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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Allostis: Der Zweck heiligt das Mittel.
bestimmten, von dem Rechte selbst festgelegten Grundsätzen gelten, es hat mit
der Sittlichkeit nichts zu tun und bestraft deshalb deshalb auch den edelsten
Mörder. Themis ist blind, und vor ihr bleibt Mord, was nach dem Gesetze
Mord ist. Wie aber auf dem Gebiete des Rechts nur die rechtswidrige Tötung
Mord ist, so ist im Reiche der Sittlichkeit nur der unsittliche Mord verwerflich.
Nicht jeder Mörder ist feige, nicht jeder verrucht, und mancher Held edler Sitt-
lichkeit hat das Schafott oder den Scheiterhaufen besteigen müssen. So-
krates, Christus, Bruno und tausend andere wurden nicht gesetzwidrig hin-
gerichtet; aber höher als das Recht steht die Sittlichkeit, leider spricht sie ihr
Urteil für den vom Gesetze Gerichteten meist zu spät. Die Sittlichkeit kennt
keine absoluten Gebote, wie etwa den kategorischen Jmperativ Kants, und
deshalb keine an sich guten oder bösen Handlungen, von ihr gilt der Satz:
"Der Zweck heiligt das Mittel" als ein Gesetz, das im Wesen der Sittlichkeit
selbst begründet ist. Sie sagt nicht: Du sollst nicht lügen! sondern: Du sollst
nicht lügen, wenn es unsittlich ist! Und Ehebruch, Meineid, Mord und andere
"scheußliche" Verbrechen können von der Sittlichkeit geboten werden mit einem
inneren Zwange, vor dem die Furcht vor dem Gerede der Menschen oder
den Strafen des Gesetzes als schimpfliche Feigheit und Schwäche erscheint.
Freilich, der Mensch kann nur nach seinen Zufallsvorstellungen handeln, die
beeinflußt sind von seinen Erfahrungen und den Verhältnissen seiner Um-
gebung. Der Gedanke idealistischer Ethiker, Sittlichkeitsgesetze zu finden, die,
losgelöst von allen Erfahrungen, nie trügende Wegweiser in die Jrrungen des
Lebens stellen, ist ein schöner Traum. Unsere Vorstellungen und die von ihnen
bestimmten Handlungen sind nun einmal an die irdische Menschlichkeit ge-
bunden, und keine göttliche Vollkommenheit gibt uns göttliche Einsicht und
göttliche Kräfte. Auch wenn wir uns eine Jdee Gottes bilden oder eine
Jdee des Menschen, und nach diesen Jdeen allgemein giltige Gesetze auf-
stellen, so urteilen wir nach dem Stande unserer von Mensch zu Mensch, von
Zeit zu Zeit verschiedenen Einsicht, nicht anders, wie ein Kind sich nach den
Märchen, die es gehört, das Bild eines Prinzen zurecht macht und danach die
Wirklichkeit beurteilt. Und was sind wir mehr als märchengläubige Kinder
im Verhältnis zur Allwissenheit?

Jede Zeit und in ihr jede Gesellschaftsgruppe haben ihre eigene Sitt-
lichkeit. Sittlichkeit gibt es nur in der Gesellschaft. Was der Gemeinschaft
nützt oder schadet, macht sich im Gemeinschaftsgefühl, das in den Einzelnen
spricht, als sittlich oder unsittlich geltend. Maßgebend sind die durch die
Verhältnisse geschaffenen Zwecke der Einzelnen wie der Gesellschaft. Der Ein-
zelne strebt zunächst nur nach seinen Zwecken, und der Kampf der Einzelinter-
essen kann sich im Einklang oder im Widerspruch mit den höheren
Jnteressen der Gemeinschaft befinden. "Die Sittlichkeit ist die Mag-
netnadel für die Harmonie der Zwecke. Jhr Pol ist immer der
höhere Zweck. Dient eine Handlung dem niederen Zweck, ohne von der Richtung
des höheren abzuweichen, so bleibt die Nadel in Ruhe. Gehen niederer und
höherer Zweck auseinander, so weist sie auf die steigenden Grade der Achtung
bis zur Bewunderung, wenn die Handlung sich dem niederen Zwecke ab und
dem höheren zuwendet, umgekehrt auf die fallenden Grade der Verachtung
bis zur Entrüstung." ( Die Tugend des Genusses, Jena, Costenoble, S. 323 f. )

