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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht. 661

Selbst die gemäßigten Liberalen Rußlands sehen ein, daß eine aus all-
gemeinen Wahlen hervorgegangene Volksvertretung Erfordernis der Zeit ist
und sprechen nur von dem Vorbeugemittel eines "mäßigen Wahlzensus".
Zwischen die reaktionären und die demokratischen Kräfte des Landes gedrängt,
werden sie aber im Notfalle auch das allgemeine, gleiche Wahlrecht accep-
tieren, genau wie die demokratischen Konstitutionellen sich nicht gegen die Re-
publik sperren würden, wenn der Sturmwind der Revolution diese auf die
Tagesordnung setzt.

Wird es dahin kommen, und wann? Niemand kann es voraussagen.
Den Skeptikern im Auslande aber sagt die soeben erschienene Schrift M. von
Reußners über die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit ( Halle, Gebauer
u. Schwetschke ) , daß sie sich hüten müssen, die russische Gesellschaft nach dem
Muster der besitzenden Klassen Westeuropas zu beurteilen, daß weder der
Adel in seiner Masse feudalistisch gesinnt, noch das Bürgertum so engherzig
im Kasten= und Klassengeist eingeschachtelt ist, wie etwa -- nun, wie es
zum großen Teil im Staate Vorder=Rußland der Fall ist.

Jn der Tat, seit wann ist es in Preußen vorgekommen, daß Aerzte,
daß Professoren, daß Advokaten in großen Konferenzen, daß von Hunderten
von Besitzenden besuchte Bankette, daß Versammlungen von Adelsvertretern
sich unumwunden für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht er-
klärten? Seit wann -- wann überhaupt je, -- haben unsere Gebildeten
sich mit Verfolgten aus der Arbeiterklasse solidarisch erklärt, den Herrschen-
den, die auf Arbeiter geschossen, das Wort "Mord!" entgegengerufen, wie
das aus dem Landadel und sonstigen Besitzenden zusammengesetzte Semstwos es
getan haben? Seit wann? Vor wenigen Tagen brachte das Berliner Tageblatt
einen ganzen Leitartikel "Der Kaiser und die Presse", worin mit Behagen erzählt
ward, wie der Vertreter einer großen amerikanischen Nachrichtenagentur
wahrscheinlich den deutschen Kaiser zu dem Wort von den "kommandierenden
Generälen unter den Journalisten" angeregt habe -- ein Titel, auf den in
diesem Falle die Presse wirklich nicht besonders stolz zu sein braucht, denn
jene Sorte Generäle sind gewöhnlich mehr Offiziöse als Offiziere. Ein libe-
rales Blatt, wie es das "Tageblatt" sein will, hätte bessere Anlässe, die Würde
der Presse geltend zu machen. Wo war sein Solidaritätsgefühl, als Herr
von Budde dieser Zeitschrift den Verkauf auf den Bahnhöfen entzog, wo bei
ähnlichen Preßmaßregelungen? Entweder hält man es überhaupt nicht der Mühe
wert, der Sache zu erwähnen, oder man begnügt sich mit ein paar gleich-
gültigen Redensarten. Es ist nur ein Beispiel im kleinen, aber es
zeigt, warum wir im Staate der Jntelligenz Preußen noch eine Spottgeburt
von Wahlsystem haben, das in seinem innersten Wesen ständisch=feudalen Geist
atmet, wo in dem zurückgebliebenen Zarenreiche aus dem Munde der Elite
der gebildeten Klassen fast unisono der Ruf ertönt: Allgemeines, gleiches und
direktes Wahlrecht! Ach, wir sind in Preußen weit voran!



Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht. 661

Selbst die gemäßigten Liberalen Rußlands sehen ein, daß eine aus all-
gemeinen Wahlen hervorgegangene Volksvertretung Erfordernis der Zeit ist
und sprechen nur von dem Vorbeugemittel eines „mäßigen Wahlzensus“.
Zwischen die reaktionären und die demokratischen Kräfte des Landes gedrängt,
werden sie aber im Notfalle auch das allgemeine, gleiche Wahlrecht accep-
tieren, genau wie die demokratischen Konstitutionellen sich nicht gegen die Re-
publik sperren würden, wenn der Sturmwind der Revolution diese auf die
Tagesordnung setzt.

Wird es dahin kommen, und wann? Niemand kann es voraussagen.
Den Skeptikern im Auslande aber sagt die soeben erschienene Schrift M. von
Reußners über die russischen Kämpfe um Recht und Freiheit ( Halle, Gebauer
u. Schwetschke ) , daß sie sich hüten müssen, die russische Gesellschaft nach dem
Muster der besitzenden Klassen Westeuropas zu beurteilen, daß weder der
Adel in seiner Masse feudalistisch gesinnt, noch das Bürgertum so engherzig
im Kasten= und Klassengeist eingeschachtelt ist, wie etwa — nun, wie es
zum großen Teil im Staate Vorder=Rußland der Fall ist.

Jn der Tat, seit wann ist es in Preußen vorgekommen, daß Aerzte,
daß Professoren, daß Advokaten in großen Konferenzen, daß von Hunderten
von Besitzenden besuchte Bankette, daß Versammlungen von Adelsvertretern
sich unumwunden für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht er-
klärten? Seit wann — wann überhaupt je, — haben unsere Gebildeten
sich mit Verfolgten aus der Arbeiterklasse solidarisch erklärt, den Herrschen-
den, die auf Arbeiter geschossen, das Wort „Mord!“ entgegengerufen, wie
das aus dem Landadel und sonstigen Besitzenden zusammengesetzte Semstwos es
getan haben? Seit wann? Vor wenigen Tagen brachte das Berliner Tageblatt
einen ganzen Leitartikel „Der Kaiser und die Presse“, worin mit Behagen erzählt
ward, wie der Vertreter einer großen amerikanischen Nachrichtenagentur
wahrscheinlich den deutschen Kaiser zu dem Wort von den „kommandierenden
Generälen unter den Journalisten“ angeregt habe — ein Titel, auf den in
diesem Falle die Presse wirklich nicht besonders stolz zu sein braucht, denn
jene Sorte Generäle sind gewöhnlich mehr Offiziöse als Offiziere. Ein libe-
rales Blatt, wie es das „Tageblatt“ sein will, hätte bessere Anlässe, die Würde
der Presse geltend zu machen. Wo war sein Solidaritätsgefühl, als Herr
von Budde dieser Zeitschrift den Verkauf auf den Bahnhöfen entzog, wo bei
ähnlichen Preßmaßregelungen? Entweder hält man es überhaupt nicht der Mühe
wert, der Sache zu erwähnen, oder man begnügt sich mit ein paar gleich-
gültigen Redensarten. Es ist nur ein Beispiel im kleinen, aber es
zeigt, warum wir im Staate der Jntelligenz Preußen noch eine Spottgeburt
von Wahlsystem haben, das in seinem innersten Wesen ständisch=feudalen Geist
atmet, wo in dem zurückgebliebenen Zarenreiche aus dem Munde der Elite
der gebildeten Klassen fast unisono der Ruf ertönt: Allgemeines, gleiches und
direktes Wahlrecht! Ach, wir sind in Preußen weit voran!



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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 661. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/21>, abgerufen am 16.07.2024.