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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 651
berechtigten Guten und dem aus der Welt zu verbannenden Bösen geben kann,
geben darf.

Jst das richtig, dann kann aber eine jede Partei sich nur dadurch vor
der Versteinerung zu einer Sekte, vor der Erstarrung in einer Orthodoxie be-
wahren, daß sie an dem sich stetig bildenden Kulturprogramme die höhere
Norm ihrer eigenen Entwicklung sucht und findet. Dann aber darf dem Ar-
beiter auch seine Bildung nicht mit der Parteischeere beschnitten, sein geistiges
Leben nicht durch die Parteidisziplin beengt werden. Und es ist nur eine
Kopie eines unter kirchlicher oder staatlicher Jnspektion festgelegten Schul-
wesens, es erinnert sogar an die berüchtigte Jnstitution des kirchlichen Jn-
dex, wenn Redakteur Schulz erklärt, daß ein klassenbewußter Arbeiter seine
Beine nicht unter einen Tisch mit den Bürgerlichen setzen dürfe, oder daß es
eine Ungeheuerlichkeit sei, die nicht geduldet werden dürfe, wenn in dieser
Zeitschrift, Europa, Bürgerliche und Sozialisten nebeneinander ständen. Das
Klassenbewußtsein des Arbeiters steht doch auf einer ganz anderen Grund-
lage als der theoretischer Erörterungen, es wird auch durch ganz andere Ge-
setze normiert, als durch Vorträge im Goethebunde oder einen Bildungs-
verein. Das sollten die, die auf geschichtsökonomischer Grundlage denken ge-
lernt haben, erst recht wissen. Und das Menschenbewußtsein, das sich der Ar-
beiter neben und über seinem Klassenbewußtsein doch bewahren muß, wenn
er Kulturträger sein oder werden will, wird sicher seinem Klassenbewußtsein
keinen Abbruch tun, es wird ihm auch da die Kräfte einer höheren Kultur,
eines weiteren Blicks in die Bedingungen unseres Kulturlebens schaffen.

Darum haben die Männer doch recht, welche im sozialdemokratischen
Verein das Zusammenarbeiten der Gewerkschaften mit dem Goethebunde ver-
teidigten, und das sind alte Kämpen der Arbeiterschaft, die die Partei in
Bremen studiert haben. Und der neue Kurs, den Redakteur Schulz mit
der Bürgerzeitung eingeschlagen, bleibt doch falsch. Sollte die Arbeiterschaft
diesem Kurse folgen, dann werden die harten Knochen, die F. Mehring den
Arbeitern zu erhalten wünscht, zuletzt die Knochen eines Skelettes, nicht eines
lebendigen Menschen darstellen.

[Abbildung]
Eine Schwenkung der deutschen Politik.
Von Landgerichtsrat W. Kulemann, Bremen.

Wir sind in Deutschland mehr als in anderen Ländern gewöhnt, die aus-
wärtige Politik als eine Domäne der Diplomaten vom Fach anzusehen und
uns eines eigenen Urteils zu enthalten. Wenn man das getadelt und auf
unsere ungenügende konstitutionelle Entwickelung zurückgeführt hat, so ist das

W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 651
berechtigten Guten und dem aus der Welt zu verbannenden Bösen geben kann,
geben darf.

Jst das richtig, dann kann aber eine jede Partei sich nur dadurch vor
der Versteinerung zu einer Sekte, vor der Erstarrung in einer Orthodoxie be-
wahren, daß sie an dem sich stetig bildenden Kulturprogramme die höhere
Norm ihrer eigenen Entwicklung sucht und findet. Dann aber darf dem Ar-
beiter auch seine Bildung nicht mit der Parteischeere beschnitten, sein geistiges
Leben nicht durch die Parteidisziplin beengt werden. Und es ist nur eine
Kopie eines unter kirchlicher oder staatlicher Jnspektion festgelegten Schul-
wesens, es erinnert sogar an die berüchtigte Jnstitution des kirchlichen Jn-
dex, wenn Redakteur Schulz erklärt, daß ein klassenbewußter Arbeiter seine
Beine nicht unter einen Tisch mit den Bürgerlichen setzen dürfe, oder daß es
eine Ungeheuerlichkeit sei, die nicht geduldet werden dürfe, wenn in dieser
Zeitschrift, Europa, Bürgerliche und Sozialisten nebeneinander ständen. Das
Klassenbewußtsein des Arbeiters steht doch auf einer ganz anderen Grund-
lage als der theoretischer Erörterungen, es wird auch durch ganz andere Ge-
setze normiert, als durch Vorträge im Goethebunde oder einen Bildungs-
verein. Das sollten die, die auf geschichtsökonomischer Grundlage denken ge-
lernt haben, erst recht wissen. Und das Menschenbewußtsein, das sich der Ar-
beiter neben und über seinem Klassenbewußtsein doch bewahren muß, wenn
er Kulturträger sein oder werden will, wird sicher seinem Klassenbewußtsein
keinen Abbruch tun, es wird ihm auch da die Kräfte einer höheren Kultur,
eines weiteren Blicks in die Bedingungen unseres Kulturlebens schaffen.

Darum haben die Männer doch recht, welche im sozialdemokratischen
Verein das Zusammenarbeiten der Gewerkschaften mit dem Goethebunde ver-
teidigten, und das sind alte Kämpen der Arbeiterschaft, die die Partei in
Bremen studiert haben. Und der neue Kurs, den Redakteur Schulz mit
der Bürgerzeitung eingeschlagen, bleibt doch falsch. Sollte die Arbeiterschaft
diesem Kurse folgen, dann werden die harten Knochen, die F. Mehring den
Arbeitern zu erhalten wünscht, zuletzt die Knochen eines Skelettes, nicht eines
lebendigen Menschen darstellen.

[Abbildung]
Eine Schwenkung der deutschen Politik.
Von Landgerichtsrat W. Kulemann, Bremen.

Wir sind in Deutschland mehr als in anderen Ländern gewöhnt, die aus-
wärtige Politik als eine Domäne der Diplomaten vom Fach anzusehen und
uns eines eigenen Urteils zu enthalten. Wenn man das getadelt und auf
unsere ungenügende konstitutionelle Entwickelung zurückgeführt hat, so ist das

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/11>, abgerufen am 24.11.2024.