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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht. 659
Wirklichkeit findet sie keine Stütze. Die Volksmassen werden in Rußland wie
allerwärts den Tendenzen und Politikern folgen, welche diejenigen Reformen zu
versprechen und durchzuführen geeignet sind, die den dringenden Bedürfnissen
dieser Massen wirklich genüge zu leisten vermögen. Die wesentlichen Bedürfnisse
der Volksmassen in Rußland können aber nur durch umfassende ökonomische Re-
formen demokratischen Charakters befriedigt werden, welche keine der vorhandenen
und möglichen reaktionären Mächte in Rußland gutheißen wird. Zudem sind die
wirtschaftlich demokratischen Reformen im heutigen Rußland so komplizierter
Natur, daß ihre Verwirklichung die Kräfte eines von den Reaktionären geleiteten
Staatsapparates übersteigt."

Nicht besser stehe es um die Ansicht, daß unter dem allgemeinen Wahl-
recht eine reaktionäre Regierung den Bauern alles bewilligen werde, um mit
ihrer Hilfe jede Freiheitsbewegung im Lande erdrücken zu können.

" Wer da denkt, daß dies die Folge des Allgemeinen Wahlrechts in Ruß-
land sein werde, vergißt, daß die Regierung eines Landes keine abstrakte Kategorie
ist, die man für bestimmte Zwecke in jede beliebige Verbindung politischer und
sozialer Kräfte hineinversetzen kann. Die reaktionäre russische Regierung ist
eine bestimmte geschichtliche Erscheinung, das Produkt bestimmter sozialer Ver-
hältnisse, und kann nicht beliebig auf eine vollständig neue und andere soziale
Grundlage aufgepfropft werden. Die Semski Natschalniki, die Gouverneure, die
bureaukratischen Minister, die Großherzöge mit ihren Staats=Apanagen, der auto-
kratische Zar -- all das sind keine Abstraktionen, sondern lebendige Erscheinungen.
Sie, mit anderen Worten, die reaktionäre russische Regierung, kann nicht, um
ihre Macht zu bewahren, der Diener der bäuerlichen Klassen werden und sich
auf sie stützen. Das wäre ein soziologisches Wunder und ist nicht zu fürchten.
Die solide Einsetzung einer so radikalen politischen Reform wie das allgemeine
Stimmrecht kann selbst nur die Folge einer so radikalen Verschiebung der sozialen
Kräfte in unserem Lande sein, daß sie den mehr oder weniger dauernden Triumph
der Reaktion absolut unmöglich machen würde."

Vor politischen Spiegelfechtereien würden die Massen im Moment wirk-
licher politischer Freiheit durch jenen politischen Jnstinkt bewahrt werden,
den die Reaktionäre, und mit gutem Grund, stets gefürchtet haben und noch
fürchten.

" Diejenigen, welche den schädigenden Einfluß der reaktionären Kräfte auf
die bäuerlichen Wahlen fürchten, scheinen das große Reinigungswerk nicht in
Betracht zu ziehen, das von vornherein durch die bloße Tatsache der Auflösung
des autokratischen und bureaukratischen Regiments vollzogen werden und
das politische und soziale Bewußtsein der Massen gewaltig aufklären wird. Ver-
gesse man nicht, daß sich in Rußland eine ganze Revolution vollzieht, das heißt,
eine ungeheure Verschiebung der sozialen Kräfte, die die Beziehungen der politischen
Mächte gründlich umwälzen muß."

Zu einer halben Reform sei es für Rußland zu spät. Gerade weil
die politische Reform in Rußland so spät komme, müsse sie radikal sein. Ruß-
land befinde sich in einer sozialen Gährung, bedeutsame wirtschaftliche Um-
wälzungen haben sich vollzogen, die Massen regen sich, unzählige neue po-
litische Fragen tauchen auf, die Jntelligenz des Landes beschäftigt sich seit
langem mit ihnen, allerhand Lösungsvorschläge sind für sie ausgearbeitet,
und alles das drängt zur öffentlichen Behandlung, verlangt nach Ansatz-
möglichkeiten.

