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Mährisches Tagblatt. Nr. 299, Olmütz, 31.12.1888.

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[Spaltenumbruch]
1889.


= An jede kommende Stunde knüpft der
Mensch neues Hoffen, frisches Wünschen. Die
Summe dieses Hoffens und Wünschens drängt
er an den Wendepunkten der Zeit zusammen, an
denen ihm zugleich klar wird, was von dem Gehoff-
ten und Gewünschten sich erfüllt, und welchen Wün-
schen die Erfüllung versagt war. Manche Erwartung,
die das neue Jahr gebar, sinkt mit dem scheiden-
den Jahre ins Grab. Doch der Mensch verlernt
das Hoffen nicht, und die Völker sind wie die
Individuen, sie pflanzen immer von Neuem die
Hoffnungsfahne auf. Sie ist für sie auch ein
Zeichen der inneren Lebenskraft, die in einem
Volke wohnt, ein Symptom unverwelklichen Lebens-
triebes. Nur wer zu hoffen aufgehört, hat von
der Zeit nichts mehr zu erwarten. Das deutsche
Bolk in Oesterreich gehört nicht zu Jenen, die
ihr Hoffen aufgegeben. Zwar ist es im verflossenen
Jahre um manche Enttäuschung reicher, um
manches Hoffen ärmer geworden; allein es ver-
sank darob nicht in muthloses Zagen, in starre
Willen- und Thatenlosigkeit. Was widriges Ge-
schick, und ein System, das seinen politischen und
nationalen Widersachern dienlich ist, ihm auch an
Machtbesitz zu entreißen bemüht war, hat nur
dazu beigetragen, das Bewußtsein der eigenen
Kraft und Bedeutung in ihm zu wecken, es auf-
zurütteln aus langjähriger, gutmüthiger Unthätig-
keit und es mit dem heißen, drangvollen Streben
zu durchdringen, daß es seine Kraft geltend mache,
und bewähre in mitten des Ansturmes feindlicher
Gewalten. Dieses erwachende und stetig wachsende
nationale Bewußtsein, das ein mächtiger Factor
geworden ist in der Entwicklung des staatlichen
Lebens, überwiegt weit an Bedeutung den Rück-
gang an äußerer Machtfülle, der unserem Volke
auch im verflossenen Jahre nicht erspart blieb.
Denn es hieße eigensinnig die Augen ver-
schließen, wollten wir diesen Rückgang nicht
merken, wollten wir nicht sehen, wie von Ost und
Süd die brandenden Wogen des überschäumenden
slavischen Völkermeeres wild gegen die deutschen
Ufer anprallen und Stück für Stück abbröckeln.
Schon sind die wildfluthenden Gewässer tief in
deutsches Land gedrungen, schon haben sie den
Grund, auf dem unsere festen Burgen, die deut-
schen Städte stehen, vielfach unterwühlt und wäl-
zen nun ihre Wogen bis ins Herz des Reiches,
bis an die Thore der Reichshauptstadt, der stol-
zen Vindobona. Wahrlich, es ist kein freundliches
Bild, das uns zum neuen Jahre da entgegen-
lacht, und es wird nur noch häßlicher, wenn wir
es unter dem Gesichtspuncte jener Gleichberechti-
gung betrachten, in deren Namen man immer
von Neuem das Slaventhum auf Kosten des
Deutschthums zu erheben bemüht ist. Dem Bilde
läßt sich auch dann keine Lichtseite abgewinnen,
wenn wir es in die Beleuchtung [r]ücken, welche
[Spaltenumbruch] der Friedensbund, der uns mit dem deutschen
Reiche eint, ausstrahlt. Denn wie sehr auch poli-
tische Heuchelei die Augen verdrehen, und tschechische
Staatskunst diplomatisch schkau sich winden mag,
man weiß es allerorten und nicht am wenigsten
dort, wo die Geschicke der Völker heute entschie-
den werden, daß die im Augenblicke herrschenden
Parteien Oesterreichs die deutsche Allianz miß-
günstigen Blickes betrachten, daß ihnen das köst-
lichste Neujahrsgeschenk die Nachricht wäre, diese
Allianz sei gesprengt, und der Bund zerrissen, der
Europas Frieden sichert. Offen und laut wagt
sich solche Gesinnung nicht hervor; aber im inner-
sten Herzen da regt sie sich und wartet nur des
Anlasses sich zu offenbaren. Die Deutschen in
Oesterreich sind Freunde des Bündnisses, weil sie
Freunde des deutschen Volkes, Freunde des Frie-
dens und des großen, neuerstarkten deutschen Rei-
ches sind, das mit seinem starken Schwerte diesen
Frieden und damit auch Oesterreich schützt und
schirmt. Diese unsere Freundschaft trat im ver-
flossenen Jahre deutlich zu Tage, als das deutsche
Volk rasch nacheinander seine großen National-
helden verlor, den 91jährigen erhabenen Gründer
des Reiches und seinen edlen Sohn, jenen Fried-
rich, der ein Held und Weiser zugleich seinem
Volke ein leuchtendes Vorbild war. Mit dem ge-
sammten deutschen Volke betrauerten auch wir
den Hingang der großen Kronenträger; mit ihm
freuten wir uns, daß das deutsche Reich in Wil-
helm II. einen kräftigen, friedliebenden Regen-
ten fand.

Am 18. Juni erschien die Proclamation
Kaiser Wilhelm's II. Der junge Kaiser versprach
in derselben an die durch seinen verschiedenen
Großvater geschaffenen Bedingungen anknüpfen
und ein Fürst des Friedens sein zu wollen, so
lange dies mit der Ehre des deutschen Namens
nur irgend verträglich ist. Inzwischen hatten sich
die deutschen Herzöge und Könige in Berlin ver-
sammelt, um der feierlichen Eröffnung des Reichs-
tages beizuwohnen. Diese erfolgte am 25. Juni.
Da war eine Pracht und Herrlichkeit zu sehen,
wie man sie seit den alten deutschen Kaisertagen zu
Aachen, Worws und Regensburg nicht mehr ge-
schen hat[t]e. Das Ausland hatte, so weit es
feindlich ist, von den Todesfällen im Hause
Hohenzollern eine Lock[e]rung der Reichseinheit er-
wartet. Jetzt aber erschrak es, als es den stolzen
Kaiserjüngling mitten unter seinen Großen und
Paladinen sah.

