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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
Sonne als einen seelenlosen Feuerball betrachten darf, unfähig zur Liebe, weil
ihm Sinnesorgane, Nerven und Gehirn fehlen. Scheu zieht sich das Gemüt
zurück vor der rücksichtslosen Verstandeslogik. Diese Scheu darf nicht ohne
weiteres Weichlichkeit gescholten werden. Es kann in ihr ein sittliches Feingefühl
zum Ausdrucke gelangen, nämlich das Gewissen des schon erwähnten*) Logos
der Persönlichkeit, der die Harmonie ihrer edelsten Kräfte, wenn irgend möglich,
wahren möchte. Die Zerrissenheit der Persönlichkeit zeigt stets an, daß sie
nicht das rechte Verhältnis zur Welt gefunden hat, und daß also ihre Welt-
anschauung einer Revision und Reform bedarf. Die Zerrissenheit hat eine
ganz ähnliche Mission wie der intellektuelle Zweifel, der den Geist anspornt,
einen Widerspruch auszugleichen und ein Rätsel zu lösen. Die Zerrissenheit geht
also auf Selbstheilung aus. Zur Heilung aber kommen zwei Möglichkeiten in
Betracht: Der Fehler beim Deuten der Welt, der schuld an der Zerrissenheit ist,
kann auf seiten der Herzenslogik liegen, aber auch auf seiten der Verstandes-
logik. Jm vorliegenden Falle ist es nicht absolut ausgeschlossen, daß der
Verstand Unrecht hat mit seiner Meinung, die Sonne sei ein seelenloses Wesen,
ein brutaler Feuerball. Vielleicht gelingt es der Wissenschaft, durch Verstandes-
logik nachzuweisen, daß nirgendwo in der weiten Welt das vorkommt, was der
grobe Materialist oder Mechanist als stumpfen Stoff oder als bloß räumlichen
Vorgang betrachtet, daß vielmehr zu aller Sinnfälligkeit auch ein Jnnenleben,
ein Empfinden, Fühlen, Wollen hinzugedacht werden muß. Sobald nun unsere
Persönlichkeit auf verständigem Wege zu dieser Weltvergeistigung gelangt ist,
wird unser Gemüt aufjubeln: "Also hat die Herzenslogik doch nicht betrogen,
und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß im Sonnenschein eine wohltätige
Liebe sich äußert! Was ich längst geahnt habe, muß nun der kluge Kopf be-
stätigen."

Herzenslogik spielt in unserm Geistesleben eine weit größere Rolle, als
der Erkenntnistheoretiker gewöhnlich meint. Wollte unser logisches Bedürfnis
einzig und allein auf Verstandes=Schlüsse sich verlassen, wir kämen in arge
Verlegenheit. Geben wir uns zum Beispiel genaue Rechenschaft, weshalb wir
einem sympathischen oder lieben Menschen Vertrauen schenken. Vielleicht haben
wir nur wenige Stunden mit ihm Jdeen und Gefühle ausgetauscht, und dies
Erlebnis, für den kühlen Verstand ein ungenügendes Material, hat
hingereicht, zwischen diesem Menschen und uns das Band der Freund-
schaft oder der Liebe zu knüpfen. Faust und Gretchen sind einander
nur flüchtig auf der Straße begegnet, er hat ein paar keck=galante,
sie ein paar schnippische Worte gesprochen, und doch sind ihre
Herzen einander zugeflogen, wie von einer geheimnisvollen Macht stürmisch zur
Vereinigung getrieben. Um das zu erklären, reicht der sinnliche Trieb der
Gattung nicht aus. Bei einer tieferen Liebe spielt seelisch=geistige Sympathie
die entscheidende Rolle. Das Vertrauen, welches Liebende oder Befreundete
einander entgegenbringen, ist gewöhnlich das Ergebnis einer Herzenslogik. Es
gründet sich nicht auf Erfahrungen, deren Vollständigkeit und verständige Ver-
arbeitung von kühler Kritik zugestanden werden, sondern auf streiflichtartige
Anblicke einzelner, oft unscheinbarer Partien der Persönlichkeit, die von der
gestaltenden Kraft der Stimmung und Phantasie zu einem Gesamtbilde ergänzt

*) Jm Aufsatze "Renaissance der innerlichen Kultur ".

Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
Sonne als einen seelenlosen Feuerball betrachten darf, unfähig zur Liebe, weil
ihm Sinnesorgane, Nerven und Gehirn fehlen. Scheu zieht sich das Gemüt
zurück vor der rücksichtslosen Verstandeslogik. Diese Scheu darf nicht ohne
weiteres Weichlichkeit gescholten werden. Es kann in ihr ein sittliches Feingefühl
zum Ausdrucke gelangen, nämlich das Gewissen des schon erwähnten*) Logos
der Persönlichkeit, der die Harmonie ihrer edelsten Kräfte, wenn irgend möglich,
wahren möchte. Die Zerrissenheit der Persönlichkeit zeigt stets an, daß sie
nicht das rechte Verhältnis zur Welt gefunden hat, und daß also ihre Welt-
anschauung einer Revision und Reform bedarf. Die Zerrissenheit hat eine
ganz ähnliche Mission wie der intellektuelle Zweifel, der den Geist anspornt,
einen Widerspruch auszugleichen und ein Rätsel zu lösen. Die Zerrissenheit geht
also auf Selbstheilung aus. Zur Heilung aber kommen zwei Möglichkeiten in
Betracht: Der Fehler beim Deuten der Welt, der schuld an der Zerrissenheit ist,
kann auf seiten der Herzenslogik liegen, aber auch auf seiten der Verstandes-
logik. Jm vorliegenden Falle ist es nicht absolut ausgeschlossen, daß der
Verstand Unrecht hat mit seiner Meinung, die Sonne sei ein seelenloses Wesen,
ein brutaler Feuerball. Vielleicht gelingt es der Wissenschaft, durch Verstandes-
logik nachzuweisen, daß nirgendwo in der weiten Welt das vorkommt, was der
grobe Materialist oder Mechanist als stumpfen Stoff oder als bloß räumlichen
Vorgang betrachtet, daß vielmehr zu aller Sinnfälligkeit auch ein Jnnenleben,
ein Empfinden, Fühlen, Wollen hinzugedacht werden muß. Sobald nun unsere
Persönlichkeit auf verständigem Wege zu dieser Weltvergeistigung gelangt ist,
wird unser Gemüt aufjubeln: „Also hat die Herzenslogik doch nicht betrogen,
und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß im Sonnenschein eine wohltätige
Liebe sich äußert! Was ich längst geahnt habe, muß nun der kluge Kopf be-
stätigen.“

Herzenslogik spielt in unserm Geistesleben eine weit größere Rolle, als
der Erkenntnistheoretiker gewöhnlich meint. Wollte unser logisches Bedürfnis
einzig und allein auf Verstandes=Schlüsse sich verlassen, wir kämen in arge
Verlegenheit. Geben wir uns zum Beispiel genaue Rechenschaft, weshalb wir
einem sympathischen oder lieben Menschen Vertrauen schenken. Vielleicht haben
wir nur wenige Stunden mit ihm Jdeen und Gefühle ausgetauscht, und dies
Erlebnis, für den kühlen Verstand ein ungenügendes Material, hat
hingereicht, zwischen diesem Menschen und uns das Band der Freund-
schaft oder der Liebe zu knüpfen. Faust und Gretchen sind einander
nur flüchtig auf der Straße begegnet, er hat ein paar keck=galante,
sie ein paar schnippische Worte gesprochen, und doch sind ihre
Herzen einander zugeflogen, wie von einer geheimnisvollen Macht stürmisch zur
Vereinigung getrieben. Um das zu erklären, reicht der sinnliche Trieb der
Gattung nicht aus. Bei einer tieferen Liebe spielt seelisch=geistige Sympathie
die entscheidende Rolle. Das Vertrauen, welches Liebende oder Befreundete
einander entgegenbringen, ist gewöhnlich das Ergebnis einer Herzenslogik. Es
gründet sich nicht auf Erfahrungen, deren Vollständigkeit und verständige Ver-
arbeitung von kühler Kritik zugestanden werden, sondern auf streiflichtartige
Anblicke einzelner, oft unscheinbarer Partien der Persönlichkeit, die von der
gestaltenden Kraft der Stimmung und Phantasie zu einem Gesamtbilde ergänzt

