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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Pastor Dr. A. Kalthoff: Hebbel als Prophet.
[Abbildung]
Hebbel als Prophet.
Von Pastor Dr. A. Kalthoff, Bremen.

Das politische Lied, das das junge Deutschland in der ersten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts dem Volke gesungen, war ein garstig Lied geworden,
seitdem die Hochflut der politischen Reaktion über seine Sänger hinweggerauscht
war. Die Partei der Freien war in Deutschland nicht zum Siege gelangt.
Sie war schon zersprengt, als das Revolutionsjahr ein jähes Erwachen aus
allen Freiheitsträumen gebracht hatte. Unten im Volk, wo der alte Traum
doch weiter geträumt wurde, gab's noch keine neuen Freiheitslieder wieder. Der
Ruf nach Brot aus hungrigem Magen war noch zu realistisch, zu prosaisch,
als daß er schon seine poetische Verklärung hätte finden können. Und oben,
wo der Traum schon ausgeträumt schien, gab es keine Freiheitslieder mehr!
Denn es gab keine Sehnsucht mehr, entweder aus Furcht vor dem Säbel, oder
ein zufriedenes Sichgenügenlassen an den Brosamen, die von der Herren Tische
fielen.

Jetzt aber geschieht etwas Merkwürdiges: es zeigt sich, daß hinter den
Parteidichtern im deutschen Volke noch eine Kunst geboren ist, die von den
lauten Fanfarenklängen der Zeit übertönt, mit ihrem neuen Liede erst zu Gehör
kommen konnte, als es wieder still geworden war von allen Parteiliedern, die
aber jetzt auch denen sich vernehmlich erwies, in deren Menschenelend bis dahin
sich keine Stätte für Poesie hatte finden wollen. Eine dem Leben nicht ge-
wachsene Parteidichtung führt in ihrem Verfall zu Männern zurück, die mit
jenem Menschlichen gerungen, das jenseits der Parteien seinen Standort hat.
Damit ringt auch das religiöse Leben, für das im politischen Kampfe der
einzige Sallet ein tieferes Empfinden bekundet, nach neuen Gestaltungen, und
namentlich ist es Hebbel, dessen ringende Kunst überall auf eine neue Offen-
barung des religiösen Geistes hinweist.

Eine Kraftnatur, wie Hebbel, kann auch in ihrem religiösen Empfinden
nur auf der Seite der Kraft stehen. Die weiche Stimmungsreligion der Ro-
mantiker ist ihm unverständlich, und den frommen Novalis, den Dichter der
Christus= und Marienlieder, lehnt er ab, weil da das Herz sich herausnehme,
den ganzen Körper einsaugen zu wollen. Hebbel hat einen wahren Jngrimm
gegen den "süßlich gleißnerischen Pietismus", der namentlich in den Anstalten
und Vereinen der inneren Mission wuchere, wo man den Priesterrock so sorg-
fältig bürste, als ob Kleider Heilige machten. Er kennt wohl auch die
Schwächen des Rationalismus, der in seiner glatten Vernünftigkeit nur prak-
tische Nützlichkeitswerte einschätzt und dem nichts heilig ist, was nicht ein
materielles Bedürfnis befriedigt. Aber in einer Zeit -- Hebbel schreibt das
1862 -- wo das Tischrücken und die Geisterklopferei beweisen, daß die dunkle
Wurzel, der die Weltgeschichte ihre reichste Passionsblumenflor verdankt, noch

Pastor Dr. A. Kalthoff: Hebbel als Prophet.
[Abbildung]
Hebbel als Prophet.
Von Pastor Dr. A. Kalthoff, Bremen.

Das politische Lied, das das junge Deutschland in der ersten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts dem Volke gesungen, war ein garstig Lied geworden,
seitdem die Hochflut der politischen Reaktion über seine Sänger hinweggerauscht
war. Die Partei der Freien war in Deutschland nicht zum Siege gelangt.
Sie war schon zersprengt, als das Revolutionsjahr ein jähes Erwachen aus
allen Freiheitsträumen gebracht hatte. Unten im Volk, wo der alte Traum
doch weiter geträumt wurde, gab's noch keine neuen Freiheitslieder wieder. Der
Ruf nach Brot aus hungrigem Magen war noch zu realistisch, zu prosaisch,
als daß er schon seine poetische Verklärung hätte finden können. Und oben,
wo der Traum schon ausgeträumt schien, gab es keine Freiheitslieder mehr!
Denn es gab keine Sehnsucht mehr, entweder aus Furcht vor dem Säbel, oder
ein zufriedenes Sichgenügenlassen an den Brosamen, die von der Herren Tische
fielen.