Noch war die öffentliche Discussion über
die Frage nicht abgeschlossen, ob Wilhelm II. es
ernst meine mit seinem Friedensprogramme, als
der Kaiser am 14. Juli von Kiel aus seine
Nordlandsfahrten antrat, um Rußland, Schweden
und Dänemark zu besuchen um die dortigen
Gewalthaber für die Erhaltung des Weltfriedens
zu gewinnen. Auf seiner Rückreise hielt er sich
in Friedrichsruhe auf, für 24 Stunden ein Gast
des Reichskanzlers, dem Wilhelm II, eine wo-
[Spaltenumbruch] möglich noch größere Verehrung entgegenbringt,
als sein kaiserlicher Großvater. Im October er-
folgten die Besuche in Baden, Württemberg und
Baiern, in Wien und Rom. Die Nordlands-
fahrt ging zu den Verwandten, die Reise nach
dem Süden aber galt den Freunden und Bundes-
genossen. Fester als jemals steht seither die
Friedensliga, fester als jemals auch unser Ver-
trauen, daß, was immer auch kommen möge,
die phantastischen Pläne jener slavischen Politiker
sich verwirklichen könnten, die auf dem Nacken
des deutschen Volkes zur Höhe emporsteigen
möchten. Inmitten des großen Weltgetriebes steht
unser Reich, und die Weltereignisse sind mächti-
ger, als die kleinlichen Mühen und Künste, die
man aufwendet, um unseren Staat entgegen der
großen Strömung nach Concentrirung aller
schaffenden Kräfte in die sumpfigen Gewässer des
Rückschrittes und der Spaltung zu leiten. Das
ist unsere Ueberzeugung heute wie immer. Man
kann die föderalistischen Aspirationen künstlich
züchten und mit Hilfe der tschechischen und cleri-
calen Heerhaufen eine Weile nach rückwärts
steuern: allein auf die Dauer wird solcher Curs
nicht eingehalten werden können. Mit diesem un-
erschütterten Vertrauen zu unserer eigenen, zur
Kraft unseres Volkes, begrüßen wir das neue
Jahr. Möge es unserem Vaterlande im treuen
Bunde mit dem alten deutschen Genossen auch
den alten Glanz und das alte Glück bringen.




Erfreuliches aus Südtirol.


Vor uns liegt eine Correspondenz, die einige
erfreuliche Mittheilungen über die Entwicklung
des deutschen Elementes, in Südtirol enthält und
von den Deutschen, die sich seit Jahren überall
in unserer Monarchie im Nord und Süd, Ost
und West zurückgedrängt, ja nicht selten in ihrer
nationalen Existenz bedroht sehen, sicherlich mit
Befriedigung gelesen werden wird. Im Gegen-
satze zu den Verlusten, welche das deutsche Sprach-
gebiet im südlichen Tirol im Laufe der letzten
Jahrhunderte erlitten hat -- das Suganer Thal,
die Thäler ostwärts von Roveredo, die deutschen
Orte im Süden des Caldnazzosees, die Dörfer
im Paneid (Pine) und einzelne Ortschaften im
Etschthale südwärts von Salurn sind fast ganz
verwelscht worden und nur noch spärliche Trüm-
mer deutschen Lebens vermag der Forscher heute
daselbst aufzufinden -- wird jedenfalls in den
nächsten Jahrzehnten ein nicht unbeträchtliches
Gebiet nomanischer Bevolkerung, das durch seine
Spielwaaren- überhaupt Holzindustrie bekannte
Grödner Thal ostwärts von Waidbruck der deut-
schen Zunge zufallen. Die Ortschaften dieses Tha-
les, St. Ulrich mit Außer-St.-Jakob, Pufels mit
Runpaditsch, Ueberwasser, St. Christina mit
Inner-St.-Jakob und Wolkenstein, werden von
ungefähr 3500 Bewohnern ostladinischen Stam-




[Spaltenumbruch]

Gar Vieles bleibt daher unbeachtet und wird
bald vergessen. Außerdem haben wir in diesem
Alter schon viele Illusionen von uns gestreift und
sind in der Abschätzung so mancher wirklichen
oder vermeintlichen menschlichen Güter nüchterner
geworden, so daß selbst neue und erfreuliche Er-
scheinungen nicht mehr in der ganzen früheren
Machtfülle auf uns wirken. In Folge dessen er-
scheinen uns die Jahre, je älter wir werden, desto
inhaltsleerer, daher kürzer und immer kürzer.

Der Grund-Unterschied zwischen Jugend und
Alter -- und auch darin müssen wir Schopen-
hauer Recht geben -- bleibt immer, daß jene
das Leben, dieses den Tod vor sich hat, daß also
jene eine kurze Vergangenheit und lange Zukunft
besitzt: dieses umgekehrt. Auch die Grundstimmung
der verschiedenen Altersperioden ist in Betracht zu
ziehen. "Die Heiterkeit und der Lebensmuth unse-
rer Jugend beruht zum Theil darauf, daß wir,
bergauf gehend, den Tod nicht sehen, weil er am
Fuße der anderen Seite des Berges liegt. Haben
wir aber den Gipfel überschritten, dann werden
wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom
Hörensagen kannten, wirklich ansichtig, wodurch,
da zu derselben Zeit die Lebenskraft zu ebben
beginnt, auch der Lebensmuth sinkt.

