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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
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Herzenslogik.
Von Dr. Bruno Wille, Friedrichshagen.
"Jst nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?"

Dies Goethewort erwähnte ich, als die Europa=Leser jüngst meiner Be-
trachtung über Renaissance der innerlichen Kultur folgten. Die gleiche Hin-
deutung finden wir in Goethes "Vermächtnis":

"Das Zentrum findest du da drinnen."

Gemeint ist die Welt des Gemütes, von der es im "Prooemion" heißt:

"Jm Jnnern ist ein Universum auch."

Nicht der Verstand ist dieser Mittelpunkt, wo das Tiefste und Jnnigste
unserer Natur offenbar wird, sondern das Gemüt, die Sphäre des Fühlens und
Strebens. Hier quillt die eigenartige Gestaltungskraft, die der Weltanschauung
eines Menschen den individuellen Charakter verleiht. Jch könnte auch sagen:
den religiösen Charakter. Denn die Art, wie das Herz mit seinem Jdealismus
unser sinnliches Erleben und verständiges Erfassen der Dinge durchblutet und
individuell belebt, ist das eigentümlich Religiöse an aller Weltanschauung.
Drum suchte der edle Moritz von Egidy zu neuer Religiosität durch die Mahnung
anzuregen: "Lerne mit dem Herzen denken!" Jndessen nimmt der Ver-
standesmensch an solchem Mitreden des Herzens über Erkenntnisangelegenheiten
Aergernis. Er wirft dem Herzen vor, es störe die Logik des Kopfes, indem
es den Wunsch Vater des Gedankens werden lasse. Und in der Tat ist mancher
Unsinn auf dem Gebiete der Weltanschauung daraus entsprungen, daß Leicht-
gläubigkeit sich durch Herzensbedürfnisse zu Phantasterei hinreißen ließ. Aber
solche Ausartung wird nur da möglich, wo kritische Selbstbeschränkung fehlt.
Das Gemüt sollte den Verstand ebensowenig mißachten, wie dieser das Gemüt.
Als zwei Sinne haben die beiden sich zu betrachten, zu gegenseitiger Ergänzung
berufen, ähnlich wie Auge und Ohr, von denen immer das eine etwas leistet,
was das andere nicht vermag.

Warum willst du, Fanatiker des Verstandes, dem Gemüte unter keinen
Umständen das Recht einräumen, an der Gestaltung des Weltbildes mitzu-
wirken? Muß denn ein Gedanke, dessen Vater der Wunsch ist, notwendigerweise
falsch sein? Können Bedürfnisse des Gemütes uns nicht auch zur Wahrheit
leiten? Und darf man nicht dem Herzen ebenfalls eine Logik zuschreiben?
Sehen wir uns die Logik des Verstandes näher an! Sie schließt überein-
stimmende Erlebnisse zu Einheiten oder Allgemeinheiten zusammen, die wir
Begriffe und Gesetze nennen. Diese Begriffe und Gesetze wendet sie auf be-
sondere Fälle in der Weise an, daß vom Besonderen alles gilt, was vom Allge-
meinen ausgesagt wird.

Vergleichen wir nun mit dieser Verstandeslogik die Tätigkeit des Ge-
mütes. Es ist ebenfalls imstande, Einheiten oder Allgemeinheiten zu bilden.

Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
[Abbildung]
Herzenslogik.
Von Dr. Bruno Wille, Friedrichshagen.
„Jst nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?“

Dies Goethewort erwähnte ich, als die Europa=Leser jüngst meiner Be-
trachtung über Renaissance der innerlichen Kultur folgten. Die gleiche Hin-
deutung finden wir in Goethes „Vermächtnis“:

„Das Zentrum findest du da drinnen.“

Gemeint ist die Welt des Gemütes, von der es im „Prooemion“ heißt:

„Jm Jnnern ist ein Universum auch.“

Nicht der Verstand ist dieser Mittelpunkt, wo das Tiefste und Jnnigste
unserer Natur offenbar wird, sondern das Gemüt, die Sphäre des Fühlens und
Strebens. Hier quillt die eigenartige Gestaltungskraft, die der Weltanschauung
eines Menschen den individuellen Charakter verleiht. Jch könnte auch sagen:
den religiösen Charakter. Denn die Art, wie das Herz mit seinem Jdealismus
unser sinnliches Erleben und verständiges Erfassen der Dinge durchblutet und
individuell belebt, ist das eigentümlich Religiöse an aller Weltanschauung.
Drum suchte der edle Moritz von Egidy zu neuer Religiosität durch die Mahnung
anzuregen: „Lerne mit dem Herzen denken!“ Jndessen nimmt der Ver-
standesmensch an solchem Mitreden des Herzens über Erkenntnisangelegenheiten
Aergernis. Er wirft dem Herzen vor, es störe die Logik des Kopfes, indem
es den Wunsch Vater des Gedankens werden lasse. Und in der Tat ist mancher
Unsinn auf dem Gebiete der Weltanschauung daraus entsprungen, daß Leicht-
gläubigkeit sich durch Herzensbedürfnisse zu Phantasterei hinreißen ließ. Aber
solche Ausartung wird nur da möglich, wo kritische Selbstbeschränkung fehlt.
Das Gemüt sollte den Verstand ebensowenig mißachten, wie dieser das Gemüt.
Als zwei Sinne haben die beiden sich zu betrachten, zu gegenseitiger Ergänzung
berufen, ähnlich wie Auge und Ohr, von denen immer das eine etwas leistet,
was das andere nicht vermag.