Jetzt aber geschieht etwas Merkwürdiges: es zeigt sich, daß hinter den
Parteidichtern im deutschen Volke noch eine Kunst geboren ist, die von den
lauten Fanfarenklängen der Zeit übertönt, mit ihrem neuen Liede erst zu Gehör
kommen konnte, als es wieder still geworden war von allen Parteiliedern, die
aber jetzt auch denen sich vernehmlich erwies, in deren Menschenelend bis dahin
sich keine Stätte für Poesie hatte finden wollen. Eine dem Leben nicht ge-
wachsene Parteidichtung führt in ihrem Verfall zu Männern zurück, die mit
jenem Menschlichen gerungen, das jenseits der Parteien seinen Standort hat.
Damit ringt auch das religiöse Leben, für das im politischen Kampfe der
einzige Sallet ein tieferes Empfinden bekundet, nach neuen Gestaltungen, und
namentlich ist es Hebbel, dessen ringende Kunst überall auf eine neue Offen-
barung des religiösen Geistes hinweist.

Eine Kraftnatur, wie Hebbel, kann auch in ihrem religiösen Empfinden
nur auf der Seite der Kraft stehen. Die weiche Stimmungsreligion der Ro-
mantiker ist ihm unverständlich, und den frommen Novalis, den Dichter der
Christus= und Marienlieder, lehnt er ab, weil da das Herz sich herausnehme,
den ganzen Körper einsaugen zu wollen. Hebbel hat einen wahren Jngrimm
gegen den „süßlich gleißnerischen Pietismus“, der namentlich in den Anstalten
und Vereinen der inneren Mission wuchere, wo man den Priesterrock so sorg-
fältig bürste, als ob Kleider Heilige machten. Er kennt wohl auch die
Schwächen des Rationalismus, der in seiner glatten Vernünftigkeit nur prak-
tische Nützlichkeitswerte einschätzt und dem nichts heilig ist, was nicht ein
materielles Bedürfnis befriedigt. Aber in einer Zeit — Hebbel schreibt das
1862 — wo das Tischrücken und die Geisterklopferei beweisen, daß die dunkle
Wurzel, der die Weltgeschichte ihre reichste Passionsblumenflor verdankt, noch

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[464/0032] Pastor Dr. A. Kalthoff: Hebbel als Prophet. [Abbildung] Hebbel als Prophet. Von Pastor Dr. A. Kalthoff, Bremen. Das politische Lied, das das junge Deutschland in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts dem Volke gesungen, war ein garstig Lied geworden, seitdem die Hochflut der politischen Reaktion über seine Sänger hinweggerauscht war. Die Partei der Freien war in Deutschland nicht zum Siege gelangt. Sie war schon zersprengt, als das Revolutionsjahr ein jähes Erwachen aus allen Freiheitsträumen gebracht hatte. Unten im Volk, wo der alte Traum doch weiter geträumt wurde, gab's noch keine neuen Freiheitslieder wieder. Der Ruf nach Brot aus hungrigem Magen war noch zu realistisch, zu prosaisch, als daß er schon seine poetische Verklärung hätte finden können. Und oben, wo der Traum schon ausgeträumt schien, gab es keine Freiheitslieder mehr! Denn es gab keine Sehnsucht mehr, entweder aus Furcht vor dem Säbel, oder ein zufriedenes Sichgenügenlassen an den Brosamen, die von der Herren Tische fielen. Jetzt aber geschieht etwas Merkwürdiges: es zeigt sich, daß hinter den Parteidichtern im deutschen Volke noch eine Kunst geboren ist, die von den lauten Fanfarenklängen der Zeit übertönt, mit ihrem neuen Liede erst zu Gehör kommen konnte, als es wieder still geworden war von allen Parteiliedern, die aber jetzt auch denen sich vernehmlich erwies, in deren Menschenelend bis dahin sich keine Stätte für Poesie hatte finden wollen. Eine dem Leben nicht ge- wachsene Parteidichtung führt in ihrem Verfall zu Männern zurück, die mit jenem Menschlichen gerungen, das jenseits der Parteien seinen Standort hat. Damit ringt auch das religiöse Leben, für das im politischen Kampfe der einzige Sallet ein tieferes Empfinden bekundet, nach neuen Gestaltungen, und namentlich ist es Hebbel, dessen ringende Kunst überall auf eine neue Offen- barung des religiösen Geistes hinweist. Eine Kraftnatur, wie Hebbel, kann auch in ihrem religiösen Empfinden nur auf der Seite der Kraft stehen. Die weiche Stimmungsreligion der Ro- mantiker ist ihm unverständlich, und den frommen Novalis, den Dichter der Christus= und Marienlieder, lehnt er ab, weil da das Herz sich herausnehme, den ganzen Körper einsaugen zu wollen. Hebbel hat einen wahren Jngrimm gegen den „süßlich gleißnerischen Pietismus“, der namentlich in den Anstalten und Vereinen der inneren Mission wuchere, wo man den Priesterrock so sorg- fältig bürste, als ob Kleider Heilige machten. Er kennt wohl auch die Schwächen des Rationalismus, der in seiner glatten Vernünftigkeit nur prak- tische Nützlichkeitswerte einschätzt und dem nichts heilig ist, was nicht ein materielles Bedürfnis befriedigt. Aber in einer Zeit — Hebbel schreibt das 1862 — wo das Tischrücken und die Geisterklopferei beweisen, daß die dunkle Wurzel, der die Weltgeschichte ihre reichste Passionsblumenflor verdankt, noch

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/32>, abgerufen am 23.11.2024.