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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Allostis: Der Zweck heiligt das Mittel.
Jm letzten Ende entscheidet also das Befinden der Gemeinschaft, ob ein Zweck
und das von ihm bestimmte Mittel heilig waren oder nicht.

Wie beim Einzelnen, so bleiben auch in der Gemeinschaft Vorstellungen
und Gefühle lebendig, auch wenn die Zwecke, aus denen sie ursprünglich ent-
standen sind, nicht mehr leben. Eine Handlung kann daher als unsittlich
empfunden werden, die in Wahrheit sittli chist, wenn sie einem werdenden, aber
noch nicht als Bedürfnis allgemein anerkannten Zwecke dient. Die Bahnbrecher
des Neuen sind Verbrecher am Alten. Und die Anhänger des ewig Gestrigen
verbrennen, was die Enkel, wenn das Morgen gesiegt hat, heilig sprechen.

Was von Taten gilt, die tiefe Spuren in das Gemeinschaftsleben prä-
gen, das trifft auch auf die unscheinbaren Handlungen des täglichen Lebens
zu. Auch sie stehen unter der Herrschaft der Zwecke und werden sittlich oder
unsittlich genannt, je nach dem Nutzen oder Schaden, den sie in der Regel
der Gesellschaft bringen. Denn das Sittlichkeitsgefühl ist ein Trieb der Gemein-
schaft, der wie jeder Trieb blind ist und deshalb die Ausnahme von der Regel
nicht erkennt. Weil der Mensch ein Herdenwesen ist, in der großen Mehrzahl
kurzsichtig und zu gedankenloser Nachahmung geneigt, findet er in der Regel-
anschauung der Sittlichkeit einen Führer, der für ihn denkt und ihm in
neun Fällen von zehn den richtigen Weg zeigt, ihn oft über einen kleinen Nach-
teil zu einem größeren Nutzen führt. Darum können wir auch unsere Kinder
nicht gleich mit den höheren Begriffen der Sittlichkeit erziehen, ihnen nur
allmählich Gut und Böse durch die Zwecke erklären und ihnen erst das Ver-
ständnis des Nutzens und Schadens der Regel beibringen, ehe sie reif
werden zu der Einsicht, daß das Böse oder Unsittliche der Regel in der
Ausnahme gut oder sittlich sein kann. Wer aber als Lehrer der Menschheit
auftreten, wer die Erzieher erziehen will, der muß die Erkenntnis der Zwecke
fördern, damit die Menschen sich nicht blenden lassen von Regelbegriffen und
"absoluten" Jdeen, sondern mit freiem Blick in den Zusammenhang alles
Werdens und Vergehens die Wege finden, die allein zu ihrem Heile führen.

Das blinde Walten der im Gemeinschaftsleben wirkenden Triebe, wie des
Sittlichkeitsgefühls im Allgemeinen und der mit ihm zusammenhängenden be-
sonderen Triebe, wie zum Beispiel des Schamgefühls,*) ist zweifellos von hohem
Werte für das Gemütsleben der Menschen, und es ist eine schwer zu beant-
wortende Frage, ob die wachsende Erkenntnis und die gesteigerte Herrschaft
der Vernunft in den Vorteilen bei den Ausnahmen mehr gewinnt als sie an
Gemütswerten bei der Regel verliert. Die Erkenntnis geht aber unaufhaltsam
ihren Weg, und was sie uns an Errungenschaften der Kultur gebracht, können
wir und möchten wir nicht missen, wenn auch der Kanadier, der von Europens
übertünchter Höflichkeit nichts wußte, Lebenswerte genoß, nach denen wir uns
oft schmerzlich sehnen. Und doch glaube ich nicht, daß unser Gemüt ärmer
werden muß, wenn unsere Erkenntnis reicher wird. Es gilt zu gewinnen, ohne
zu verlieren, und wir könnten es schon, denn unsere Erkenntnis ist weit genug,
leider nicht verbreitet und nicht wirksam genug. Alte Gewohnheiten und Vor-
stellungen binden selbst die weitesten und freiesten Geister, so daß sie nicht ins
Leben umsetzen können, was sie als kostbare Möglichkeit im Jnnern bergen.
Schuld daran sind die Regelanschauungen der Menschen, vor ihnen ist die Er-

*) Vergl. meinen Aufsatz in Nr. 10 der "Europa": "Die heilige Scham ".