Warum willst du, Fanatiker des Verstandes, dem Gemüte unter keinen
Umständen das Recht einräumen, an der Gestaltung des Weltbildes mitzu-
wirken? Muß denn ein Gedanke, dessen Vater der Wunsch ist, notwendigerweise
falsch sein? Können Bedürfnisse des Gemütes uns nicht auch zur Wahrheit
leiten? Und darf man nicht dem Herzen ebenfalls eine Logik zuschreiben?
Sehen wir uns die Logik des Verstandes näher an! Sie schließt überein-
stimmende Erlebnisse zu Einheiten oder Allgemeinheiten zusammen, die wir
Begriffe und Gesetze nennen. Diese Begriffe und Gesetze wendet sie auf be-
sondere Fälle in der Weise an, daß vom Besonderen alles gilt, was vom Allge-
meinen ausgesagt wird.

Vergleichen wir nun mit dieser Verstandeslogik die Tätigkeit des Ge-
mütes. Es ist ebenfalls imstande, Einheiten oder Allgemeinheiten zu bilden.

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[615/0023] Dr. Bruno Wille: Herzenslogik. [Abbildung] Herzenslogik. Von Dr. Bruno Wille, Friedrichshagen. „Jst nicht der Kern der Natur Menschen im Herzen?“ Dies Goethewort erwähnte ich, als die Europa=Leser jüngst meiner Be- trachtung über Renaissance der innerlichen Kultur folgten. Die gleiche Hin- deutung finden wir in Goethes „Vermächtnis“: „Das Zentrum findest du da drinnen.“ Gemeint ist die Welt des Gemütes, von der es im „Prooemion“ heißt: „Jm Jnnern ist ein Universum auch.“ Nicht der Verstand ist dieser Mittelpunkt, wo das Tiefste und Jnnigste unserer Natur offenbar wird, sondern das Gemüt, die Sphäre des Fühlens und Strebens. Hier quillt die eigenartige Gestaltungskraft, die der Weltanschauung eines Menschen den individuellen Charakter verleiht. Jch könnte auch sagen: den religiösen Charakter. Denn die Art, wie das Herz mit seinem Jdealismus unser sinnliches Erleben und verständiges Erfassen der Dinge durchblutet und individuell belebt, ist das eigentümlich Religiöse an aller Weltanschauung. Drum suchte der edle Moritz von Egidy zu neuer Religiosität durch die Mahnung anzuregen: „Lerne mit dem Herzen denken!“ Jndessen nimmt der Ver- standesmensch an solchem Mitreden des Herzens über Erkenntnisangelegenheiten Aergernis. Er wirft dem Herzen vor, es störe die Logik des Kopfes, indem es den Wunsch Vater des Gedankens werden lasse. Und in der Tat ist mancher Unsinn auf dem Gebiete der Weltanschauung daraus entsprungen, daß Leicht- gläubigkeit sich durch Herzensbedürfnisse zu Phantasterei hinreißen ließ. Aber solche Ausartung wird nur da möglich, wo kritische Selbstbeschränkung fehlt. Das Gemüt sollte den Verstand ebensowenig mißachten, wie dieser das Gemüt. Als zwei Sinne haben die beiden sich zu betrachten, zu gegenseitiger Ergänzung berufen, ähnlich wie Auge und Ohr, von denen immer das eine etwas leistet, was das andere nicht vermag. Warum willst du, Fanatiker des Verstandes, dem Gemüte unter keinen Umständen das Recht einräumen, an der Gestaltung des Weltbildes mitzu- wirken? Muß denn ein Gedanke, dessen Vater der Wunsch ist, notwendigerweise falsch sein? Können Bedürfnisse des Gemütes uns nicht auch zur Wahrheit leiten? Und darf man nicht dem Herzen ebenfalls eine Logik zuschreiben? Sehen wir uns die Logik des Verstandes näher an! Sie schließt überein- stimmende Erlebnisse zu Einheiten oder Allgemeinheiten zusammen, die wir Begriffe und Gesetze nennen. Diese Begriffe und Gesetze wendet sie auf be- sondere Fälle in der Weise an, daß vom Besonderen alles gilt, was vom Allge- meinen ausgesagt wird. Vergleichen wir nun mit dieser Verstandeslogik die Tätigkeit des Ge- mütes. Es ist ebenfalls imstande, Einheiten oder Allgemeinheiten zu bilden.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 615. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/23>, abgerufen am 11.12.2024.