Selten ist der Gedanke des Menschen an
die Zukunft so lebhaft als am Beginne eines
neuen Jahres. Das Jahr ist eben das wichtigste
der größeren Zeitmaße. Nach Jahren berechnen
wir unser Alter, nach Jahren rechnet die Ge-
[Spaltenumbruch] schichtsschreibung, auf der Jahresrechnung beruhen
eine Menge bürgerlicher Einrichtungen. Das Be-
wußtsein dieser Bedeutung macht den Jahresan-
fang zu einem wichtigen Abschnitt im Leben des
Einzelnen, gleichwie im Leben der Gesellschaft
und des Staates. Wenn diejenigen, welche sich
über den Werth des Lebens Rechenschaft geben,
an diesen Marksteinen der Zeit nicht gedanken-
los, sondern in einer gewissen felerlichen Stim-
mung vorübergehen, so ist das ganz natürlich.

"Das Leben", sagt Jean Paul, "gleicht
einem Buche, Thoren durchblättern es flüchtig,
Weise lesen es mit Bedacht, weil sie wissen, daß
sie es nur einmal lesen können." Halten wir
dieses Gleichniß fest, so ist der Jahres-Anfang ein
neues Capitel, das wir beginnen. Wir haben um
so mehr Grund, unsere Aufmerksamkeit zu verdop-
peln, als wir nicht wissen, ob diesem Capitel noch
andere Capitel folgen werden, ja ob es nicht für
uns vielleicht gerade an einer recht interessanten
Stelle unvollendet abbricht.

Ganz zutreffend ist Jean Paul's Gleichniß
aber doch nicht. Bei einem guten Roman kann
es allerdings geschehen, daß wir uns für den
Helden der Geschichte lebhaft interessiren, daß
seine Geschicke uns fast so nahe gehen wie eigene
Erlebnisse. Aber doch sind wir dabei nur passive
Zuschauer, während wir im Roman unseres Le-
bens der Held selbst sind, der handelnd seine
Geschicke gestaltet oder wenigstens, da auch äußere,
von uns unabhängige Umstände in dieselben ein-
[Spaltenumbruch] greifen, modificirt. Das neue Lebens-Capitel, das
mit dem Jahreswechsel für uns beginnt, hat
also ein ungleich höheres Interesse für uns, als
ein gewöhnliches Roman-Capitel, das nur ästhe-
tisch auf uns wirkt. Der Kampf des Helden mit
seinem Schicksal, er ist unser Kampf, seine Siege,
seine Niederlagen, seine Erfolge, seine Enttäu-
schungen, sie sind unsere Siege, unsere Nieder-
lagen, unsere Erfolge, unsere Enttäuschungen,
seine Leiden und Freuden, sie sind unsere Leiden,
unsere Freuden, sein Glück, sein Unglück, sie sind
unser Glück, unser Unglück.

So lästig die Sitte, unseren Freunden und
Bekannten zum Jahreswechsel Glück zu wün-
schen, sein mag, wenn es weiter nichts als eine
leere Formalität ist, so vernünftig ist sie, wenn
unsere Wünsche ernst gemeint sind. Denn was
liegt denn allen unseren Wünschen, Hoffnungen,
Bestrebungen, Besorgnissen für uns und Dieje-
nigen, die uns theuer sind, zu Grunde? Auch
der Selbstloseste, wenn er tiefere Blicke in sein
eigenes Ich gethan hat und der Wahrheit die
Ehre geben will, wird antworten müssen, es sei
der unstillbare Durst nach jenem idealen Gute,
das wir vollständig und dauernd zwar nirgends
verwirklicht sehen, dem wir aber mit nimmer-
müder Ausdauer fort und fort entgegenstreben:
das Glück.

Man mag die Sehnsucht nach diesem Gut
noch so sehr bemänteln, man mag sie als selbst-
üchtig verdammen: sie läßt sich weder durch so-


[Spaltenumbruch]
1889.


