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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Allostis: Die heilige Scham.
heit sich regte, da wurde sie unruhig und suchte sie zu ersticken in ihrem
Schlamme. Doch wo der Schein der Gleichheit ihre stumpfen Augen traf, da
war sie ruhig, und unbemerkt konnte in diesem Scheine das Starke wachsen,
bis es ihn gefahrlos durchbrechen konnte. Fest hält die Masse den Schein
und am festesten den Schein der Gleichheit, weil Gleichheit das Leben der
Masse ist. Und weil sie blind ist, nimmt sie den Schein für Wahrheit.

Daß nicht die Schwachen dem Starken und nicht der Starke dem Schwachen
gefährlich werde, zieht die Natur allen die Schutzhaut der Gleichheit an. Doch
wenn der Starke nichts zu fürchten hat, was soll die Schutzhaut ihn beengen?
Und wenn die Erkenntnis der Verschiedenheit dämmert, was soll der Schein
der Gleichheit das Licht der Wahrheit trüben?

Siehst Du, daß Scham und Ehre und Moral Makel der Schwachheit
sind? Daß sie Tugenden sind vor den blöden Augen der Gleichheit und Laster
vor den erkennenden Blicken der Verschiedenheit? Daß sie Tugenden sind den
Kleinen, weil sie die Kleinen größer machen, und Laster den Großen, weil sie
die Großen kleiner machen?

Nackt spielen die Kinder miteinander und kennen nicht die Scham, denn
keine Gefahr bringt ihnen das Geschlecht, keine Schwachheit ist zu schützen, und
ohne Makel bleibt die Reinheit.

Fremd ist den Tieren die Scham, denn nur während der Brunstzeit lebt
die Gefahr des Geschlechts, und nicht des Schutzes der Scham bedarf es, wo
die Natur für andere Sicherheiten sorgt. Jn ewiger Brunst aber giert der
Mensch, und je tiefer er im Sumpfe der Gleichheit steckt, um so gefährlicher
ist der schwächende Trieb. Zum Schutze baute die Natur die Schranken der
Scham. Und klug ersann sie das Mittel. Künstlich schafft sie Gleichheit, damit
die Verschiedenheit im geheimen besser reife.

Vierfach war der Erfolg:

Zur Sitte wurde die Scham und in der Sitte gab sie den Einzelnen
die Macht der Gesamtheit. So wurden die Schwachen getragen vom
Schutze aller.

Die Freiheit wurde beschränkt, und so wurden die Starken geschützt
vor sich selber, vor dem Uebermaße der Lust.

Weihe gab die Scham und adelte den Genuß, und

Mit dem höheren Reiz, dem edleren Triebe verminderte sich die
wahllose Vermischung, und festere Wurzeln faßte die Verschiedenheit und
reichere Blüten trug sie. --

Siehst Du, daß Scham ein Mittel ist und nicht heilig ist um ihretwillen?

Siehst Du auch, daß die Scham der Menschen wegen da ist und nicht
Gottes?

O der armen Himmelsbräute, die unter dem Wahne falschen Gottes-
glaubens ihres Leibes Blüten verdorren lassen! Die nicht wissen, daß die Scham
ein göttlich Mittel ist, den Leib zu irdischen Freuden zu weihen, und nicht
der Leib ein irdisch Mittel, dem göttlichen Geist zu dienen, die Scham ein
heiliger Zweck, um durch Vernichtung des Geschöpfes den Schöpfer zu
preisen!

Allostis: Die heilige Scham.
heit sich regte, da wurde sie unruhig und suchte sie zu ersticken in ihrem
Schlamme. Doch wo der Schein der Gleichheit ihre stumpfen Augen traf, da
war sie ruhig, und unbemerkt konnte in diesem Scheine das Starke wachsen,
bis es ihn gefahrlos durchbrechen konnte. Fest hält die Masse den Schein
und am festesten den Schein der Gleichheit, weil Gleichheit das Leben der
Masse ist. Und weil sie blind ist, nimmt sie den Schein für Wahrheit.

Daß nicht die Schwachen dem Starken und nicht der Starke dem Schwachen
gefährlich werde, zieht die Natur allen die Schutzhaut der Gleichheit an. Doch
wenn der Starke nichts zu fürchten hat, was soll die Schutzhaut ihn beengen?
Und wenn die Erkenntnis der Verschiedenheit dämmert, was soll der Schein
der Gleichheit das Licht der Wahrheit trüben?

Siehst Du, daß Scham und Ehre und Moral Makel der Schwachheit
sind? Daß sie Tugenden sind vor den blöden Augen der Gleichheit und Laster
vor den erkennenden Blicken der Verschiedenheit? Daß sie Tugenden sind den
Kleinen, weil sie die Kleinen größer machen, und Laster den Großen, weil sie
die Großen kleiner machen?

Nackt spielen die Kinder miteinander und kennen nicht die Scham, denn
keine Gefahr bringt ihnen das Geschlecht, keine Schwachheit ist zu schützen, und
ohne Makel bleibt die Reinheit.

