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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 655
bedeutet, sondern vor allem gerade dadurch, daß er beide Mächte in einer sie
gemeinsam angehenden Sache vor den Kopf stößt, unsere beiden Hauptfeinde
mit eisernen Klammern aneinander schmiedet, so ist das ein Verfahren, das
jedenfalls auffällig ist, da es im schroffsten Gegensatze steht zu der bisher be-
folgten Politik und deshalb eine Schwenkung von der allergrößesten Trag-
weite bedeutet.

Nach dem eingangs Gesagten erlaube ich mir kein Urteil darüber, ob
man diese Schwenkung billigen oder mißbilligen soll, aber, da so einfache Ge-
dankengänge, wie sie hier in Frage stehen, von unseren leitenden Staats-
männern unmöglich verkannt sein können, so dürfen wir aus dem Umstande,
daß man einen solchen Schritt getan hat, zurück schließen auf die Auffassung
und die Beweggründe, die zu ihm geführt haben. Diese aber haben insofern für
uns Jnteresse, als sie natürlich für die weitere Gestaltung unserer Politik
maßgebend sind.

Unterstellen wir den gesunden Menschenverstand unserer Regierung, so
bieten sich zur Erklärung ihres Verfahrens folgende Möglichkeiten:

Zunächst könnte man daran denken, daß die Spitze der ganzen Aktion
nicht gegen Frankreich, sondern gegen Delcass e persönlich gerichtet wäre, und
daß man beabsichtigte, ihn zu beseitigen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß
sein Sturz die Folge des deutschen Vorgehens sein wird, aber als Motiv ist
es wohl kaum denkbar, denn Mittel und Zweck dürften doch in einem allzu
unnatürlichen Verhältnisse stehen.

Man könnte ferner an unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten
denken, denen wir uns ja schon lange auf jede Weise zu nähern versuchen. Sie
haben ebenso wie wir, Jnteressen in Marokko und sind deshalb mit uns in ganz
ähnlicher Lage. Ein gemeinsames Vorgehen, wie es scheinbar auf deutscher
Seite ins Auge gefaßt ist, könnte das beiderseitige Verhältnis möglicherweise
günstig beeinflussen und dabei die Beziehungen der Freistaaten zu England
lockern, was in unserem Jnteresse läge. Aber der Annahme, daß solche Er-
wägungen eine maßgebende Rolle gespielt hätten, steht vor allem der Um-
stand entgegen, daß man für solchen Zweck die provokatorische Form nicht
nötig hatte, denn bei einem diplomatischen Proteste gegen den englisch=fran-
zösischen Vertrag konnte man ebenfalls die Mitwirkung Amerikas herbeizuführen
suchen.

Neben diesen Erwägungen allgemeiner Art bleibt dann noch der Gedanke
an ein bestimmtes konkretes Ziel. Wenn England und Frankreich sich dahin
verständigt haben, daß der eine Teil Aegypten, der andere Marokko erhält,
so ist auch für Deutschland eine "Kompensation" möglich, und es liegt nahe,
außer an Schantung auch an Kleinasien zu denken. Allerdings würde der
Plan, uns dort festzusetzen, nicht allein Rußland unangenehm berühren, weil
er dessen auf dasselbe Ziel gerichtete Absichten durchkreuzen würde, sondern
auch unserem bisherigen freundschaftlichen Verhältnisse zur Türkei einen starken
Stoß geben. Jn Schantung liegen die Dinge insofern günstiger, als nur
England als Konkurrent in Betracht käme. Aber auch hier stoßen wir auf
das Bedenken, daß zur Erlangung von "Kompensationen" der eingeschlagene
schroffe Weg nicht erforderlich war. Diejenige Lösung, die, wie es scheint,
jetzt sowohl von Deutschland, wie von Frankreich angestrebt wird, die aber
keiner der beiden Gegner selbst vorschlagen will, nämlich eine internationale

W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 655
bedeutet, sondern vor allem gerade dadurch, daß er beide Mächte in einer sie
gemeinsam angehenden Sache vor den Kopf stößt, unsere beiden Hauptfeinde
mit eisernen Klammern aneinander schmiedet, so ist das ein Verfahren, das
jedenfalls auffällig ist, da es im schroffsten Gegensatze steht zu der bisher be-
folgten Politik und deshalb eine Schwenkung von der allergrößesten Trag-
weite bedeutet.