= An jede kommende Stunde knüpft der
Menſch neues Hoffen, friſches Wünſchen. Die
Summe dieſes Hoffens und Wünſchens drängt
er an den Wendepunkten der Zeit zuſammen, an
denen ihm zugleich klar wird, was von dem Gehoff-
ten und Gewünſchten ſich erfüllt, und welchen Wün-
ſchen die Erfüllung verſagt war. Manche Erwartung,
die das neue Jahr gebar, ſinkt mit dem ſcheiden-
den Jahre ins Grab. Doch der Menſch verlernt
das Hoffen nicht, und die Völker ſind wie die
Individuen, ſie pflanzen immer von Neuem die
Hoffnungsfahne auf. Sie iſt für ſie auch ein
Zeichen der inneren Lebenskraft, die in einem
Volke wohnt, ein Symptom unverwelklichen Lebens-
triebes. Nur wer zu hoffen aufgehört, hat von
der Zeit nichts mehr zu erwarten. Das deutſche
Bolk in Oeſterreich gehört nicht zu Jenen, die
ihr Hoffen aufgegeben. Zwar iſt es im verfloſſenen
Jahre um manche Enttäuſchung reicher, um
manches Hoffen ärmer geworden; allein es ver-
ſank darob nicht in muthloſes Zagen, in ſtarre
Willen- und Thatenloſigkeit. Was widriges Ge-
ſchick, und ein Syſtem, das ſeinen politiſchen und
nationalen Widerſachern dienlich iſt, ihm auch an
Machtbeſitz zu entreißen bemüht war, hat nur
dazu beigetragen, das Bewußtſein der eigenen
Kraft und Bedeutung in ihm zu wecken, es auf-
zurütteln aus langjähriger, gutmüthiger Unthätig-
keit und es mit dem heißen, drangvollen Streben
zu durchdringen, daß es ſeine Kraft geltend mache,
und bewähre in mitten des Anſturmes feindlicher
Gewalten. Dieſes erwachende und ſtetig wachſende
nationale Bewußtſein, das ein mächtiger Factor
geworden iſt in der Entwicklung des ſtaatlichen
Lebens, überwiegt weit an Bedeutung den Rück-
gang an äußerer Machtfülle, der unſerem Volke
auch im verfloſſenen Jahre nicht erſpart blieb.
Denn es hieße eigenſinnig die Augen ver-
ſchließen, wollten wir dieſen Rückgang nicht
merken, wollten wir nicht ſehen, wie von Oſt und
Süd die brandenden Wogen des überſchäumenden
ſlaviſchen Völkermeeres wild gegen die deutſchen
Ufer anprallen und Stück für Stück abbröckeln.
Schon ſind die wildfluthenden Gewäſſer tief in
deutſches Land gedrungen, ſchon haben ſie den
Grund, auf dem unſere feſten Burgen, die deut-
ſchen Städte ſtehen, vielfach unterwühlt und wäl-
zen nun ihre Wogen bis ins Herz des Reiches,
bis an die Thore der Reichshauptſtadt, der ſtol-
zen Vindobona. Wahrlich, es iſt kein freundliches
Bild, das uns zum neuen Jahre da entgegen-
lacht, und es wird nur noch häßlicher, wenn wir
es unter dem Geſichtspuncte jener Gleichberechti-
gung betrachten, in deren Namen man immer
von Neuem das Slaventhum auf Koſten des
Deutſchthums zu erheben bemüht iſt. Dem Bilde
läßt ſich auch dann keine Lichtſeite abgewinnen,
wenn wir es in die Beleuchtung [r]ücken, welche
[Spaltenumbruch] der Friedensbund, der uns mit dem deutſchen
Reiche eint, ausſtrahlt. Denn wie ſehr auch poli-
tiſche Heuchelei die Augen verdrehen, und tſchechiſche
Staatskunſt diplomatiſch ſchkau ſich winden mag,
man weiß es allerorten und nicht am wenigſten
dort, wo die Geſchicke der Völker heute entſchie-
den werden, daß die im Augenblicke herrſchenden
Parteien Oeſterreichs die deutſche Allianz miß-
günſtigen Blickes betrachten, daß ihnen das köſt-
lichſte Neujahrsgeſchenk die Nachricht wäre, dieſe
Allianz ſei geſprengt, und der Bund zerriſſen, der
Europas Frieden ſichert. Offen und laut wagt
ſich ſolche Geſinnung nicht hervor; aber im inner-
ſten Herzen da regt ſie ſich und wartet nur des
Anlaſſes ſich zu offenbaren. Die Deutſchen in
Oeſterreich ſind Freunde des Bündniſſes, weil ſie
Freunde des deutſchen Volkes, Freunde des Frie-
dens und des großen, neuerſtarkten deutſchen Rei-
ches ſind, das mit ſeinem ſtarken Schwerte dieſen
Frieden und damit auch Oeſterreich ſchützt und
ſchirmt. Dieſe unſere Freundſchaft trat im ver-
floſſenen Jahre deutlich zu Tage, als das deutſche
Volk raſch nacheinander ſeine großen National-
helden verlor, den 91jährigen erhabenen Gründer
des Reiches und ſeinen edlen Sohn, jenen Fried-
rich, der ein Held und Weiſer zugleich ſeinem
Volke ein leuchtendes Vorbild war. Mit dem ge-
ſammten deutſchen Volke betrauerten auch wir
den Hingang der großen Kronenträger; mit ihm
freuten wir uns, daß das deutſche Reich in Wil-
helm II. einen kräftigen, friedliebenden Regen-
ten fand.

Am 18. Juni erſchien die Proclamation
Kaiſer Wilhelm’s II. Der junge Kaiſer verſprach
in derſelben an die durch ſeinen verſchiedenen
Großvater geſchaffenen Bedingungen anknüpfen
und ein Fürſt des Friedens ſein zu wollen, ſo
lange dies mit der Ehre des deutſchen Namens
nur irgend verträglich iſt. Inzwiſchen hatten ſich
die deutſchen Herzöge und Könige in Berlin ver-
ſammelt, um der feierlichen Eröffnung des Reichs-
tages beizuwohnen. Dieſe erfolgte am 25. Juni.
Da war eine Pracht und Herrlichkeit zu ſehen,
wie man ſie ſeit den alten deutſchen Kaiſertagen zu
Aachen, Worws und Regensburg nicht mehr ge-
ſchen hat[t]e. Das Ausland hatte, ſo weit es
feindlich iſt, von den Todesfällen im Hauſe
Hohenzollern eine Lock[e]rung der Reichseinheit er-
wartet. Jetzt aber erſchrak es, als es den ſtolzen
Kaiſerjüngling mitten unter ſeinen Großen und
Paladinen ſah.

Noch war die öffentliche Discuſſion über
die Frage nicht abgeſchloſſen, ob Wilhelm II. es
ernſt meine mit ſeinem Friedensprogramme, als
der Kaiſer am 14. Juli von Kiel aus ſeine
Nordlandsfahrten antrat, um Rußland, Schweden
und Dänemark zu beſuchen um die dortigen
Gewalthaber für die Erhaltung des Weltfriedens
zu gewinnen. Auf ſeiner Rückreiſe hielt er ſich
in Friedrichsruhe auf, für 24 Stunden ein Gaſt
des Reichskanzlers, dem Wilhelm II, eine wo-
[Spaltenumbruch] möglich noch größere Verehrung entgegenbringt,
als ſein kaiſerlicher Großvater. Im October er-
folgten die Beſuche in Baden, Württemberg und
Baiern, in Wien und Rom. Die Nordlands-
fahrt ging zu den Verwandten, die Reiſe nach
dem Süden aber galt den Freunden und Bundes-
genoſſen. Feſter als jemals ſteht ſeither die
Friedensliga, feſter als jemals auch unſer Ver-
trauen, daß, was immer auch kommen möge,
die phantaſtiſchen Pläne jener ſlaviſchen Politiker
ſich verwirklichen könnten, die auf dem Nacken
des deutſchen Volkes zur Höhe emporſteigen
möchten. Inmitten des großen Weltgetriebes ſteht
unſer Reich, und die Weltereigniſſe ſind mächti-
ger, als die kleinlichen Mühen und Künſte, die
man aufwendet, um unſeren Staat entgegen der
großen Strömung nach Concentrirung aller
ſchaffenden Kräfte in die ſumpfigen Gewäſſer des
Rückſchrittes und der Spaltung zu leiten. Das
iſt unſere Ueberzeugung heute wie immer. Man
kann die föderaliſtiſchen Aſpirationen künſtlich
züchten und mit Hilfe der tſchechiſchen und cleri-
calen Heerhaufen eine Weile nach rückwärts
ſteuern: allein auf die Dauer wird ſolcher Curs
nicht eingehalten werden können. Mit dieſem un-
erſchütterten Vertrauen zu unſerer eigenen, zur
Kraft unſeres Volkes, begrüßen wir das neue
Jahr. Möge es unſerem Vaterlande im treuen
Bunde mit dem alten deutſchen Genoſſen auch
den alten Glanz und das alte Glück bringen.




