sinn und Geschick, noch Scho- nung und Achtung — ein eigensichtiger, rechthaberischer, pedanti- scher Despot ist er und hält sich selbstgefällig für ein großes Licht und nolens volens für einen Wohlthäter der Menschheit. Setzte man ein Concilium von den Männern zusammen, die in Büchelchen und Zeitschriften laut und anmaßlich genug verkün- den: „Wie es seyn sollte“ und trüge ihnen auf, gemeinschaftlich zu berathen, wie uns ein Deutschland erbaut, oder wie einzelnen deutschen Staaten eine Landesverfassung zu bereiten sey? nach „den Bedürfnissen der Zeit,“ oder modischer ausgedrückt: „nach dem Geiste der Zeit,“ so träte ein Jeglicher von ihnen in den Ver- sammlungssaal selbstgefällig, zuversichtlich, mit einem breiten, wohlverfaßten Hefte in der Tasche, er verließe ihn demnächst grollend, betreten und mit Condolenz: daß Deutschland in diesem wichtigen Augenblicke nur einen einsichtsvollen Mann zähle, nämlich ihn! Es wäre ein Lustspiel, die Herren N. N. und N. N. und N. N um die Tafel zur Berathung des Staatenwohles sitzen zu sehen, wenn es nicht auch eine tragische Seite hätte. Schon jetzt statuirt Keiner den Anderen, aber sich selbst sieht ein Jeder für den wahrer Vertreter der öffentlichen Meinung, für den Herold des Zeitgeistes an. Jeder von ihnen und Alle zu- sammen haben wirklich auch ein Publicum in unserer lesesüchtigen skeptischen Zeit. Jn der That und Wahrheit ist aber weder der Welt noch Deutschland mit den einsamen Theorien gedient, von Einzelnen willkührlich hingestellt, nicht aus dem Gesammtleben hervorquellend, daher auf dem Wege unreifer Leserei ins Leben hinein von schädlicher verwirrender Einwirkung. Wir haben Schöpfungen des Augenblickes entstehen sehen und vergehen, wir haben erfahren, wie es mit der papiernen Völker- beglückung, mit der anmaßlichen Anwendung von Gemeinplätzen und von angeblich reinen Vernunftsätzen bewandt sey. Der Faden der Geschichte wird frech zerhauen, alles Bisherige heißt veraltet, verrottet, die Arroganz ergreift den Griffel, der Uebermuth wohl gar das Schwert und zeichnet Striche durchs bunte Leben oder mähet sich Bahnen, keck vermeinend, Arme und Beine und Köpfe und das Herzblut und alle Glückseligkeit ganzer Generationen seyen ein zu großes Opfer nicht für Das, was der Einzelnen arges krankes Hirn gebrütet und im Wahne für die Basis hält, auf welcher einer zukünftigen Zukunft eine himmlische Seligkeit schon auf Erden zu erbauen! Es gibt keinen allgemeinen Leisten für Völkerglück! Verfas- sungen müssen entstehen in der Zeit und mit der Zeit und sich le- bendig erweisen in beständiger Fortbildung und Ausbildung, wie sich der Einzelne, der Wohlgesinnte, fortbildet, während das be- wegte Leben um ihn ohne Unterlaß zur immer wieder neuen Auf- gabe und Schule für ihn wird. Die selbstbestallten Herolde des Zeitgeistes aber, mit sich selbst fix und fertig, sind es auch mit der Welt, wissen Alles, was da ist, und was da seyn soll und seyn wird, und schneiden zuversichtlich das politische Kleid zu, was da passen soll und wird für jetzt und immerdar! Prüfet euch, ihr Herolde, ob ihr den Glauben habet und die Liebe! Ha- bet ihr sie nicht — und ihr habet sie nicht — so bessert zuerst euch selbst, seyd demüthig vor Gott, habet hinfort keine Lust an Unlust, wohl aber an friedlicher freudiger Entwickelung, wie sie aus der anspruchslosen Thätigkeit wohlwollend reger Gemüther hervor- geht: schmückend, beglückend, belebend, erhebend! Gehen wir etwa rückwärts in Deutschland, ist gerechter Grund da zur Ungeduld oder gar zur Verzweiflung? Eben erst ist der Feind bezwungen, und er hinterließ uns ein zerrissenes verwirrtes Deutschland, ja ein zerrissenes verwirrtes Europa! Große Schritte sind geschehen zur neuen Gestaltung und ich sage zuversichtlich: es ist Hoffnung da zur glücklichen Entwickelung! Soll Mißtrauen verbreitet werden, damit die Saat keinen Boden findet zum Ge- deihen? Eben weil man der Zukunft nicht übermüthig vorgreift, eben weil jeder Schritt mit Ruhe und Besonnenheit geschieht, eben darum dürfen wir hoffen und vertrauen. Zwischen jetzt und dem Ende des deutschen Reiches liegen Jahre und welche Jahre! Welche gänzliche Umgestaltung der einzelnen deutschen Staaten nach Jnnen und nach Außen! Wollet ihr ganz das Alte, wollet ihr ein ganz Neues? — Weder das Eine noch das Andere konnte werden! Ein einziges mächtiges Deutsch- land — nicht wahr? — ein deutscher Kaiser, sonst deutsches Volk und Vasallen? Auf dem Papiere immerhin, aber in der That und Wahrheit? Soll Preußen sich Oesterreich, oder Oesterreich sich Preußen in solchem Maße fügen? Soll Bayern selbst — mit drei Millionen Einwohnern — nur als ein bloser Landstand, ein mächtiger Vasall sich fühlen können? — Das Unnatürliche, Un- mögliche kann nicht beschlossen und vereinbart werden, noch we- niger Bestand haben. Oder wolltet ihr euren Willen um jeden Preis, also Tumult, Revolution, bis sich Alles umgestaltet und auf den Trümmern das jetzt Unmögliche möglich werde? Ge- denket Frankreichs! Nach Blut und Zerstörung würden auch wir einen schlauen wilden Despoten an die Spitze werfen, und hätten bis dahin die Mächte Europa's unserer Anarchie wirklich müßig zugeschaut und nicht zur Eroberung und Zerstückelung Deutsch- lands benutzt — unser Napoleon würde sie anfallen und aufs Aeußerste treiben, bis er und wir Frankreichs Schicksal erfahren. Wir sind keine Franzosen. Gottlob nein; aber ehrenwerthe, menschliche, gerechte Empörer würden auch wir nicht seyn, und Demagogen würden auch bei uns seyn und gelten, denn wir ha- ben deren und sie gelten! Der deutsche Marat und Robespierre würden kein französischer Marat und Robespierre seyn, aber Bluthunde wären sie auch und eingefleischte Teufel und ein Teufel verdrängte und würfe den anderen und der Teufelei wäre weder 1) Der Aufsatz ist jedenfalls zwischen 1817 und 1823 geschrieben worden: näher kann die Zeit der Abfassung nicht bestimmt werden. Den Scharfblick des verewigten Verfassers werden unsere Leser mit uns bewundern.

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Zitationshilfe: Mainzer Journal. Nr. 249. Mainz, 19. Oktober 1849, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_mainzerjournal249_1849/1>, abgerufen am 21.12.2024.