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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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R. Calwer: Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Literatur. 663
allerdings hier noch nicht gefunden worden, aber auch hier sind im hastigen
Suchen nach dem verborgenen Zaubermittel viel nutzbringende und bleibende
Kulturerfindungen gemacht worden. Trotz der ermutigenden Tariferfolge ist
das große soziale Problem unserer Zeit noch ungelöst." Gewiß, aber gerade
deshalb ist der Titel "Gewerbliche Friedensdokumente" verfehlt. Die Tarif-
gemeinschaft ist ein Erfolg der Arbeiterorganisation; sie schwächt keineswegs
den Klassenkampf ab, sondern ändert nur die Art des Kämpfens. die Einzel-
kämpfe werden seltener, wenige Massenkämpfe lösen sie ab. Da aber Kämpfe
großen Stiles nicht nur viel Geld und sonstige Opfer erfordern, auch das
Risiko stark erhöht ist, ist klar, daß mit dem Abschluß von Tarifgemeinschaften
der Streik als eine ultima ratio behandelt wird, der so selten wie nur
möglich zur Anwendung gebracht wird. Jnsofern ist zuzugeben, daß Tarif-
gemeinschaften den Streik seltener machen. Aber in der Zeit vom Abschluß
eines Tarifvertrages bis zur Erneuerung sind Arbeitgeber und Arbeiter be-
müht, ihre Position durch Ausbau der Organisation und durch Stärkung
des finanziellen Rückgrats so zu bessern, daß bei einem entstehenden Konflikt
jeder Partner sich die Kraft zutrauen kann, den Gegner zu überwinden. Ob
es tatsächlich zum Streik kommt, steht erst in zweiter Linie. Die Hauptsache
ist vielmehr, daß die beiden Parteien im Klassenkampfe nicht aufhören, sich
als Jnteressengegner zu betrachten und im Hinblick auf einen möglichen Kampf
alle Vorkehrungen, den Gegner zu überwinden, treffen. Dieses Moment muß
bei der Beurteilung der Bedeutung der Tarifgemeinschaften als wesentlich be-
achtet werden. Wenn dem aber so ist, dann könnte man andererseits auch die
Jeremiaden über den korrumpierenden Charakter der kollektiven Arbeitsverträge
ruhig einstellen. Man finde sich endlich damit ab, daß solche Verträge not-
wendig sind und sinne lieber darauf, wie sie für die Arbeiter zu verbessern
sind. Hier kann eine Diskussion nichts schaden, da in der Tat beim Abschluß
langfristiger Verträge die Jnteressen des Arbeitsmarktes viel schwieriger zu
wahren sind, als die der Arbeitgeber.

*

Es fehlt noch viel, damit die deutsche Wirtschaftspolitik Wege geht, durch
die das soziale Niveau der Arbeiterbevölkerung systematisch und wesentlich
gehoben wird. Jm Mittelpunkt aller Wirtschaftspolitik hat im zwanzigsten
Jahrhundert das Jnteresse des Arbeitsmarktes zu stehen. Unsere auswärtige
Politik vor allem wird früher kein festes Ziel verfolgen können, bevor sie
nicht auf diese Hauptaufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik eingestellt ist.
Großzügig war die deutsche auswärtige Politik geleitet, als Bismarck die
politische Einigung Deutschlands betrieb, deren ökonomischer Nutzen die
Schaffung eines großen nationalen Wirtschaftsgebietes war. Nach welchem
Ziele strebt aber heute unsere auswärtige Politik? Wir reden so viel von
Weltpolitik, machen auch einen großen Aufwand durch den Bau einer starken
Flotte, suchen uns kolonial zu betätigen, aber wir betreiben die Weltpolitik
doch immer noch als einen gewissen Sport, während sie doch nur Sinn und
Zweck hat, wenn eine aus den wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergebende innere
Notwendigkeit dem deutschen Volke ein weltpolitisches Ziel aufzwingt, das wir
um der Selbsterhaltung und des Fortschrittes willen zu erreichen suchen müssen.
Eine treffende Kritik unserer gegenwärtigen auswärtigen Politik, die das
Sportmäßige des Betriebes scharf hervortreten läßt, findet sich in der anonymen

