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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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654 W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik.
konnte, sondern die Anerkennung des französisch=englischen Vertrages ab-
lehnen mußte. Die Frage, um die es sich handelt, ist nur die,
in welcher Form dies geschehen sollte.
Neben dem tatsächlich
eingeschlagenen gab es noch einen anderen Weg, nämlich den, daß Deutschland
gegenüber Frankreich diplomatische Vorstellungen erhob und die Wahrung
seiner Rechte forderte. Dieser Weg war durchaus möglich, da der Vertrag,
wie schon bemerkt, nicht allein nicht geheim gehalten, sondern sogar zum Gegen-
stande eines Gespräches zwischen Delcass e und dem deutschen Botschafter gemacht
war. Wenn die englischen Blätter darauf hinweisen, daß er hätte eingeschlagen
werden müssen, falls Deutschland auf eine freundschaftliche Behandlung der
Sache Gewicht gelegt hätte, und daß das tatsächlich beobachtete Verfahren eine
Unhöflichkeit mindestens für Frankreich, mittelbar aber auch gegen England
darstelle, so kann dem, wie mir scheint, nicht widersprochen werden. Es bleibt
deshalb nur die Frage: War der eine oder der andere Weg vorzuziehen? und
diese Frage kann nur nach der Gesamtpolitik, die Deutschland gegenüber Frank-
reich befolgen will, entschieden werden.

Diese ging bisher ausgesprochenermaßen auf Anbahnung eines guten
Verhältnisses. Hatte schon Bismarck trotz gelegentlicher kalter Wasserstrahlen
doch im ganzen dahin gestrebt, den alten Groll vergessen zu machen, so war dies
System noch viel ausgesprochener von dem jetzigen Kaiser befolgt, ja die Ordens-
verleihungen und sonstigen Ehrungen einzelner Franzosen, die entweder gerade-
zu zurückgewiesen oder mindestens nicht so aufgenommen wurden, wie man
es hätte erwarten dürfen, führten dahin, daß die öffentliche Meinung in
Deutschland dieses "Liebeswerben" als zu weitgehend ansah und mißbilligte.

Aber auch England gegenüber hat der Kaiser und die Regierung, und
zwar noch mehr gegen den Wunsch der überwiegenden Mehrheit des Volkes,
bisher eine Politik der Liebenswürdigkeit befolgt, die in der Tat allmählich zu
einer freundlicheren Gestaltung des beiderseitigen Verhältnisses zu führen schien.

Endlich Folgendes. Unser historischer "Erbfeind" ist Frankreich. Aber,
so freundschaftlich bis vor wenigen Jahrzehnten unsere Beziehungen zu Eng-
land waren, so ist dieses Land seit der Entwicklung des starken wirtschaftlichen
Konkurrenzverhältnisses, insbesondere aber seit Beginn der deutschen Flotten-
und Weltmachtpolitik unser entschiedenster Gegner geworden. Ja, während
man behaupten kann, daß gegenüber Frankreich reale Gegensätze kaum
vorhanden sind, und daß uns von ihm eigentlich nichts trennt, als
ein historisches Ereignis, das doch schließlich einmal als solches ge-
würdigt werden und als Faktor der praktischen Politik ausscheiden
muß, so liegt das bei England gerade umgekehrt. Trotz aller Er-
innerungen an Waterloo ist heute England unser natürlicher Gegner, und das
wird in beiden Ländern völlig verstanden. Nun bestand zu unserem Glück
zwischen diesen unseren beiden Feinden, England und Frankreich, noch bis
vor kurzem ein starker Gegensatz, der sich nach Faschoda noch wesentlich verstärkt
hatte. Er war freilich durch den englisch=französischen Schiedsgerichtsvertrag
formell aus der Welt geschafft, aber trotzdem stand die neue Feundschaft noch
auf recht schwachen Füßen, zumal Frankreich mit Rußland, dem natürlichen
Feinde Englands, verbündet ist.