Nach dem eingangs Gesagten erlaube ich mir kein Urteil darüber, ob
man diese Schwenkung billigen oder mißbilligen soll, aber, da so einfache Ge-
dankengänge, wie sie hier in Frage stehen, von unseren leitenden Staats-
männern unmöglich verkannt sein können, so dürfen wir aus dem Umstande,
daß man einen solchen Schritt getan hat, zurück schließen auf die Auffassung
und die Beweggründe, die zu ihm geführt haben. Diese aber haben insofern für
uns Jnteresse, als sie natürlich für die weitere Gestaltung unserer Politik
maßgebend sind.

Unterstellen wir den gesunden Menschenverstand unserer Regierung, so
bieten sich zur Erklärung ihres Verfahrens folgende Möglichkeiten:

Zunächst könnte man daran denken, daß die Spitze der ganzen Aktion
nicht gegen Frankreich, sondern gegen Delcass é persönlich gerichtet wäre, und
daß man beabsichtigte, ihn zu beseitigen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß
sein Sturz die Folge des deutschen Vorgehens sein wird, aber als Motiv ist
es wohl kaum denkbar, denn Mittel und Zweck dürften doch in einem allzu
unnatürlichen Verhältnisse stehen.

Man könnte ferner an unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten
denken, denen wir uns ja schon lange auf jede Weise zu nähern versuchen. Sie
haben ebenso wie wir, Jnteressen in Marokko und sind deshalb mit uns in ganz
ähnlicher Lage. Ein gemeinsames Vorgehen, wie es scheinbar auf deutscher
Seite ins Auge gefaßt ist, könnte das beiderseitige Verhältnis möglicherweise
günstig beeinflussen und dabei die Beziehungen der Freistaaten zu England
lockern, was in unserem Jnteresse läge. Aber der Annahme, daß solche Er-
wägungen eine maßgebende Rolle gespielt hätten, steht vor allem der Um-
stand entgegen, daß man für solchen Zweck die provokatorische Form nicht
nötig hatte, denn bei einem diplomatischen Proteste gegen den englisch=fran-
zösischen Vertrag konnte man ebenfalls die Mitwirkung Amerikas herbeizuführen
suchen.

Neben diesen Erwägungen allgemeiner Art bleibt dann noch der Gedanke
an ein bestimmtes konkretes Ziel. Wenn England und Frankreich sich dahin
verständigt haben, daß der eine Teil Aegypten, der andere Marokko erhält,
so ist auch für Deutschland eine „Kompensation“ möglich, und es liegt nahe,
außer an Schantung auch an Kleinasien zu denken. Allerdings würde der
Plan, uns dort festzusetzen, nicht allein Rußland unangenehm berühren, weil
er dessen auf dasselbe Ziel gerichtete Absichten durchkreuzen würde, sondern
auch unserem bisherigen freundschaftlichen Verhältnisse zur Türkei einen starken
Stoß geben. Jn Schantung liegen die Dinge insofern günstiger, als nur
England als Konkurrent in Betracht käme. Aber auch hier stoßen wir auf
das Bedenken, daß zur Erlangung von „Kompensationen“ der eingeschlagene
schroffe Weg nicht erforderlich war. Diejenige Lösung, die, wie es scheint,
jetzt sowohl von Deutschland, wie von Frankreich angestrebt wird, die aber
keiner der beiden Gegner selbst vorschlagen will, nämlich eine internationale