Erfreuliches aus Südtirol.


Vor uns liegt eine Correſpondenz, die einige
erfreuliche Mittheilungen über die Entwicklung
des deutſchen Elementes, in Südtirol enthält und
von den Deutſchen, die ſich ſeit Jahren überall
in unſerer Monarchie im Nord und Süd, Oſt
und Weſt zurückgedrängt, ja nicht ſelten in ihrer
nationalen Exiſtenz bedroht ſehen, ſicherlich mit
Befriedigung geleſen werden wird. Im Gegen-
ſatze zu den Verluſten, welche das deutſche Sprach-
gebiet im ſüdlichen Tirol im Laufe der letzten
Jahrhunderte erlitten hat — das Suganer Thal,
die Thäler oſtwärts von Roveredo, die deutſchen
Orte im Süden des Caldnazzoſees, die Dörfer
im Paneid (Piné) und einzelne Ortſchaften im
Etſchthale ſüdwärts von Salurn ſind faſt ganz
verwelſcht worden und nur noch ſpärliche Trüm-
mer deutſchen Lebens vermag der Forſcher heute
daſelbſt aufzufinden — wird jedenfalls in den
nächſten Jahrzehnten ein nicht unbeträchtliches
Gebiet nomaniſcher Bevolkerung, das durch ſeine
Spielwaaren- überhaupt Holzinduſtrie bekannte
Grödner Thal oſtwärts von Waidbruck der deut-
ſchen Zunge zufallen. Die Ortſchaften dieſes Tha-
les, St. Ulrich mit Außer-St.-Jakob, Pufels mit
Runpaditſch, Ueberwaſſer, St. Chriſtina mit
Inner-St.-Jakob und Wolkenſtein, werden von
ungefähr 3500 Bewohnern oſtladiniſchen Stam-




[Spaltenumbruch]

Gar Vieles bleibt daher unbeachtet und wird
bald vergeſſen. Außerdem haben wir in dieſem
Alter ſchon viele Illuſionen von uns geſtreift und
ſind in der Abſchätzung ſo mancher wirklichen
oder vermeintlichen menſchlichen Güter nüchterner
geworden, ſo daß ſelbſt neue und erfreuliche Er-
ſcheinungen nicht mehr in der ganzen früheren
Machtfülle auf uns wirken. In Folge deſſen er-
ſcheinen uns die Jahre, je älter wir werden, deſto
inhaltsleerer, daher kürzer und immer kürzer.

Der Grund-Unterſchied zwiſchen Jugend und
Alter — und auch darin müſſen wir Schopen-
hauer Recht geben — bleibt immer, daß jene
das Leben, dieſes den Tod vor ſich hat, daß alſo
jene eine kurze Vergangenheit und lange Zukunft
beſitzt: dieſes umgekehrt. Auch die Grundſtimmung
der verſchiedenen Altersperioden iſt in Betracht zu
ziehen. „Die Heiterkeit und der Lebensmuth unſe-
rer Jugend beruht zum Theil darauf, daß wir,
bergauf gehend, den Tod nicht ſehen, weil er am
Fuße der anderen Seite des Berges liegt. Haben
wir aber den Gipfel überſchritten, dann werden
wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom
Hörenſagen kannten, wirklich anſichtig, wodurch,
da zu derſelben Zeit die Lebenskraft zu ebben
beginnt, auch der Lebensmuth ſinkt.

Selten iſt der Gedanke des Menſchen an
die Zukunft ſo lebhaft als am Beginne eines
neuen Jahres. Das Jahr iſt eben das wichtigſte
der größeren Zeitmaße. Nach Jahren berechnen
wir unſer Alter, nach Jahren rechnet die Ge-
[Spaltenumbruch] ſchichtsſchreibung, auf der Jahresrechnung beruhen
eine Menge bürgerlicher Einrichtungen. Das Be-
wußtſein dieſer Bedeutung macht den Jahresan-
fang zu einem wichtigen Abſchnitt im Leben des
Einzelnen, gleichwie im Leben der Geſellſchaft
und des Staates. Wenn diejenigen, welche ſich
über den Werth des Lebens Rechenſchaft geben,
an dieſen Markſteinen der Zeit nicht gedanken-
los, ſondern in einer gewiſſen felerlichen Stim-
mung vorübergehen, ſo iſt das ganz natürlich.

„Das Leben“, ſagt Jean Paul, „gleicht
einem Buche, Thoren durchblättern es flüchtig,
Weiſe leſen es mit Bedacht, weil ſie wiſſen, daß
ſie es nur einmal leſen können.“ Halten wir
dieſes Gleichniß feſt, ſo iſt der Jahres-Anfang ein
neues Capitel, das wir beginnen. Wir haben um
ſo mehr Grund, unſere Aufmerkſamkeit zu verdop-
peln, als wir nicht wiſſen, ob dieſem Capitel noch
andere Capitel folgen werden, ja ob es nicht für
uns vielleicht gerade an einer recht intereſſanten
Stelle unvollendet abbricht.

