Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian. theken, die er zumeist durchforschte: kein Wunder, daß er uns eine neue"Menschheit" vorführt, die wir nicht kannten, die aber ihrem inneren Gehalte nach, ihrem "Gedanken" nach mit der uns bis dahin bekannten " Kultur- menschheit " sich als wesensgleich erweist. Das ist die größte Ent- deckung Bastians; das ist sein großes Lebenswerk. Er hatte zwei Vorgänger auf dem Gebiete der Soziologie, die doch ein Spencer hat mehr gelesen, als Comte, und durch sein Hilfsbureau Aber keiner von diesen beiden hat die "Menschheit" gesehen wie sie Darum ist keinem von diesen beiden der "Menschheitsgedanke" auf- Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian. theken, die er zumeist durchforschte: kein Wunder, daß er uns eine neue„Menschheit“ vorführt, die wir nicht kannten, die aber ihrem inneren Gehalte nach, ihrem „Gedanken“ nach mit der uns bis dahin bekannten „ Kultur- menschheit “ sich als wesensgleich erweist. Das ist die größte Ent- deckung Bastians; das ist sein großes Lebenswerk. Er hatte zwei Vorgänger auf dem Gebiete der Soziologie, die doch ein Spencer hat mehr gelesen, als Comte, und durch sein Hilfsbureau Aber keiner von diesen beiden hat die „Menschheit“ gesehen wie sie Darum ist keinem von diesen beiden der „Menschheitsgedanke“ auf- <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <p><pb facs="#f0009" n="345"/><fw type="header" place="top">Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.</fw><lb/> theken, die er zumeist durchforschte: kein Wunder, daß er uns eine neue<lb/> „Menschheit“ vorführt, die wir nicht kannten, die aber ihrem inneren Gehalte<lb/> nach, ihrem „Gedanken“ nach mit der uns bis dahin bekannten „ Kultur-<lb/> menschheit “ sich als <hi rendition="#g">wesensgleich</hi> erweist. Das ist die größte Ent-<lb/> deckung Bastians; das ist sein großes Lebenswerk.</p><lb/> <p>Er hatte zwei Vorgänger auf dem Gebiete der Soziologie, die doch ein<lb/> Nebengebiet der Ethnologie ist: das waren Comte und Spencer, zwei Geistes-<lb/> heroen des 19. Jahrhunderts. Sie beide schrieben viel über Entwicklung der<lb/> Menschheit, und Spencer sehr viel über Naturvölker. Aber was wußte Comte<lb/> von der Menschheit? Er kannte kaum dies schmale Streifchen Geschichte, das<lb/> von Palästina über Griechenland, Rom und Deutschland nach Westeuropa sich<lb/> erstreckt: das war nach Comtes Ansicht die Menschheitsgeschichte, und ihre<lb/> höchste Blüte war — Frankreich.</p><lb/> <p>Spencer hat mehr <hi rendition="#g">gelesen,</hi> als Comte, und durch sein Hilfsbureau<lb/> sich noch mehr lesen und exzerpieren lassen. Diese Exzerpte sind die Grundlagen<lb/> seiner Werke, namentlich seiner soziologischen.</p><lb/> <p>Aber keiner von diesen beiden hat die „Menschheit“ <hi rendition="#g">gesehen</hi> wie sie<lb/> leibt und lebt in allen Ecken und Enden der Welt.</p><lb/> <p>Darum ist keinem von diesen beiden der „Menschheitsgedanke“ auf-<lb/> gegangen, so wie Bastian. Bastian sah die wirkliche große Menschheit und<lb/> gewann das richtige Maß zur Beurteilung des Häufleins „Kulturmenschheit“.<lb/> Comte begeistert sich für Frankreichs Zukunftsmission, Spencer schwärmt für<lb/> ein künftiges, echt englisch gedachtes „industrielles“ Zeitalter: <hi rendition="#g">solche Be-<lb/> fangen heiten kommen bei Bastian nicht vor.</hi> Jhm tritt<lb/> „von allen Seiten, aus allen Kontinenten unter gleichartigen Bedingungen<lb/> ein gleichartiger Menschengedanke entgegen“ und ihn begeistert nur die Jdee<lb/> „der Begründung einer Wissenschaft vom Menschen“. An der Begründung<lb/> einer solchen aber mitzuhelfen, ist Aufgabe einerseits der <hi rendition="#g">Ethnologie,</hi><lb/> andererseits der <hi rendition="#g">Soziologie.</hi> Die erstere liefert Material und Grund-<lb/> lage: die letztere verwertet das Material und baut auf ethnologischer Grund-<lb/> lage. Bastian ist sich dieses Verhältnisses der Ethnologie zur Soziologie schon<lb/> 1884 klar bewußt geworden; denn damals spricht er es in der Vorrede zu seinen<lb/> „Grundzügen der Ethnologie“ deutlich aus, daß die Ethnologie nichts anderes<lb/> sei, als eine „ethnische Soziologie“, eine „Soziologie in ihrer ethnischen Ver-<lb/> mannigfaltigung “, die als solche „die Lebensgesetze des Gesellschaftsorganis-<lb/> mus darzulegen“ hat. Tatsächlich hat auch die neueste Soziologie auf den von<lb/> Bastian gelegten ethnologischen Grundlagen weiter gebaut, indem sie die von<lb/> ihm uns vermittelten Erkenntnisse verwertete. Bastian hatte vollauf damit zu<lb/> tun, die wirkliche große Menschheit zu entdecken und in den mannigfaltigen<lb/> sozialen Gebilden den einen „Menschheitsgedanken“ als den ewigen, immer<lb/> sich wesensgleichen Lebenstrieb nachzuweisen. Auf seinen Schultern stehend,<lb/> überging die Soziologie zur weiteren Fragestellung. Daß alle sozialen Gestal-<lb/> tungen, Gebilde und Erscheinungen immer und überall einen und denselben<lb/> wesensgleichen Menschheitsgedanken ausdrücken: diese Erkenntnis übernimmt<lb/> die Soziologie von ihrem unvergeßlichen Meister in der Ethnologie. Die<lb/> weitere Frage aber, die sie sich dann stellt, lautet: nach welchen Gesetzen voll-<lb/> zieht sich die <hi rendition="#g">Entwicklung</hi> all dieser sozialen Erscheinungen? Daß sich<lb/> aber die neueste Soziologie überhaupt diese Frage stellen und ihrer Beant- </p> </div> </body> </text> </TEI> [345/0009]
Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.