Allostis: Der Zweck heiligt das Mittel.
bestimmten, von dem Rechte selbst festgelegten Grundsätzen gelten, es hat mit
der Sittlichkeit nichts zu tun und bestraft deshalb deshalb auch den edelsten
Mörder. Themis ist blind, und vor ihr bleibt Mord, was nach dem Gesetze
Mord ist. Wie aber auf dem Gebiete des Rechts nur die rechtswidrige Tötung
Mord ist, so ist im Reiche der Sittlichkeit nur der unsittliche Mord verwerflich.
Nicht jeder Mörder ist feige, nicht jeder verrucht, und mancher Held edler Sitt-
lichkeit hat das Schafott oder den Scheiterhaufen besteigen müssen. So-
krates, Christus, Bruno und tausend andere wurden nicht gesetzwidrig hin-
gerichtet; aber höher als das Recht steht die Sittlichkeit, leider spricht sie ihr
Urteil für den vom Gesetze Gerichteten meist zu spät. Die Sittlichkeit kennt
keine absoluten Gebote, wie etwa den kategorischen Jmperativ Kants, und
deshalb keine an sich guten oder bösen Handlungen, von ihr gilt der Satz:
„Der Zweck heiligt das Mittel“ als ein Gesetz, das im Wesen der Sittlichkeit
selbst begründet ist. Sie sagt nicht: Du sollst nicht lügen! sondern: Du sollst
nicht lügen, wenn es unsittlich ist! Und Ehebruch, Meineid, Mord und andere
„scheußliche“ Verbrechen können von der Sittlichkeit geboten werden mit einem
inneren Zwange, vor dem die Furcht vor dem Gerede der Menschen oder
den Strafen des Gesetzes als schimpfliche Feigheit und Schwäche erscheint.
Freilich, der Mensch kann nur nach seinen Zufallsvorstellungen handeln, die
beeinflußt sind von seinen Erfahrungen und den Verhältnissen seiner Um-
gebung. Der Gedanke idealistischer Ethiker, Sittlichkeitsgesetze zu finden, die,
losgelöst von allen Erfahrungen, nie trügende Wegweiser in die Jrrungen des
Lebens stellen, ist ein schöner Traum. Unsere Vorstellungen und die von ihnen
bestimmten Handlungen sind nun einmal an die irdische Menschlichkeit ge-
bunden, und keine göttliche Vollkommenheit gibt uns göttliche Einsicht und
göttliche Kräfte. Auch wenn wir uns eine Jdee Gottes bilden oder eine
Jdee des Menschen, und nach diesen Jdeen allgemein giltige Gesetze auf-
stellen, so urteilen wir nach dem Stande unserer von Mensch zu Mensch, von
Zeit zu Zeit verschiedenen Einsicht, nicht anders, wie ein Kind sich nach den
Märchen, die es gehört, das Bild eines Prinzen zurecht macht und danach die
Wirklichkeit beurteilt. Und was sind wir mehr als märchengläubige Kinder
im Verhältnis zur Allwissenheit?

Jede Zeit und in ihr jede Gesellschaftsgruppe haben ihre eigene Sitt-
lichkeit. Sittlichkeit gibt es nur in der Gesellschaft. Was der Gemeinschaft
nützt oder schadet, macht sich im Gemeinschaftsgefühl, das in den Einzelnen
spricht, als sittlich oder unsittlich geltend. Maßgebend sind die durch die
Verhältnisse geschaffenen Zwecke der Einzelnen wie der Gesellschaft. Der Ein-
zelne strebt zunächst nur nach seinen Zwecken, und der Kampf der Einzelinter-
essen kann sich im Einklang oder im Widerspruch mit den höheren
Jnteressen der Gemeinschaft befinden. „Die Sittlichkeit ist die Mag-
netnadel für die Harmonie der Zwecke. Jhr Pol ist immer der
höhere Zweck. Dient eine Handlung dem niederen Zweck, ohne von der Richtung
des höheren abzuweichen, so bleibt die Nadel in Ruhe. Gehen niederer und
höherer Zweck auseinander, so weist sie auf die steigenden Grade der Achtung
bis zur Bewunderung, wenn die Handlung sich dem niederen Zwecke ab und
dem höheren zuwendet, umgekehrt auf die fallenden Grade der Verachtung
bis zur Entrüstung.“ ( Die Tugend des Genusses, Jena, Costenoble, S. 323 f. )