Ganz zutreffend iſt Jean Paul’s Gleichniß
aber doch nicht. Bei einem guten Roman kann
es allerdings geſchehen, daß wir uns für den
Helden der Geſchichte lebhaft intereſſiren, daß
ſeine Geſchicke uns faſt ſo nahe gehen wie eigene
Erlebniſſe. Aber doch ſind wir dabei nur paſſive
Zuſchauer, während wir im Roman unſeres Le-
bens der Held ſelbſt ſind, der handelnd ſeine
Geſchicke geſtaltet oder wenigſtens, da auch äußere,
von uns unabhängige Umſtände in dieſelben ein-
[Spaltenumbruch] greifen, modificirt. Das neue Lebens-Capitel, das
mit dem Jahreswechſel für uns beginnt, hat
alſo ein ungleich höheres Intereſſe für uns, als
ein gewöhnliches Roman-Capitel, das nur äſthe-
tiſch auf uns wirkt. Der Kampf des Helden mit
ſeinem Schickſal, er iſt unſer Kampf, ſeine Siege,
ſeine Niederlagen, ſeine Erfolge, ſeine Enttäu-
ſchungen, ſie ſind unſere Siege, unſere Nieder-
lagen, unſere Erfolge, unſere Enttäuſchungen,
ſeine Leiden und Freuden, ſie ſind unſere Leiden,
unſere Freuden, ſein Glück, ſein Unglück, ſie ſind
unſer Glück, unſer Unglück.

So läſtig die Sitte, unſeren Freunden und
Bekannten zum Jahreswechſel Glück zu wün-
ſchen, ſein mag, wenn es weiter nichts als eine
leere Formalität iſt, ſo vernünftig iſt ſie, wenn
unſere Wünſche ernſt gemeint ſind. Denn was
liegt denn allen unſeren Wünſchen, Hoffnungen,
Beſtrebungen, Beſorgniſſen für uns und Dieje-
nigen, die uns theuer ſind, zu Grunde? Auch
der Selbſtloſeſte, wenn er tiefere Blicke in ſein
eigenes Ich gethan hat und der Wahrheit die
Ehre geben will, wird antworten müſſen, es ſei
der unſtillbare Durſt nach jenem idealen Gute,
das wir vollſtändig und dauernd zwar nirgends
verwirklicht ſehen, dem wir aber mit nimmer-
müder Ausdauer fort und fort entgegenſtreben:
das Glück.

Man mag die Sehnſucht nach dieſem Gut
noch ſo ſehr bemänteln, man mag ſie als ſelbſt-
üchtig verdammen: ſie läßt ſich weder durch ſo-