theken, die er zumeist durchforschte: kein Wunder, daß er uns eine neue
„Menschheit“ vorführt, die wir nicht kannten, die aber ihrem inneren Gehalte
nach, ihrem „Gedanken“ nach mit der uns bis dahin bekannten „ Kultur-
menschheit “ sich als wesensgleich erweist. Das ist die größte Ent-
deckung Bastians; das ist sein großes Lebenswerk.
Er hatte zwei Vorgänger auf dem Gebiete der Soziologie, die doch ein
Nebengebiet der Ethnologie ist: das waren Comte und Spencer, zwei Geistes-
heroen des 19. Jahrhunderts. Sie beide schrieben viel über Entwicklung der
Menschheit, und Spencer sehr viel über Naturvölker. Aber was wußte Comte
von der Menschheit? Er kannte kaum dies schmale Streifchen Geschichte, das
von Palästina über Griechenland, Rom und Deutschland nach Westeuropa sich
erstreckt: das war nach Comtes Ansicht die Menschheitsgeschichte, und ihre
höchste Blüte war — Frankreich.
Spencer hat mehr gelesen, als Comte, und durch sein Hilfsbureau
sich noch mehr lesen und exzerpieren lassen. Diese Exzerpte sind die Grundlagen
seiner Werke, namentlich seiner soziologischen.
Aber keiner von diesen beiden hat die „Menschheit“ gesehen wie sie
leibt und lebt in allen Ecken und Enden der Welt.
Darum ist keinem von diesen beiden der „Menschheitsgedanke“ auf-
gegangen, so wie Bastian. Bastian sah die wirkliche große Menschheit und
gewann das richtige Maß zur Beurteilung des Häufleins „Kulturmenschheit“.
Comte begeistert sich für Frankreichs Zukunftsmission, Spencer schwärmt für
ein künftiges, echt englisch gedachtes „industrielles“ Zeitalter: solche Be-
fangen heiten kommen bei Bastian nicht vor. Jhm tritt
„von allen Seiten, aus allen Kontinenten unter gleichartigen Bedingungen
ein gleichartiger Menschengedanke entgegen“ und ihn begeistert nur die Jdee
„der Begründung einer Wissenschaft vom Menschen“. An der Begründung
einer solchen aber mitzuhelfen, ist Aufgabe einerseits der Ethnologie,
andererseits der Soziologie. Die erstere liefert Material und Grund-
lage: die letztere verwertet das Material und baut auf ethnologischer Grund-
lage. Bastian ist sich dieses Verhältnisses der Ethnologie zur Soziologie schon
1884 klar bewußt geworden; denn damals spricht er es in der Vorrede zu seinen
„Grundzügen der Ethnologie“ deutlich aus, daß die Ethnologie nichts anderes
sei, als eine „ethnische Soziologie“, eine „Soziologie in ihrer ethnischen Ver-
mannigfaltigung “, die als solche „die Lebensgesetze des Gesellschaftsorganis-
mus darzulegen“ hat. Tatsächlich hat auch die neueste Soziologie auf den von
Bastian gelegten ethnologischen Grundlagen weiter gebaut, indem sie die von
ihm uns vermittelten Erkenntnisse verwertete. Bastian hatte vollauf damit zu
tun, die wirkliche große Menschheit zu entdecken und in den mannigfaltigen
sozialen Gebilden den einen „Menschheitsgedanken“ als den ewigen, immer
sich wesensgleichen Lebenstrieb nachzuweisen. Auf seinen Schultern stehend,
überging die Soziologie zur weiteren Fragestellung. Daß alle sozialen Gestal-
tungen, Gebilde und Erscheinungen immer und überall einen und denselben
wesensgleichen Menschheitsgedanken ausdrücken: diese Erkenntnis übernimmt
die Soziologie von ihrem unvergeßlichen Meister in der Ethnologie. Die
weitere Frage aber, die sie sich dann stellt, lautet: nach welchen Gesetzen voll-
zieht sich die Entwicklung all dieser sozialen Erscheinungen? Daß sich
aber die neueste Soziologie überhaupt diese Frage stellen und ihrer Beant-
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