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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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658 Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht.

Die russische Bewegung widerspricht indes jetzt dieser Auffassung. Wo
immer die legitimierten Wortführer bürgerlicher Klassen sich äußern konnten,
haben sie sich, von der landständischen Konferenz -- dem Kongreß der Semst-
wos -- vom 19. bis 21. November vorigen Jahres bis zum Advokaten=Tag,
der am 12. April dieses Jahres in Petersburg versammelt war, für politische
Reformen ausgesprochen, die einen sehr entschieden demokratischen, für das
zarische Rußland -- und nicht nur für dieses -- einen durchaus revolutio-
nären Charakter tragen. Jnsbesondere haben sich fast alle Versammlungen
der Jntellektuellen Rußlands, haben sich, wie die Aerzte, die Professoren, so
auch jetzt die Advokaten, mit merkwürdiger Geschlossenheit für ein russisches
Reichsparlament auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Stimmrechts erklärt.

Das ist eine wahrhaft überraschende, dem Ausländer fast unerklärliche
Erscheinung. Rußlands soziale Struktur ist im ganzen eine solche, daß ge-
rade das liberale Bürgertum vom allgemeinen Stimmrecht am meisten be-
droht erscheint. Jn den Städten ein wachsendes Proletariat, das übrige
Land -- achtzig Prozent der Bevölkerung -- fast rein agrarisch, aus einer
geistig unentwickelten, vielfach über weite Landstrecken dünn verteilten, zum
großen Teil noch aus Analphabeten bestehenden Masse von Bauern und Land-
arbeitern zusammengesetzt, was für Perspektiven können sich da dem bürger-
lichen Liberalismus eröffnen? Wer in der Atmosphäre der westeuropäischen
politischen Dogmatik aufgewachsen ist, würde es eher verstehen, wenn ein zä-
saristisch veranlagter Minister des Zaren, um sich der unbequemer werdenden
liberalen Bewegung zu erwehren, quasi als Drohung oder schließlich als
äußerstes Rettungsmittel für den Zarismus das allgemeine Wahlrecht auf
die Tagesordnung setzte, als daß die Liberalen selbst es auf ihr Banner schrie-
ben. Haben denn die Russen, mag sich namentlich in Deutschland mancher
liberale Bürgersmann fragen, von unserer Geschichte gar nichts gelernt?

Peter von Struve, zur Zeit einer der angesehensten literarischen Ver-
treter des demokratischen Liberalismus in Rußland, hat in diesen Tagen den
von der Partei der Oswobodjenie ( Befreiung ) verfochtenen Entwurf einer
Verfassung veröffentlicht. Der Entwurf würde Rußland in eine streng kon-
stitutionelle Monarchie mit Ministerverantwortlichkeit, Vereidigung des Zaren
auf die Verfassung, staatsbürgerlicher Gleichheit aller, Preß=, Vereins= und
Versammlungsfreiheit, demokratischer Selbstverwaltung und dem allgemeinen,
gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht für Gemeinde=, Kreis= und Lan-
desvertretung verwandeln. Der Entwurf soll mit einer Begründung aus
der Feder Struves in diesen Tagen erscheinen, und den Anfang der Begrün-
dung macht eine Auseinandersetzung, warum das allgemeine Wahlrecht, das
von Struve als der Eckstein des Projekts bezeichnet wird, für Rußland eine
Notwendigkeit sei. Es ist interessant, diese Darlegungen Struves, die
im "Courrier Europeen " vom 7. April veröffentlicht sind, in ihren Haupt-
sätzen kennen zu lernen.

Struve knüpft an die Anschauung an, daß Rußland beim allgemeinen
Wahlrecht unter der Herrschaft der unwissenden Masse ein Spielzeug der
Reaktionäre sein würde, und bemerkt dazu:

" Das ist nur eine höchst problematische, auf oberflächliche historische
Analogien gegründete Vermutung. Jn den konkreten Verhältnissen der russischen
658 Ed. Bernstein: Russisches Wahlrecht.