Allostis: Der Zweck heiligt das Mittel.
Jm letzten Ende entscheidet also das Befinden der Gemeinschaft, ob ein Zweck
und das von ihm bestimmte Mittel heilig waren oder nicht.

Wie beim Einzelnen, so bleiben auch in der Gemeinschaft Vorstellungen
und Gefühle lebendig, auch wenn die Zwecke, aus denen sie ursprünglich ent-
standen sind, nicht mehr leben. Eine Handlung kann daher als unsittlich
empfunden werden, die in Wahrheit sittli chist, wenn sie einem werdenden, aber
noch nicht als Bedürfnis allgemein anerkannten Zwecke dient. Die Bahnbrecher
des Neuen sind Verbrecher am Alten. Und die Anhänger des ewig Gestrigen
verbrennen, was die Enkel, wenn das Morgen gesiegt hat, heilig sprechen.

Was von Taten gilt, die tiefe Spuren in das Gemeinschaftsleben prä-
gen, das trifft auch auf die unscheinbaren Handlungen des täglichen Lebens
zu. Auch sie stehen unter der Herrschaft der Zwecke und werden sittlich oder
unsittlich genannt, je nach dem Nutzen oder Schaden, den sie in der Regel
der Gesellschaft bringen. Denn das Sittlichkeitsgefühl ist ein Trieb der Gemein-
schaft, der wie jeder Trieb blind ist und deshalb die Ausnahme von der Regel
nicht erkennt. Weil der Mensch ein Herdenwesen ist, in der großen Mehrzahl
kurzsichtig und zu gedankenloser Nachahmung geneigt, findet er in der Regel-
anschauung der Sittlichkeit einen Führer, der für ihn denkt und ihm in
neun Fällen von zehn den richtigen Weg zeigt, ihn oft über einen kleinen Nach-
teil zu einem größeren Nutzen führt. Darum können wir auch unsere Kinder
nicht gleich mit den höheren Begriffen der Sittlichkeit erziehen, ihnen nur
allmählich Gut und Böse durch die Zwecke erklären und ihnen erst das Ver-
ständnis des Nutzens und Schadens der Regel beibringen, ehe sie reif
werden zu der Einsicht, daß das Böse oder Unsittliche der Regel in der
Ausnahme gut oder sittlich sein kann. Wer aber als Lehrer der Menschheit
auftreten, wer die Erzieher erziehen will, der muß die Erkenntnis der Zwecke
fördern, damit die Menschen sich nicht blenden lassen von Regelbegriffen und
„absoluten“ Jdeen, sondern mit freiem Blick in den Zusammenhang alles
Werdens und Vergehens die Wege finden, die allein zu ihrem Heile führen.

Das blinde Walten der im Gemeinschaftsleben wirkenden Triebe, wie des
Sittlichkeitsgefühls im Allgemeinen und der mit ihm zusammenhängenden be-
sonderen Triebe, wie zum Beispiel des Schamgefühls,*) ist zweifellos von hohem
Werte für das Gemütsleben der Menschen, und es ist eine schwer zu beant-
wortende Frage, ob die wachsende Erkenntnis und die gesteigerte Herrschaft
der Vernunft in den Vorteilen bei den Ausnahmen mehr gewinnt als sie an
Gemütswerten bei der Regel verliert. Die Erkenntnis geht aber unaufhaltsam
ihren Weg, und was sie uns an Errungenschaften der Kultur gebracht, können
wir und möchten wir nicht missen, wenn auch der Kanadier, der von Europens
übertünchter Höflichkeit nichts wußte, Lebenswerte genoß, nach denen wir uns
oft schmerzlich sehnen. Und doch glaube ich nicht, daß unser Gemüt ärmer
werden muß, wenn unsere Erkenntnis reicher wird. Es gilt zu gewinnen, ohne
zu verlieren, und wir könnten es schon, denn unsere Erkenntnis ist weit genug,
leider nicht verbreitet und nicht wirksam genug. Alte Gewohnheiten und Vor-
stellungen binden selbst die weitesten und freiesten Geister, so daß sie nicht ins
Leben umsetzen können, was sie als kostbare Möglichkeit im Jnnern bergen.
Schuld daran sind die Regelanschauungen der Menschen, vor ihnen ist die Er-