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[[2]/0002] 1889. Olmütz, 31. December. = An jede kommende Stunde knüpft der Menſch neues Hoffen, friſches Wünſchen. Die Summe dieſes Hoffens und Wünſchens drängt er an den Wendepunkten der Zeit zuſammen, an denen ihm zugleich klar wird, was von dem Gehoff- ten und Gewünſchten ſich erfüllt, und welchen Wün- ſchen die Erfüllung verſagt war. Manche Erwartung, die das neue Jahr gebar, ſinkt mit dem ſcheiden- den Jahre ins Grab. Doch der Menſch verlernt das Hoffen nicht, und die Völker ſind wie die Individuen, ſie pflanzen immer von Neuem die Hoffnungsfahne auf. Sie iſt für ſie auch ein Zeichen der inneren Lebenskraft, die in einem Volke wohnt, ein Symptom unverwelklichen Lebens- triebes. Nur wer zu hoffen aufgehört, hat von der Zeit nichts mehr zu erwarten. Das deutſche Bolk in Oeſterreich gehört nicht zu Jenen, die ihr Hoffen aufgegeben. Zwar iſt es im verfloſſenen Jahre um manche Enttäuſchung reicher, um manches Hoffen ärmer geworden; allein es ver- ſank darob nicht in muthloſes Zagen, in ſtarre Willen- und Thatenloſigkeit. Was widriges Ge- ſchick, und ein Syſtem, das ſeinen politiſchen und nationalen Widerſachern dienlich iſt, ihm auch an Machtbeſitz zu entreißen bemüht war, hat nur dazu beigetragen, das Bewußtſein der eigenen Kraft und Bedeutung in ihm zu wecken, es auf- zurütteln aus langjähriger, gutmüthiger Unthätig- keit und es mit dem heißen, drangvollen Streben zu durchdringen, daß es ſeine Kraft geltend mache, und bewähre in mitten des Anſturmes feindlicher Gewalten. Dieſes erwachende und ſtetig wachſende nationale Bewußtſein, das ein mächtiger Factor geworden iſt in der Entwicklung des ſtaatlichen Lebens, überwiegt weit an Bedeutung den Rück- gang an äußerer Machtfülle, der unſerem Volke auch im verfloſſenen Jahre nicht erſpart blieb. Denn es hieße eigenſinnig die Augen ver- ſchließen, wollten wir dieſen Rückgang nicht merken, wollten wir nicht ſehen, wie von Oſt und Süd die brandenden Wogen des überſchäumenden ſlaviſchen Völkermeeres wild gegen die deutſchen Ufer anprallen und Stück für Stück abbröckeln. Schon ſind die wildfluthenden Gewäſſer tief in deutſches Land gedrungen, ſchon haben ſie den Grund, auf dem unſere feſten Burgen, die deut- ſchen Städte ſtehen, vielfach unterwühlt und wäl- zen nun ihre Wogen bis ins Herz des Reiches, bis an die Thore der Reichshauptſtadt, der ſtol- zen Vindobona. Wahrlich, es iſt kein freundliches Bild, das uns zum neuen Jahre da entgegen- lacht, und es wird nur noch häßlicher, wenn wir es unter dem Geſichtspuncte jener Gleichberechti- gung betrachten, in deren Namen man immer von Neuem das Slaventhum auf Koſten des Deutſchthums zu erheben bemüht iſt. Dem Bilde läßt ſich auch dann keine Lichtſeite abgewinnen, wenn wir es in die Beleuchtung rücken, welche der Friedensbund, der uns mit dem deutſchen Reiche eint, ausſtrahlt. Denn wie ſehr auch poli- tiſche Heuchelei die Augen verdrehen, und tſchechiſche Staatskunſt diplomatiſch ſchkau ſich winden mag, man weiß es allerorten und nicht am wenigſten dort, wo die Geſchicke der Völker heute entſchie- den werden, daß die im Augenblicke herrſchenden Parteien Oeſterreichs die deutſche Allianz miß- günſtigen Blickes betrachten, daß ihnen das köſt- lichſte Neujahrsgeſchenk die Nachricht wäre, dieſe Allianz ſei geſprengt, und der Bund zerriſſen, der Europas Frieden ſichert. Offen und laut wagt ſich ſolche Geſinnung nicht hervor; aber im inner- ſten Herzen da regt ſie ſich und wartet nur des Anlaſſes ſich zu offenbaren. Die Deutſchen in Oeſterreich ſind Freunde des Bündniſſes, weil ſie Freunde des deutſchen Volkes, Freunde des Frie- dens und des großen, neuerſtarkten deutſchen Rei- ches ſind, das mit ſeinem ſtarken Schwerte dieſen Frieden und damit auch Oeſterreich ſchützt und ſchirmt. Dieſe unſere Freundſchaft trat im ver- floſſenen Jahre deutlich zu Tage, als das deutſche Volk raſch nacheinander ſeine großen National- helden verlor, den 91jährigen erhabenen Gründer des Reiches und ſeinen edlen Sohn, jenen Fried- rich, der ein Held und Weiſer zugleich ſeinem Volke ein leuchtendes Vorbild war. Mit dem ge- ſammten deutſchen Volke betrauerten auch wir den Hingang der großen Kronenträger; mit ihm freuten wir uns, daß das deutſche Reich in Wil- helm II. einen kräftigen, friedliebenden Regen- ten fand. Am 18. Juni erſchien die Proclamation Kaiſer Wilhelm’s II. Der junge Kaiſer verſprach in derſelben an die durch ſeinen verſchiedenen Großvater geſchaffenen Bedingungen anknüpfen und ein Fürſt des Friedens ſein zu wollen, ſo lange dies mit der Ehre des deutſchen Namens nur irgend verträglich iſt. Inzwiſchen hatten ſich die deutſchen Herzöge und Könige in Berlin ver- ſammelt, um der feierlichen Eröffnung des Reichs- tages beizuwohnen. Dieſe erfolgte am 25. Juni. Da war eine Pracht und Herrlichkeit zu ſehen, wie man ſie ſeit den alten deutſchen Kaiſertagen zu Aachen, Worws und Regensburg nicht mehr ge- ſchen hatte. Das Ausland hatte, ſo weit es feindlich iſt, von den Todesfällen im Hauſe Hohenzollern eine Lockerung der Reichseinheit er- wartet. Jetzt aber erſchrak es, als es den ſtolzen Kaiſerjüngling mitten unter ſeinen Großen und Paladinen ſah. Noch war die öffentliche Discuſſion über die Frage nicht abgeſchloſſen, ob Wilhelm II. es ernſt meine mit ſeinem Friedensprogramme, als der Kaiſer am 14. Juli von Kiel aus ſeine Nordlandsfahrten antrat, um Rußland, Schweden und Dänemark zu beſuchen um die dortigen Gewalthaber für die Erhaltung des Weltfriedens zu gewinnen. Auf ſeiner Rückreiſe hielt er ſich in Friedrichsruhe auf, für 24 Stunden ein Gaſt des Reichskanzlers, dem Wilhelm II, eine wo- möglich noch größere Verehrung entgegenbringt, als ſein kaiſerlicher Großvater. Im October er- folgten die Beſuche in Baden, Württemberg und Baiern, in Wien und Rom. Die Nordlands- fahrt ging zu den Verwandten, die Reiſe nach dem Süden aber galt den Freunden und Bundes- genoſſen. Feſter als jemals ſteht ſeither die Friedensliga, feſter als jemals auch unſer Ver- trauen, daß, was immer auch kommen möge, die phantaſtiſchen Pläne jener ſlaviſchen Politiker ſich verwirklichen könnten, die auf dem Nacken des deutſchen Volkes zur Höhe emporſteigen möchten. Inmitten des großen Weltgetriebes ſteht unſer Reich, und die Weltereigniſſe ſind mächti- ger, als die kleinlichen Mühen und Künſte, die man aufwendet, um unſeren Staat entgegen der großen Strömung nach