R. Calwer: Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Literatur. 663
allerdings hier noch nicht gefunden worden, aber auch hier sind im hastigen
Suchen nach dem verborgenen Zaubermittel viel nutzbringende und bleibende
Kulturerfindungen gemacht worden. Trotz der ermutigenden Tariferfolge ist
das große soziale Problem unserer Zeit noch ungelöst.“ Gewiß, aber gerade
deshalb ist der Titel „Gewerbliche Friedensdokumente“ verfehlt. Die Tarif-
gemeinschaft ist ein Erfolg der Arbeiterorganisation; sie schwächt keineswegs
den Klassenkampf ab, sondern ändert nur die Art des Kämpfens. die Einzel-
kämpfe werden seltener, wenige Massenkämpfe lösen sie ab. Da aber Kämpfe
großen Stiles nicht nur viel Geld und sonstige Opfer erfordern, auch das
Risiko stark erhöht ist, ist klar, daß mit dem Abschluß von Tarifgemeinschaften
der Streik als eine ultima ratio behandelt wird, der so selten wie nur
möglich zur Anwendung gebracht wird. Jnsofern ist zuzugeben, daß Tarif-
gemeinschaften den Streik seltener machen. Aber in der Zeit vom Abschluß
eines Tarifvertrages bis zur Erneuerung sind Arbeitgeber und Arbeiter be-
müht, ihre Position durch Ausbau der Organisation und durch Stärkung
des finanziellen Rückgrats so zu bessern, daß bei einem entstehenden Konflikt
jeder Partner sich die Kraft zutrauen kann, den Gegner zu überwinden. Ob
es tatsächlich zum Streik kommt, steht erst in zweiter Linie. Die Hauptsache
ist vielmehr, daß die beiden Parteien im Klassenkampfe nicht aufhören, sich
als Jnteressengegner zu betrachten und im Hinblick auf einen möglichen Kampf
alle Vorkehrungen, den Gegner zu überwinden, treffen. Dieses Moment muß
bei der Beurteilung der Bedeutung der Tarifgemeinschaften als wesentlich be-
achtet werden. Wenn dem aber so ist, dann könnte man andererseits auch die
Jeremiaden über den korrumpierenden Charakter der kollektiven Arbeitsverträge
ruhig einstellen. Man finde sich endlich damit ab, daß solche Verträge not-
wendig sind und sinne lieber darauf, wie sie für die Arbeiter zu verbessern
sind. Hier kann eine Diskussion nichts schaden, da in der Tat beim Abschluß
langfristiger Verträge die Jnteressen des Arbeitsmarktes viel schwieriger zu
wahren sind, als die der Arbeitgeber.

*

Es fehlt noch viel, damit die deutsche Wirtschaftspolitik Wege geht, durch
die das soziale Niveau der Arbeiterbevölkerung systematisch und wesentlich
gehoben wird. Jm Mittelpunkt aller Wirtschaftspolitik hat im zwanzigsten
Jahrhundert das Jnteresse des Arbeitsmarktes zu stehen. Unsere auswärtige
Politik vor allem wird früher kein festes Ziel verfolgen können, bevor sie
nicht auf diese Hauptaufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik eingestellt ist.
Großzügig war die deutsche auswärtige Politik geleitet, als Bismarck die
politische Einigung Deutschlands betrieb, deren ökonomischer Nutzen die
Schaffung eines großen nationalen Wirtschaftsgebietes war. Nach welchem
Ziele strebt aber heute unsere auswärtige Politik? Wir reden so viel von
Weltpolitik, machen auch einen großen Aufwand durch den Bau einer starken
Flotte, suchen uns kolonial zu betätigen, aber wir betreiben die Weltpolitik
doch immer noch als einen gewissen Sport, während sie doch nur Sinn und
Zweck hat, wenn eine aus den wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergebende innere
Notwendigkeit dem deutschen Volke ein weltpolitisches Ziel aufzwingt, das wir
um der Selbsterhaltung und des Fortschrittes willen zu erreichen suchen müssen.
Eine treffende Kritik unserer gegenwärtigen auswärtigen Politik, die das
Sportmäßige des Betriebes scharf hervortreten läßt, findet sich in der anonymen