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[655/0015] W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 655 bedeutet, sondern vor allem gerade dadurch, daß er beide Mächte in einer sie gemeinsam angehenden Sache vor den Kopf stößt, unsere beiden Hauptfeinde mit eisernen Klammern aneinander schmiedet, so ist das ein Verfahren, das jedenfalls auffällig ist, da es im schroffsten Gegensatze steht zu der bisher be- folgten Politik und deshalb eine Schwenkung von der allergrößesten Trag- weite bedeutet. Nach dem eingangs Gesagten erlaube ich mir kein Urteil darüber, ob man diese Schwenkung billigen oder mißbilligen soll, aber, da so einfache Ge- dankengänge, wie sie hier in Frage stehen, von unseren leitenden Staats- männern unmöglich verkannt sein können, so dürfen wir aus dem Umstande, daß man einen solchen Schritt getan hat, zurück schließen auf die Auffassung und die Beweggründe, die zu ihm geführt haben. Diese aber haben insofern für uns Jnteresse, als sie natürlich für die weitere Gestaltung unserer Politik maßgebend sind. Unterstellen wir den gesunden Menschenverstand unserer Regierung, so bieten sich zur Erklärung ihres Verfahrens folgende Möglichkeiten: Zunächst könnte man daran denken, daß die Spitze der ganzen Aktion nicht gegen Frankreich, sondern gegen Delcass é persönlich gerichtet wäre, und daß man beabsichtigte, ihn zu beseitigen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sein Sturz die Folge des deutschen Vorgehens sein wird, aber als Motiv ist es wohl kaum denkbar, denn Mittel und Zweck dürften doch in einem allzu unnatürlichen Verhältnisse stehen. Man könnte ferner an unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten denken, denen wir uns ja schon lange auf jede Weise zu nähern versuchen. Sie haben ebenso wie wir, Jnteressen in Marokko und sind deshalb mit uns in ganz ähnlicher Lage. Ein gemeinsames Vorgehen, wie es scheinbar auf deutscher Seite ins Auge gefaßt ist, könnte das beiderseitige Verhältnis möglicherweise günstig beeinflussen und dabei die Beziehungen der Freistaaten zu England lockern, was in unserem Jnteresse läge. Aber der Annahme, daß solche Er- wägungen eine maßgebende Rolle gespielt hätten, steht vor allem der Um- stand entgegen, daß man für solchen Zweck die provokatorische Form nicht nötig hatte, denn bei einem diplomatischen Proteste gegen den englisch=fran- zösischen Vertrag konnte man ebenfalls die Mitwirkung Amerikas herbeizuführen suchen. Neben diesen Erwägungen allgemeiner Art bleibt dann noch der Gedanke an ein bestimmtes konkretes Ziel. Wenn England und Frankreich sich dahin verständigt haben, daß der eine Teil Aegypten, der andere Marokko erhält, so ist auch für Deutschland eine „Kompensation“ möglich, und es liegt nahe, außer an Schantung auch an Kleinasien zu denken. Allerdings würde der Plan, uns dort festzusetzen, nicht allein Rußland unangenehm berühren, weil er dessen auf dasselbe Ziel gerichtete Absichten durchkreuzen würde, sondern auch unserem bisherigen freundschaftlichen Verhältnisse zur Türkei einen starken Stoß geben. Jn Schantung liegen die Dinge insofern günstiger, als nur England als Konkurrent in Betracht käme. Aber auch hier stoßen wir auf das Bedenken, daß zur Erlangung von „Kompensationen“ der eingeschlagene schroffe Weg nicht erforderlich war. Diejenige Lösung, die, wie es scheint, jetzt sowohl von Deutschland, wie von Frankreich angestrebt wird, die aber keiner der beiden Gegner selbst vorschlagen will, nämlich eine internationale

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/15>, abgerufen am 21.11.2024.