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[623/0031] Allostis: Der Zweck heiligt das Mittel. bestimmten, von dem Rechte selbst festgelegten Grundsätzen gelten, es hat mit der Sittlichkeit nichts zu tun und bestraft deshalb deshalb auch den edelsten Mörder. Themis ist blind, und vor ihr bleibt Mord, was nach dem Gesetze Mord ist. Wie aber auf dem Gebiete des Rechts nur die rechtswidrige Tötung Mord ist, so ist im Reiche der Sittlichkeit nur der unsittliche Mord verwerflich. Nicht jeder Mörder ist feige, nicht jeder verrucht, und mancher Held edler Sitt- lichkeit hat das Schafott oder den Scheiterhaufen besteigen müssen. So- krates, Christus, Bruno und tausend andere wurden nicht gesetzwidrig hin- gerichtet; aber höher als das Recht steht die Sittlichkeit, leider spricht sie ihr Urteil für den vom Gesetze Gerichteten meist zu spät. Die Sittlichkeit kennt keine absoluten Gebote, wie etwa den kategorischen Jmperativ Kants, und deshalb keine an sich guten oder bösen Handlungen, von ihr gilt der Satz: „Der Zweck heiligt das Mittel“ als ein Gesetz, das im Wesen der Sittlichkeit selbst begründet ist. Sie sagt nicht: Du sollst nicht lügen! sondern: Du sollst nicht lügen, wenn es unsittlich ist! Und Ehebruch, Meineid, Mord und andere „scheußliche“ Verbrechen können von der Sittlichkeit geboten werden mit einem inneren Zwange, vor dem die Furcht vor dem Gerede der Menschen oder den Strafen des Gesetzes als schimpfliche Feigheit und Schwäche erscheint. Freilich, der Mensch kann nur nach seinen Zufallsvorstellungen handeln, die beeinflußt sind von seinen Erfahrungen und den Verhältnissen seiner Um- gebung. Der Gedanke idealistischer Ethiker, Sittlichkeitsgesetze zu finden, die, losgelöst von allen Erfahrungen, nie trügende Wegweiser in die Jrrungen des Lebens stellen, ist ein schöner Traum. Unsere Vorstellungen und die von ihnen bestimmten Handlungen sind nun einmal an die irdische Menschlichkeit ge- bunden, und keine göttliche Vollkommenheit gibt uns göttliche Einsicht und göttliche Kräfte. Auch wenn wir uns eine Jdee Gottes bilden oder eine Jdee des Menschen, und nach diesen Jdeen allgemein giltige Gesetze auf- stellen, so urteilen wir nach dem Stande unserer von Mensch zu Mensch, von Zeit zu Zeit verschiedenen Einsicht, nicht anders, wie ein Kind sich nach den Märchen, die es gehört, das Bild eines Prinzen zurecht macht und danach die Wirklichkeit beurteilt. Und was sind wir mehr als märchengläubige Kinder im Verhältnis zur Allwissenheit? Jede Zeit und in ihr jede Gesellschaftsgruppe haben ihre eigene Sitt- lichkeit. Sittlichkeit gibt es nur in der Gesellschaft. Was der Gemeinschaft nützt oder schadet, macht sich im Gemeinschaftsgefühl, das in den Einzelnen spricht, als sittlich oder unsittlich geltend. Maßgebend sind die durch die Verhältnisse geschaffenen Zwecke der Einzelnen wie der Gesellschaft. Der Ein- zelne strebt zunächst nur nach seinen Zwecken, und der Kampf der Einzelinter- essen kann sich im Einklang oder im Widerspruch mit den höheren Jnteressen der Gemeinschaft befinden. „Die Sittlichkeit ist die Mag- netnadel für die Harmonie der Zwecke. Jhr Pol ist immer der höhere Zweck. Dient eine Handlung dem niederen Zweck, ohne von der Richtung des höheren abzuweichen, so bleibt die Nadel in Ruhe. Gehen niederer und höherer Zweck auseinander, so weist sie auf die steigenden Grade der Achtung bis zur Bewunderung, wenn die Handlung sich dem niederen Zwecke ab und dem höheren zuwendet, umgekehrt auf die fallenden Grade der Verachtung bis zur Entrüstung.“ ( Die Tugend des Genusses, Jena, Costenoble, S. 323 f. )

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 623. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/31>, abgerufen am 22.11.2024.