Die russische Bewegung widerspricht indes jetzt dieser Auffassung. Wo
immer die legitimierten Wortführer bürgerlicher Klassen sich äußern konnten,
haben sie sich, von der landständischen Konferenz — dem Kongreß der Semst-
wos — vom 19. bis 21. November vorigen Jahres bis zum Advokaten=Tag,
der am 12. April dieses Jahres in Petersburg versammelt war, für politische
Reformen ausgesprochen, die einen sehr entschieden demokratischen, für das
zarische Rußland — und nicht nur für dieses — einen durchaus revolutio-
nären Charakter tragen. Jnsbesondere haben sich fast alle Versammlungen
der Jntellektuellen Rußlands, haben sich, wie die Aerzte, die Professoren, so
auch jetzt die Advokaten, mit merkwürdiger Geschlossenheit für ein russisches
Reichsparlament auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen
Stimmrechts erklärt.

Das ist eine wahrhaft überraschende, dem Ausländer fast unerklärliche
Erscheinung. Rußlands soziale Struktur ist im ganzen eine solche, daß ge-
rade das liberale Bürgertum vom allgemeinen Stimmrecht am meisten be-
droht erscheint. Jn den Städten ein wachsendes Proletariat, das übrige
Land — achtzig Prozent der Bevölkerung — fast rein agrarisch, aus einer
geistig unentwickelten, vielfach über weite Landstrecken dünn verteilten, zum
großen Teil noch aus Analphabeten bestehenden Masse von Bauern und Land-
arbeitern zusammengesetzt, was für Perspektiven können sich da dem bürger-
lichen Liberalismus eröffnen? Wer in der Atmosphäre der westeuropäischen
politischen Dogmatik aufgewachsen ist, würde es eher verstehen, wenn ein zä-
saristisch veranlagter Minister des Zaren, um sich der unbequemer werdenden
liberalen Bewegung zu erwehren, quasi als Drohung oder schließlich als
äußerstes Rettungsmittel für den Zarismus das allgemeine Wahlrecht auf
die Tagesordnung setzte, als daß die Liberalen selbst es auf ihr Banner schrie-
ben. Haben denn die Russen, mag sich namentlich in Deutschland mancher
liberale Bürgersmann fragen, von unserer Geschichte gar nichts gelernt?

Peter von Struve, zur Zeit einer der angesehensten literarischen Ver-
treter des demokratischen Liberalismus in Rußland, hat in diesen Tagen den
von der Partei der Oswobodjenie ( Befreiung ) verfochtenen Entwurf einer
Verfassung veröffentlicht. Der Entwurf würde Rußland in eine streng kon-
stitutionelle Monarchie mit Ministerverantwortlichkeit, Vereidigung des Zaren
auf die Verfassung, staatsbürgerlicher Gleichheit aller, Preß=, Vereins= und
Versammlungsfreiheit, demokratischer Selbstverwaltung und dem allgemeinen,
gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht für Gemeinde=, Kreis= und Lan-
desvertretung verwandeln. Der Entwurf soll mit einer Begründung aus
der Feder Struves in diesen Tagen erscheinen, und den Anfang der Begrün-
dung macht eine Auseinandersetzung, warum das allgemeine Wahlrecht, das
von Struve als der Eckstein des Projekts bezeichnet wird, für Rußland eine
Notwendigkeit sei. Es ist interessant, diese Darlegungen Struves, die
im „Courrier Européen “ vom 7. April veröffentlicht sind, in ihren Haupt-
sätzen kennen zu lernen.

Struve knüpft an die Anschauung an, daß Rußland beim allgemeinen
Wahlrecht unter der Herrschaft der unwissenden Masse ein Spielzeug der
Reaktionäre sein würde, und bemerkt dazu:

„ Das ist nur eine höchst problematische, auf oberflächliche historische
Analogien gegründete Vermutung. Jn den konkreten Verhältnissen der russischen
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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/18>, abgerufen am 24.11.2024.