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[663/0023] R. Calwer: Wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Literatur. 663 allerdings hier noch nicht gefunden worden, aber auch hier sind im hastigen Suchen nach dem verborgenen Zaubermittel viel nutzbringende und bleibende Kulturerfindungen gemacht worden. Trotz der ermutigenden Tariferfolge ist das große soziale Problem unserer Zeit noch ungelöst.“ Gewiß, aber gerade deshalb ist der Titel „Gewerbliche Friedensdokumente“ verfehlt. Die Tarif- gemeinschaft ist ein Erfolg der Arbeiterorganisation; sie schwächt keineswegs den Klassenkampf ab, sondern ändert nur die Art des Kämpfens. die Einzel- kämpfe werden seltener, wenige Massenkämpfe lösen sie ab. Da aber Kämpfe großen Stiles nicht nur viel Geld und sonstige Opfer erfordern, auch das Risiko stark erhöht ist, ist klar, daß mit dem Abschluß von Tarifgemeinschaften der Streik als eine ultima ratio behandelt wird, der so selten wie nur möglich zur Anwendung gebracht wird. Jnsofern ist zuzugeben, daß Tarif- gemeinschaften den Streik seltener machen. Aber in der Zeit vom Abschluß eines Tarifvertrages bis zur Erneuerung sind Arbeitgeber und Arbeiter be- müht, ihre Position durch Ausbau der Organisation und durch Stärkung des finanziellen Rückgrats so zu bessern, daß bei einem entstehenden Konflikt jeder Partner sich die Kraft zutrauen kann, den Gegner zu überwinden. Ob es tatsächlich zum Streik kommt, steht erst in zweiter Linie. Die Hauptsache ist vielmehr, daß die beiden Parteien im Klassenkampfe nicht aufhören, sich als Jnteressengegner zu betrachten und im Hinblick auf einen möglichen Kampf alle Vorkehrungen, den Gegner zu überwinden, treffen. Dieses Moment muß bei der Beurteilung der Bedeutung der Tarifgemeinschaften als wesentlich be- achtet werden. Wenn dem aber so ist, dann könnte man andererseits auch die Jeremiaden über den korrumpierenden Charakter der kollektiven Arbeitsverträge ruhig einstellen. Man finde sich endlich damit ab, daß solche Verträge not- wendig sind und sinne lieber darauf, wie sie für die Arbeiter zu verbessern sind. Hier kann eine Diskussion nichts schaden, da in der Tat beim Abschluß langfristiger Verträge die Jnteressen des Arbeitsmarktes viel schwieriger zu wahren sind, als die der Arbeitgeber. * Es fehlt noch viel, damit die deutsche Wirtschaftspolitik Wege geht, durch die das soziale Niveau der Arbeiterbevölkerung systematisch und wesentlich gehoben wird. Jm Mittelpunkt aller Wirtschaftspolitik hat im zwanzigsten Jahrhundert das Jnteresse des Arbeitsmarktes zu stehen. Unsere auswärtige Politik vor allem wird früher kein festes Ziel verfolgen können, bevor sie nicht auf diese Hauptaufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik eingestellt ist. Großzügig war die deutsche auswärtige Politik geleitet, als Bismarck die politische Einigung Deutschlands betrieb, deren ökonomischer Nutzen die Schaffung eines großen nationalen Wirtschaftsgebietes war. Nach welchem Ziele strebt aber heute unsere auswärtige Politik? Wir reden so viel von Weltpolitik, machen auch einen großen Aufwand durch den Bau einer starken Flotte, suchen uns kolonial zu betätigen, aber wir betreiben die Weltpolitik doch immer noch als einen gewissen Sport, während sie doch nur Sinn und Zweck hat, wenn eine aus den wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergebende innere Notwendigkeit dem deutschen Volke ein weltpolitisches Ziel aufzwingt, das wir um der Selbsterhaltung und des Fortschrittes willen zu erreichen suchen müssen. Eine treffende Kritik unserer gegenwärtigen auswärtigen Politik, die das Sportmäßige des Betriebes scharf hervortreten läßt, findet sich in der anonymen

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 663. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/23>, abgerufen am 24.11.2024.