*) Vergl. meinen Aufsatz in Nr. 10 der „Europa“: „Die heilige Scham “.
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[624/0032] Allostis: Der Zweck heiligt das Mittel. Jm letzten Ende entscheidet also das Befinden der Gemeinschaft, ob ein Zweck und das von ihm bestimmte Mittel heilig waren oder nicht. Wie beim Einzelnen, so bleiben auch in der Gemeinschaft Vorstellungen und Gefühle lebendig, auch wenn die Zwecke, aus denen sie ursprünglich ent- standen sind, nicht mehr leben. Eine Handlung kann daher als unsittlich empfunden werden, die in Wahrheit sittli chist, wenn sie einem werdenden, aber noch nicht als Bedürfnis allgemein anerkannten Zwecke dient. Die Bahnbrecher des Neuen sind Verbrecher am Alten. Und die Anhänger des ewig Gestrigen verbrennen, was die Enkel, wenn das Morgen gesiegt hat, heilig sprechen. Was von Taten gilt, die tiefe Spuren in das Gemeinschaftsleben prä- gen, das trifft auch auf die unscheinbaren Handlungen des täglichen Lebens zu. Auch sie stehen unter der Herrschaft der Zwecke und werden sittlich oder unsittlich genannt, je nach dem Nutzen oder Schaden, den sie in der Regel der Gesellschaft bringen. Denn das Sittlichkeitsgefühl ist ein Trieb der Gemein- schaft, der wie jeder Trieb blind ist und deshalb die Ausnahme von der Regel nicht erkennt. Weil der Mensch ein Herdenwesen ist, in der großen Mehrzahl kurzsichtig und zu gedankenloser Nachahmung geneigt, findet er in der Regel- anschauung der Sittlichkeit einen Führer, der für ihn denkt und ihm in neun Fällen von zehn den richtigen Weg zeigt, ihn oft über einen kleinen Nach- teil zu einem größeren Nutzen führt. Darum können wir auch unsere Kinder nicht gleich mit den höheren Begriffen der Sittlichkeit erziehen, ihnen nur allmählich Gut und Böse durch die Zwecke erklären und ihnen erst das Ver- ständnis des Nutzens und Schadens der Regel beibringen, ehe sie reif werden zu der Einsicht, daß das Böse oder Unsittliche der Regel in der Ausnahme gut oder sittlich sein kann. Wer aber als Lehrer der Menschheit auftreten, wer die Erzieher erziehen will, der muß die Erkenntnis der Zwecke fördern, damit die Menschen sich nicht blenden lassen von Regelbegriffen und „absoluten“ Jdeen, sondern mit freiem Blick in den Zusammenhang alles Werdens und Vergehens die Wege finden, die allein zu ihrem Heile führen. Das blinde Walten der im Gemeinschaftsleben wirkenden Triebe, wie des Sittlichkeitsgefühls im Allgemeinen und der mit ihm zusammenhängenden be- sonderen Triebe, wie zum Beispiel des Schamgefühls, *) ist zweifellos von hohem Werte für das Gemütsleben der Menschen, und es ist eine schwer zu beant- wortende Frage, ob die wachsende Erkenntnis und die gesteigerte Herrschaft der Vernunft in den Vorteilen bei den Ausnahmen mehr gewinnt als sie an Gemütswerten bei der Regel verliert. Die Erkenntnis geht aber unaufhaltsam ihren Weg, und was sie uns an Errungenschaften der Kultur gebracht, können wir und möchten wir nicht missen, wenn auch der Kanadier, der von Europens übertünchter Höflichkeit nichts wußte, Lebenswerte genoß, nach denen wir uns oft schmerzlich sehnen. Und doch glaube ich nicht, daß unser Gemüt ärmer werden muß, wenn unsere Erkenntnis reicher wird. Es gilt zu gewinnen, ohne zu verlieren, und wir könnten es schon, denn unsere Erkenntnis ist weit genug, leider nicht verbreitet und nicht wirksam genug. Alte Gewohnheiten und Vor- stellungen binden selbst die weitesten und freiesten Geister, so daß sie nicht ins Leben umsetzen können, was sie als kostbare Möglichkeit im Jnnern bergen. Schuld daran sind die Regelanschauungen der Menschen, vor ihnen ist die Er- *) Vergl. meinen Aufsatz in Nr. 10 der „Europa“: „Die heilige Scham “.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/32>, abgerufen am 24.11.2024.