*) Jm Aufsatze „Renaissance der innerlichen Kultur “.
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[617/0025] Dr. Bruno Wille: Herzenslogik. Sonne als einen seelenlosen Feuerball betrachten darf, unfähig zur Liebe, weil ihm Sinnesorgane, Nerven und Gehirn fehlen. Scheu zieht sich das Gemüt zurück vor der rücksichtslosen Verstandeslogik. Diese Scheu darf nicht ohne weiteres Weichlichkeit gescholten werden. Es kann in ihr ein sittliches Feingefühl zum Ausdrucke gelangen, nämlich das Gewissen des schon erwähnten *) Logos der Persönlichkeit, der die Harmonie ihrer edelsten Kräfte, wenn irgend möglich, wahren möchte. Die Zerrissenheit der Persönlichkeit zeigt stets an, daß sie nicht das rechte Verhältnis zur Welt gefunden hat, und daß also ihre Welt- anschauung einer Revision und Reform bedarf. Die Zerrissenheit hat eine ganz ähnliche Mission wie der intellektuelle Zweifel, der den Geist anspornt, einen Widerspruch auszugleichen und ein Rätsel zu lösen. Die Zerrissenheit geht also auf Selbstheilung aus. Zur Heilung aber kommen zwei Möglichkeiten in Betracht: Der Fehler beim Deuten der Welt, der schuld an der Zerrissenheit ist, kann auf seiten der Herzenslogik liegen, aber auch auf seiten der Verstandes- logik. Jm vorliegenden Falle ist es nicht absolut ausgeschlossen, daß der Verstand Unrecht hat mit seiner Meinung, die Sonne sei ein seelenloses Wesen, ein brutaler Feuerball. Vielleicht gelingt es der Wissenschaft, durch Verstandes- logik nachzuweisen, daß nirgendwo in der weiten Welt das vorkommt, was der grobe Materialist oder Mechanist als stumpfen Stoff oder als bloß räumlichen Vorgang betrachtet, daß vielmehr zu aller Sinnfälligkeit auch ein Jnnenleben, ein Empfinden, Fühlen, Wollen hinzugedacht werden muß. Sobald nun unsere Persönlichkeit auf verständigem Wege zu dieser Weltvergeistigung gelangt ist, wird unser Gemüt aufjubeln: „Also hat die Herzenslogik doch nicht betrogen, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß im Sonnenschein eine wohltätige Liebe sich äußert! Was ich längst geahnt habe, muß nun der kluge Kopf be- stätigen.“ Herzenslogik spielt in unserm Geistesleben eine weit größere Rolle, als der Erkenntnistheoretiker gewöhnlich meint. Wollte unser logisches Bedürfnis einzig und allein auf Verstandes=Schlüsse sich verlassen, wir kämen in arge Verlegenheit. Geben wir uns zum Beispiel genaue Rechenschaft, weshalb wir einem sympathischen oder lieben Menschen Vertrauen schenken. Vielleicht haben wir nur wenige Stunden mit ihm Jdeen und Gefühle ausgetauscht, und dies Erlebnis, für den kühlen Verstand ein ungenügendes Material, hat hingereicht, zwischen diesem Menschen und uns das Band der Freund- schaft oder der Liebe zu knüpfen. Faust und Gretchen sind einander nur flüchtig auf der Straße begegnet, er hat ein paar keck=galante, sie ein paar schnippische Worte gesprochen, und doch sind ihre Herzen einander zugeflogen, wie von einer geheimnisvollen Macht stürmisch zur Vereinigung getrieben. Um das zu erklären, reicht der sinnliche Trieb der Gattung nicht aus. Bei einer tieferen Liebe spielt seelisch=geistige Sympathie die entscheidende Rolle. Das Vertrauen, welches Liebende oder Befreundete einander entgegenbringen, ist gewöhnlich das Ergebnis einer Herzenslogik. Es gründet sich nicht auf Erfahrungen, deren Vollständigkeit und verständige Ver- arbeitung von kühler Kritik zugestanden werden, sondern auf streiflichtartige Anblicke einzelner, oft unscheinbarer Partien der Persönlichkeit, die von der gestaltenden Kraft der Stimmung und Phantasie zu einem Gesamtbilde ergänzt *) Jm Aufsatze „Renaissance der innerlichen Kultur “.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/25>, abgerufen am 24.11.2024.