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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
Maße innerlicher Wertung gemessen, dürfen die von künst-
lerischer oder religiös = genialer Herzenslogik gestalteten Erlebnisse
eine weit höhere Gültigkeit beanspruchen, als die sinnlich korrekten
Wahrnehmungen. Wenn Jesus als unsern Urgrund die Liebe erlebt, oder
wenn vor Goethes Auge die ganze Natur zur Gottheit sich verklärt, so sind
das Erlebnisse, die für die innerliche Kultur der Menschheit erlösende Wahr-
heiten, Entdeckungen heilender Quellen bedeuten. Jedenfalls verdient die Art,
wie das Gemüt die Welt erlebt, nicht hinter die sinnliche Erlebnisweise zurück-
gesetzt zu werden. Denn obwohl sich im Verhältnis des Gemütes zur Welt
mehr die Persönlichkeit als die allgemeine Menschenart kennzeichnet, haben wir
es doch mit einem tatsächlichen Verhältnis, mit vollgültiger Wirklichkeit
zu tun. Und -- "höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit".

Dieselbe Herzenslogik, vermöge deren wir uns aus einer Erlebnis-
Gruppe, die der Verstandeslogik nicht genügen würde, ein Gesamtbild von
einem Menschen machen, ist auch bei der Deutung des Weltalls hervorragend
beteiligt. Einige lebhafte Verhältnisse unseres Gemütes zum Weltall können
hinreichen, uns von seinem Charakter eine Grundvorstellung zu bilden, uns
zum Beispiel ein Vertrauen zum Weltall einzuflößen, aus dem wir dann be-
deutsame Folgerungen ziehen. Jch kenne einen alten Landmann, der ein
inniger Naturfreund, ein Dichter und religiöser Freigeist ist. Er hat ein un-
begrenztes Vertrauen zur Natur. Jahr für Jahr vertraut er ihrem Schoße
den Samen an und weiß, daß sie als ein Wesen voller Ordnung reagiert.
Mit frischer Empfindung für die Schönheit der Blumen und Tiere ausge-
stattet, bringt mein bäuerlicher Dichter der Natur eine schwärmerische Ver-
ehrung wie einer Göttin entgegen. Und was auch immer sie verhängt, gleich-
viel ob Ernte oder Mißernte, ob Lust oder Leid, ob Gesundheit oder Tod,
mit der Logik des Herzens schreibt er all ihrem Walten Sinn und Güte
zu. Sterbend wird er sein Haupt vertrauensvoll in ihren Schoß betten und
wird sich vorkommen wie ein Samenkorn, das nun zwar seine Gestalt ver-
lieren soll, jedoch zu gunsten neuen Lebens, das aus ihm aufersteht gleich
einem Furchthalme. -- Mit der Herzensweisheit dieses Landmannes steht
das Weltbild vieler Verstandesmenschen in schroffem Widerspruche. Kein Ver-
trauen, sondern das ungeheuerlichste Mißtrauen bringen sie der Natur ent-
gegen und halten dies Mißtrauen für wissenschaftlich gerechtfertigt. Sie meinen
nämlich, ein verständiger Mensch müsse einem Wesen, das vor ihm steht,
solange Schlechtes und Dummes zutrauen, als es nicht das Gegenteil bewiesen
hat. Daher gehen sie von dem Axiom aus: "Die Natur ist ein brutales Wesen"
und stellen sich auf den Standpunkt: "So lange man mir nicht mit strenger
Verstandeslogik das Gegenteil bewiesen hat, traue ich der Natur keinerlei Sinn
und Güte zu."

Diese Leute glauben voraussetzungslos zu denken, haben aber gleichwohl
eine Voraussetzung, nämlich ein vorgefaßtes Mißtrauen der Natur gegenüber.
Jch möchte an ihre Gemütslogik appellieren und ihnen die Frage vorlegen:
"Hat der Urgrund, dem wir alle unser Leben nebst allem Geiste, aller Schön-
heit und Hoheit des Daseins verdanken, nicht Anrecht auf einiges Vertrauen?
Und sollte es nicht angebracht sein, es auch einmal mit einer vertrauensvollen
Ausdeutung des Weltalls zu versuchen, anstatt ausgesucht geringschätzig von
ihm zu denken?"

Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
Maße innerlicher Wertung gemessen, dürfen die von künst-
lerischer oder religiös = genialer Herzenslogik gestalteten Erlebnisse
eine weit höhere Gültigkeit beanspruchen, als die sinnlich korrekten
Wahrnehmungen. Wenn Jesus als unsern Urgrund die Liebe erlebt, oder
wenn vor Goethes Auge die ganze Natur zur Gottheit sich verklärt, so sind
das Erlebnisse, die für die innerliche Kultur der Menschheit erlösende Wahr-
heiten, Entdeckungen heilender Quellen bedeuten. Jedenfalls verdient die Art,
wie das Gemüt die Welt erlebt, nicht hinter die sinnliche Erlebnisweise zurück-
gesetzt zu werden. Denn obwohl sich im Verhältnis des Gemütes zur Welt
mehr die Persönlichkeit als die allgemeine Menschenart kennzeichnet, haben wir
es doch mit einem tatsächlichen Verhältnis, mit vollgültiger Wirklichkeit
zu tun. Und — „höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit“.

Dieselbe Herzenslogik, vermöge deren wir uns aus einer Erlebnis-
Gruppe, die der Verstandeslogik nicht genügen würde, ein Gesamtbild von
einem Menschen machen, ist auch bei der Deutung des Weltalls hervorragend
beteiligt. Einige lebhafte Verhältnisse unseres Gemütes zum Weltall können
hinreichen, uns von seinem Charakter eine Grundvorstellung zu bilden, uns
zum Beispiel ein Vertrauen zum Weltall einzuflößen, aus dem wir dann be-
deutsame Folgerungen ziehen. Jch kenne einen alten Landmann, der ein
inniger Naturfreund, ein Dichter und religiöser Freigeist ist. Er hat ein un-
begrenztes Vertrauen zur Natur. Jahr für Jahr vertraut er ihrem Schoße
den Samen an und weiß, daß sie als ein Wesen voller Ordnung reagiert.
Mit frischer Empfindung für die Schönheit der Blumen und Tiere ausge-
stattet, bringt mein bäuerlicher Dichter der Natur eine schwärmerische Ver-
ehrung wie einer Göttin entgegen. Und was auch immer sie verhängt, gleich-
viel ob Ernte oder Mißernte, ob Lust oder Leid, ob Gesundheit oder Tod,
mit der Logik des Herzens schreibt er all ihrem Walten Sinn und Güte
zu. Sterbend wird er sein Haupt vertrauensvoll in ihren Schoß betten und
wird sich vorkommen wie ein Samenkorn, das nun zwar seine Gestalt ver-
lieren soll, jedoch zu gunsten neuen Lebens, das aus ihm aufersteht gleich
einem Furchthalme. — Mit der Herzensweisheit dieses Landmannes steht
das Weltbild vieler Verstandesmenschen in schroffem Widerspruche. Kein Ver-
trauen, sondern das ungeheuerlichste Mißtrauen bringen sie der Natur ent-
gegen und halten dies Mißtrauen für wissenschaftlich gerechtfertigt. Sie meinen
nämlich, ein verständiger Mensch müsse einem Wesen, das vor ihm steht,
solange Schlechtes und Dummes zutrauen, als es nicht das Gegenteil bewiesen
hat. Daher gehen sie von dem Axiom aus: „Die Natur ist ein brutales Wesen“
und stellen sich auf den Standpunkt: „So lange man mir nicht mit strenger
Verstandeslogik das Gegenteil bewiesen hat, traue ich der Natur keinerlei Sinn
und Güte zu.“

Diese Leute glauben voraussetzungslos zu denken, haben aber gleichwohl
eine Voraussetzung, nämlich ein vorgefaßtes Mißtrauen der Natur gegenüber.
Jch möchte an ihre Gemütslogik appellieren und ihnen die Frage vorlegen:
„Hat der Urgrund, dem wir alle unser Leben nebst allem Geiste, aller Schön-
heit und Hoheit des Daseins verdanken, nicht Anrecht auf einiges Vertrauen?
Und sollte es nicht angebracht sein, es auch einmal mit einer vertrauensvollen
Ausdeutung des Weltalls zu versuchen, anstatt ausgesucht geringschätzig von
ihm zu denken?“

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/27>, abgerufen am 24.11.2024.