Concentrirung aller ſchaffenden Kräfte in die ſumpfigen Gewäſſer des Rückſchrittes und der Spaltung zu leiten. Das iſt unſere Ueberzeugung heute wie immer. Man kann die föderaliſtiſchen Aſpirationen künſtlich züchten und mit Hilfe der tſchechiſchen und cleri- calen Heerhaufen eine Weile nach rückwärts ſteuern: allein auf die Dauer wird ſolcher Curs nicht eingehalten werden können. Mit dieſem un- erſchütterten Vertrauen zu unſerer eigenen, zur Kraft unſeres Volkes, begrüßen wir das neue Jahr. Möge es unſerem Vaterlande im treuen Bunde mit dem alten deutſchen Genoſſen auch den alten Glanz und das alte Glück bringen. Erfreuliches aus Südtirol. Olmütz, 31. December. Vor uns liegt eine Correſpondenz, die einige erfreuliche Mittheilungen über die Entwicklung des deutſchen Elementes, in Südtirol enthält und von den Deutſchen, die ſich ſeit Jahren überall in unſerer Monarchie im Nord und Süd, Oſt und Weſt zurückgedrängt, ja nicht ſelten in ihrer nationalen Exiſtenz bedroht ſehen, ſicherlich mit Befriedigung geleſen werden wird. Im Gegen- ſatze zu den Verluſten, welche das deutſche Sprach- gebiet im ſüdlichen Tirol im Laufe der letzten Jahrhunderte erlitten hat — das Suganer Thal, die Thäler oſtwärts von Roveredo, die deutſchen Orte im Süden des Caldnazzoſees, die Dörfer im Paneid (Piné) und einzelne Ortſchaften im Etſchthale ſüdwärts von Salurn ſind faſt ganz verwelſcht worden und nur noch ſpärliche Trüm- mer deutſchen Lebens vermag der Forſcher heute daſelbſt aufzufinden — wird jedenfalls in den nächſten Jahrzehnten ein nicht unbeträchtliches Gebiet nomaniſcher Bevolkerung, das durch ſeine Spielwaaren- überhaupt Holzinduſtrie bekannte Grödner Thal oſtwärts von Waidbruck der deut- ſchen Zunge zufallen. Die Ortſchaften dieſes Tha- les, St. Ulrich mit Außer-St.-Jakob, Pufels mit Runpaditſch, Ueberwaſſer, St. Chriſtina mit Inner-St.-Jakob und Wolkenſtein, werden von ungefähr 3500 Bewohnern oſtladiniſchen Stam- Gar Vieles bleibt daher unbeachtet und wird bald vergeſſen. Außerdem haben wir in dieſem Alter ſchon viele Illuſionen von uns geſtreift und ſind in der Abſchätzung ſo mancher wirklichen oder vermeintlichen menſchlichen Güter nüchterner geworden, ſo daß ſelbſt neue und erfreuliche Er- ſcheinungen nicht mehr in der ganzen früheren Machtfülle auf uns wirken. In Folge deſſen er- ſcheinen uns die Jahre, je älter wir werden, deſto inhaltsleerer, daher kürzer und immer kürzer. Der Grund-Unterſchied zwiſchen Jugend und Alter — und auch darin müſſen wir Schopen- hauer Recht geben — bleibt immer, daß jene das Leben, dieſes den Tod vor ſich hat, daß alſo jene eine kurze Vergangenheit und lange Zukunft beſitzt: dieſes umgekehrt. Auch die Grundſtimmung der verſchiedenen Altersperioden iſt in Betracht zu ziehen. „Die Heiterkeit und der Lebensmuth unſe- rer Jugend beruht zum Theil darauf, daß wir, bergauf gehend, den Tod nicht ſehen, weil er am Fuße der anderen Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel überſchritten, dann werden wir den Tod, welchen wir bis dahin nur vom Hörenſagen kannten, wirklich anſichtig, wodurch, da zu derſelben Zeit die Lebenskraft zu ebben beginnt, auch der Lebensmuth ſinkt. Selten iſt der Gedanke des Menſchen an die Zukunft ſo lebhaft als am Beginne eines neuen Jahres. Das Jahr iſt eben das wichtigſte der größeren Zeitmaße. Nach Jahren berechnen wir unſer Alter, nach Jahren rechnet die Ge- ſchichtsſchreibung, auf der Jahresrechnung beruhen eine Menge bürgerlicher Einrichtungen. Das Be- wußtſein dieſer Bedeutung macht den Jahresan- fang zu einem wichtigen Abſchnitt im Leben des Einzelnen, gleichwie im Leben der Geſellſchaft und des Staates. Wenn diejenigen, welche ſich über den Werth des Lebens Rechenſchaft geben, an dieſen Markſteinen der Zeit nicht gedanken- los, ſondern in einer gewiſſen felerlichen Stim- mung vorübergehen, ſo iſt das ganz natürlich. „Das Leben“, ſagt Jean Paul, „gleicht einem Buche, Thoren durchblättern es flüchtig, Weiſe leſen es mit Bedacht, weil ſie wiſſen, daß ſie es nur einmal leſen können.“ Halten wir dieſes Gleichniß feſt, ſo iſt der Jahres-Anfang ein neues Capitel, das wir beginnen. Wir haben um ſo mehr Grund, unſere Aufmerkſamkeit zu verdop- peln, als wir nicht wiſſen, ob dieſem Capitel noch andere Capitel folgen werden, ja ob es nicht für uns vielleicht gerade an einer recht intereſſanten Stelle unvollendet abbricht. Ganz zutreffend iſt Jean Paul’s Gleichniß aber doch nicht. Bei einem guten Roman kann es allerdings geſchehen, daß wir uns für den Helden der Geſchichte lebhaft intereſſiren, daß ſeine Geſchicke uns faſt ſo nahe gehen wie eigene Erlebniſſe. Aber doch ſind wir dabei nur paſſive Zuſchauer, während wir im Roman unſeres Le- bens der Held ſelbſt ſind, der handelnd ſeine Geſchicke geſtaltet oder wenigſtens, da auch äußere, von uns unabhängige Umſtände in dieſelben ein- greifen, modificirt. Das neue Lebens-Capitel, das mit dem Jahreswechſel für uns beginnt, hat alſo ein ungleich höheres Intereſſe für uns, als ein gewöhnliches Roman-Capitel, das nur äſthe- tiſch auf uns wirkt. Der Kampf des Helden mit ſeinem Schickſal, er iſt unſer Kampf, ſeine Siege, ſeine Niederlagen, ſeine Erfolge, ſeine Enttäu- ſchungen, ſie ſind unſere Siege, unſere Nieder- lagen, unſere Erfolge, unſere Enttäuſchungen, ſeine Leiden und Freuden, ſie ſind unſere Leiden, unſere Freuden, ſein Glück, ſein Unglück, ſie ſind unſer Glück, unſer Unglück. So läſtig die Sitte, unſeren Freunden und Bekannten zum Jahreswechſel Glück zu wün- ſchen, ſein mag, wenn es weiter nichts als eine leere Formalität iſt, ſo vernünftig iſt ſie, wenn unſere Wünſche ernſt gemeint ſind. Denn was liegt denn allen unſeren Wünſchen, Hoffnungen, Beſtrebungen, Beſorgniſſen für uns und Dieje- nigen, die uns theuer ſind, zu Grunde? Auch der Selbſtloſeſte, wenn er tiefere Blicke in ſein eigenes Ich gethan hat und der Wahrheit die Ehre geben will, wird antworten müſſen, es ſei der unſtillbare Durſt nach jenem idealen Gute, das wir vollſtändig und dauernd zwar nirgends verwirklicht ſehen, dem wir aber mit nimmer- müder Ausdauer fort und fort entgegenſtreben: das Glück. Man mag die Sehnſucht nach dieſem Gut noch ſo ſehr bemänteln, man mag ſie als ſelbſt- üchtig verdammen: ſie läßt ſich weder durch ſo-

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 299, Olmütz, 31.12.1888, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches299_1888/2>, abgerufen am 21.11.2024.