Wenn jetzt von deutscher Seite ein Schritt geschieht, der nicht allein für
Frankreich eine offene Ohrfeige und für England eine starke Unfreundlichkeit

654 W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik.
konnte, sondern die Anerkennung des französisch=englischen Vertrages ab-
lehnen mußte. Die Frage, um die es sich handelt, ist nur die,
in welcher Form dies geschehen sollte.
Neben dem tatsächlich
eingeschlagenen gab es noch einen anderen Weg, nämlich den, daß Deutschland
gegenüber Frankreich diplomatische Vorstellungen erhob und die Wahrung
seiner Rechte forderte. Dieser Weg war durchaus möglich, da der Vertrag,
wie schon bemerkt, nicht allein nicht geheim gehalten, sondern sogar zum Gegen-
stande eines Gespräches zwischen Delcass é und dem deutschen Botschafter gemacht
war. Wenn die englischen Blätter darauf hinweisen, daß er hätte eingeschlagen
werden müssen, falls Deutschland auf eine freundschaftliche Behandlung der
Sache Gewicht gelegt hätte, und daß das tatsächlich beobachtete Verfahren eine
Unhöflichkeit mindestens für Frankreich, mittelbar aber auch gegen England
darstelle, so kann dem, wie mir scheint, nicht widersprochen werden. Es bleibt
deshalb nur die Frage: War der eine oder der andere Weg vorzuziehen? und
diese Frage kann nur nach der Gesamtpolitik, die Deutschland gegenüber Frank-
reich befolgen will, entschieden werden.

Diese ging bisher ausgesprochenermaßen auf Anbahnung eines guten
Verhältnisses. Hatte schon Bismarck trotz gelegentlicher kalter Wasserstrahlen
doch im ganzen dahin gestrebt, den alten Groll vergessen zu machen, so war dies
System noch viel ausgesprochener von dem jetzigen Kaiser befolgt, ja die Ordens-
verleihungen und sonstigen Ehrungen einzelner Franzosen, die entweder gerade-
zu zurückgewiesen oder mindestens nicht so aufgenommen wurden, wie man
es hätte erwarten dürfen, führten dahin, daß die öffentliche Meinung in
Deutschland dieses „Liebeswerben“ als zu weitgehend ansah und mißbilligte.

Aber auch England gegenüber hat der Kaiser und die Regierung, und
zwar noch mehr gegen den Wunsch der überwiegenden Mehrheit des Volkes,
bisher eine Politik der Liebenswürdigkeit befolgt, die in der Tat allmählich zu
einer freundlicheren Gestaltung des beiderseitigen Verhältnisses zu führen schien.

Endlich Folgendes. Unser historischer „Erbfeind“ ist Frankreich. Aber,
so freundschaftlich bis vor wenigen Jahrzehnten unsere Beziehungen zu Eng-
land waren, so ist dieses Land seit der Entwicklung des starken wirtschaftlichen
Konkurrenzverhältnisses, insbesondere aber seit Beginn der deutschen Flotten-
und Weltmachtpolitik unser entschiedenster Gegner geworden. Ja, während
man behaupten kann, daß gegenüber Frankreich reale Gegensätze kaum
vorhanden sind, und daß uns von ihm eigentlich nichts trennt, als
ein historisches Ereignis, das doch schließlich einmal als solches ge-
würdigt werden und als Faktor der praktischen Politik ausscheiden
muß, so liegt das bei England gerade umgekehrt. Trotz aller Er-
innerungen an Waterloo ist heute England unser natürlicher Gegner, und das
wird in beiden Ländern völlig verstanden. Nun bestand zu unserem Glück
zwischen diesen unseren beiden Feinden, England und Frankreich, noch bis
vor kurzem ein starker Gegensatz, der sich nach Faschoda noch wesentlich verstärkt
hatte. Er war freilich durch den englisch=französischen Schiedsgerichtsvertrag
formell aus der Welt geschafft, aber trotzdem stand die neue Feundschaft noch
auf recht schwachen Füßen, zumal Frankreich mit Rußland, dem natürlichen
Feinde Englands, verbündet ist.

Wenn jetzt von deutscher Seite ein Schritt geschieht, der nicht allein für
Frankreich eine offene Ohrfeige und für England eine starke Unfreundlichkeit

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 654. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/14>, abgerufen am 22.11.2024.