" Nur das allgemeine Wahlrecht kann all diesen sozialen Elementen eine
gleiche Möglichkeit gewähren, das genaue Maß ihrer Kraft festzustellen. Man
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Wirklichkeit findet sie keine Stütze. Die Volksmassen werden in Rußland wie
allerwärts den Tendenzen und Politikern folgen, welche diejenigen Reformen zu
versprechen und durchzuführen geeignet sind, die den dringenden Bedürfnissen
dieser Massen wirklich genüge zu leisten vermögen. Die wesentlichen Bedürfnisse
der Volksmassen in Rußland können aber nur durch umfassende ökonomische Re-
formen demokratischen Charakters befriedigt werden, welche keine der vorhandenen
und möglichen reaktionären Mächte in Rußland gutheißen wird. Zudem sind die
wirtschaftlich demokratischen Reformen im heutigen Rußland so komplizierter
Natur, daß ihre Verwirklichung die Kräfte eines von den Reaktionären geleiteten
Staatsapparates übersteigt.“

Nicht besser stehe es um die Ansicht, daß unter dem allgemeinen Wahl-
recht eine reaktionäre Regierung den Bauern alles bewilligen werde, um mit
ihrer Hilfe jede Freiheitsbewegung im Lande erdrücken zu können.

„ Wer da denkt, daß dies die Folge des Allgemeinen Wahlrechts in Ruß-
land sein werde, vergißt, daß die Regierung eines Landes keine abstrakte Kategorie
ist, die man für bestimmte Zwecke in jede beliebige Verbindung politischer und
sozialer Kräfte hineinversetzen kann. Die reaktionäre russische Regierung ist
eine bestimmte geschichtliche Erscheinung, das Produkt bestimmter sozialer Ver-
hältnisse, und kann nicht beliebig auf eine vollständig neue und andere soziale
Grundlage aufgepfropft werden. Die Semski Natschalniki, die Gouverneure, die
bureaukratischen Minister, die Großherzöge mit ihren Staats=Apanagen, der auto-
kratische Zar — all das sind keine Abstraktionen, sondern lebendige Erscheinungen.
Sie, mit anderen Worten, die reaktionäre russische Regierung, kann nicht, um
ihre Macht zu bewahren, der Diener der bäuerlichen Klassen werden und sich
auf sie stützen. Das wäre ein soziologisches Wunder und ist nicht zu fürchten.
Die solide Einsetzung einer so radikalen politischen Reform wie das allgemeine
Stimmrecht kann selbst nur die Folge einer so radikalen Verschiebung der sozialen
Kräfte in unserem Lande sein, daß sie den mehr oder weniger dauernden Triumph
der Reaktion absolut unmöglich machen würde.“

Vor politischen Spiegelfechtereien würden die Massen im Moment wirk-
licher politischer Freiheit durch jenen politischen Jnstinkt bewahrt werden,
den die Reaktionäre, und mit gutem Grund, stets gefürchtet haben und noch
fürchten.

„ Diejenigen, welche den schädigenden Einfluß der reaktionären Kräfte auf
die bäuerlichen Wahlen fürchten, scheinen das große Reinigungswerk nicht in
Betracht zu ziehen, das von vornherein durch die bloße Tatsache der Auflösung
des autokratischen und bureaukratischen Regiments vollzogen werden und
das politische und soziale Bewußtsein der Massen gewaltig aufklären wird. Ver-
gesse man nicht, daß sich in Rußland eine ganze Revolution vollzieht, das heißt,
eine ungeheure Verschiebung der sozialen Kräfte, die die Beziehungen der politischen
Mächte gründlich umwälzen muß.“

Zu einer halben Reform sei es für Rußland zu spät. Gerade weil
die politische Reform in Rußland so spät komme, müsse sie radikal sein. Ruß-
land befinde sich in einer sozialen Gährung, bedeutsame wirtschaftliche Um-
wälzungen haben sich vollzogen, die Massen regen sich, unzählige neue po-
litische Fragen tauchen auf, die Jntelligenz des Landes beschäftigt sich seit
langem mit ihnen, allerhand Lösungsvorschläge sind für sie ausgearbeitet,
und alles das drängt zur öffentlichen Behandlung, verlangt nach Ansatz-
möglichkeiten.

„ Nur das allgemeine Wahlrecht kann all diesen sozialen Elementen eine
gleiche Möglichkeit gewähren, das genaue Maß ihrer Kraft festzustellen. Man
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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/19>, abgerufen am 24.11.2024.