Fremd ist den Tieren die Scham, denn nur während der Brunstzeit lebt
die Gefahr des Geschlechts, und nicht des Schutzes der Scham bedarf es, wo
die Natur für andere Sicherheiten sorgt. Jn ewiger Brunst aber giert der
Mensch, und je tiefer er im Sumpfe der Gleichheit steckt, um so gefährlicher
ist der schwächende Trieb. Zum Schutze baute die Natur die Schranken der
Scham. Und klug ersann sie das Mittel. Künstlich schafft sie Gleichheit, damit
die Verschiedenheit im geheimen besser reife.

Vierfach war der Erfolg:

Zur Sitte wurde die Scham und in der Sitte gab sie den Einzelnen
die Macht der Gesamtheit. So wurden die Schwachen getragen vom
Schutze aller.

Die Freiheit wurde beschränkt, und so wurden die Starken geschützt
vor sich selber, vor dem Uebermaße der Lust.

Weihe gab die Scham und adelte den Genuß, und

Mit dem höheren Reiz, dem edleren Triebe verminderte sich die
wahllose Vermischung, und festere Wurzeln faßte die Verschiedenheit und
reichere Blüten trug sie. —

Siehst Du, daß Scham ein Mittel ist und nicht heilig ist um ihretwillen?

Siehst Du auch, daß die Scham der Menschen wegen da ist und nicht
Gottes?

O der armen Himmelsbräute, die unter dem Wahne falschen Gottes-
glaubens ihres Leibes Blüten verdorren lassen! Die nicht wissen, daß die Scham
ein göttlich Mittel ist, den Leib zu irdischen Freuden zu weihen, und nicht
der Leib ein irdisch Mittel, dem göttlichen Geist zu dienen, die Scham ein
heiliger Zweck, um durch Vernichtung des Geschöpfes den Schöpfer zu
preisen!

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[476/0044] Allostis: Die heilige Scham. heit sich regte, da wurde sie unruhig und suchte sie zu ersticken in ihrem Schlamme. Doch wo der Schein der Gleichheit ihre stumpfen Augen traf, da war sie ruhig, und unbemerkt konnte in diesem Scheine das Starke wachsen, bis es ihn gefahrlos durchbrechen konnte. Fest hält die Masse den Schein und am festesten den Schein der Gleichheit, weil Gleichheit das Leben der Masse ist. Und weil sie blind ist, nimmt sie den Schein für Wahrheit. Daß nicht die Schwachen dem Starken und nicht der Starke dem Schwachen gefährlich werde, zieht die Natur allen die Schutzhaut der Gleichheit an. Doch wenn der Starke nichts zu fürchten hat, was soll die Schutzhaut ihn beengen? Und wenn die Erkenntnis der Verschiedenheit dämmert, was soll der Schein der Gleichheit das Licht der Wahrheit trüben? Siehst Du, daß Scham und Ehre und Moral Makel der Schwachheit sind? Daß sie Tugenden sind vor den blöden Augen der Gleichheit und Laster vor den erkennenden Blicken der Verschiedenheit? Daß sie Tugenden sind den Kleinen, weil sie die Kleinen größer machen, und Laster den Großen, weil sie die Großen kleiner machen? Nackt spielen die Kinder miteinander und kennen nicht die Scham, denn keine Gefahr bringt ihnen das Geschlecht, keine Schwachheit ist zu schützen, und ohne Makel bleibt die Reinheit. Fremd ist den Tieren die Scham, denn nur während der Brunstzeit lebt die Gefahr des Geschlechts, und nicht des Schutzes der Scham bedarf es, wo die Natur für andere Sicherheiten sorgt. Jn ewiger Brunst aber giert der Mensch, und je tiefer er im Sumpfe der Gleichheit steckt, um so gefährlicher ist der schwächende Trieb. Zum Schutze baute die Natur die Schranken der Scham. Und klug ersann sie das Mittel. Künstlich schafft sie Gleichheit, damit die Verschiedenheit im geheimen besser reife. Vierfach war der Erfolg: Zur Sitte wurde die Scham und in der Sitte gab sie den Einzelnen die Macht der Gesamtheit. So wurden die Schwachen getragen vom Schutze aller. Die Freiheit wurde beschränkt, und so wurden die Starken geschützt vor sich selber, vor dem Uebermaße der Lust. Weihe gab die Scham und adelte den Genuß, und Mit dem höheren Reiz, dem edleren Triebe verminderte sich die wahllose Vermischung, und festere Wurzeln faßte die Verschiedenheit und reichere Blüten trug sie. — Siehst Du, daß Scham ein Mittel ist und nicht heilig ist um ihretwillen? Siehst Du auch, daß die Scham der Menschen wegen da ist und nicht Gottes? O der armen Himmelsbräute, die unter dem Wahne falschen Gottes- glaubens ihres Leibes Blüten verdorren lassen! Die nicht wissen, daß die Scham ein göttlich Mittel ist, den Leib zu irdischen Freuden zu weihen, und nicht der Leib ein irdisch Mittel, dem göttlichen Geist zu dienen, die Scham ein heiliger Zweck, um durch Vernichtung des Geschöpfes den Schöpfer zu preisen!

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/44>, abgerufen am 27.11.2024.