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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Dr. A. Kalthoff: Der Intellekt in der Religion.
und Vergänglichkeiten eines Originals zu einer oft lächerlichen Übertreibung
ausgestalten, sondern die Originalität, die in jedem Menschen von Hause aus
angelegt ist, zur Entfaltung zu bringen. Auch an dem kleinen Menschen sind
Seiten entdeckt, von denen aus er die Anlage zum Genie in sich trägt: Kräfte
der künstlerischen Jntuition, des eigenen Empfindens und Schaffens.

Es ist deshalb das Problem der Zeit, wie dieser geniale Mensch, der als
Embryo in jeder menschlichen Persönlichkeit lebendig ist, gegen die Mächte
geschützt werden kann, die ihn, oft noch vor der Geburt, ertöten. Das Problem
ist verwickelt. Es erscheint in der wirtschaftlichen Frage und bedeutet dort die
Befreiung des Menschen von der ihn erdrückenden Macht der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung. Es ist aber auch ein Teil der pädagogischen, der künst-
lerischen und religiösen Frage und fordert hier die Befreiung der Persönlichkeit
von den nivellierenden Mächten einer rein formalen, nur den Jntellekt ins
Auge fassenden Bildung.

Seitdem Nietzsche vom schaffenden Menschen als dem Träger jeglicher
Kultur gesprochen, ist der Jntellekt für alle der produktiven Sphäre an-
gehörenden Geistesfunktionen in Verruf gekommen. Es ist eine große Gegen-
bewegung eingeleitet, die uns aus einer langen Periode ohnmächtiger Nach-
bildung und allmächtiger Begriffsherrschaft zu einem neuen Glauben an das
eigene Wollen und Können, den eigenen Genius hinausführen soll. Schon
wird unter diesen Geniemenschen der Jntellekt mit einer Art Geringschätzung,
mindestens mit einem geheimen Argwohn, genannt. Für die Religion zumal
soll der Geniemensch eine neue Zukunftsperspektive bedeuten. Sie will sich
wieder den schöpferischen Jnstinkten des Menschen vermählen und sich den
Geniekultus als ihre eigenste Domäne ausersehen. Dabei aber liegt Wahres
und Falsches, Gesundes und Krankes so nahe beieinander, daß alles Erfreuliche,
das diese religiöse Entwicklung zu verheißen scheint, immerdar sofort in sein
Gegenteil umzuschlagen droht.

Die Frage nach dem Werte des Jntellekts ist schon einmal in der Re-
ligionsgeschichte der christlichen Ära mit grandioser Entschiedenheit gegen den
Jntellekt beantwortet worden, als der alte Kirchenvater sein credo quia
absurdum
in die Welt hineinrief und damit der Kirche für Jahrhunderte ihren
Weg vorzeichnete. Die Absurdität, die Widervernünftigkeit das eigentliche
Kriterium, die Lebensbedingung des Glaubens: das war eine Kriegserklärung
an den Jntellekt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Und der
Glaube war ja für dieses Zeitalter alles. Er schloß in sich das gesamte
Menschenleben, das Recht und die Sitte, die Wissenschaft und die Kunst. Wo
dieser Glaube zum Siege kam, mußte er seinen Bekennern einen Haß gegen
den Jntellekt einflößen, er mußte sie zum Kampf auf Leben und Tod gegen
alles, was vernünftig hieß, antreiben.

Und der Glaube kam zum Siege. Die Kraft des Kirchenglaubens
wurde gerade sein Widerspruch gegen die Vernunft. Durch diesen Widerspruch
trat der Glaube den Gläubigen als göttliche Offenbarung gegenüber. Jn
dem Opfer des Jntellekts, das der Glaube forderte, bewährte der Mensch seine
völlige Hingabe an eine Lebensmacht, die ihn über sich selbst emporheben, ihn
von sich selbst erlösen sollte.

Wäre der Glaube vernünftig gewesen, so hätte der Mensch selber mit ihm
fertig werden, für ihn die Verantwortung übernehmen müssen. Es hätte

Dr. A. Kalthoff: Der Intellekt in der Religion.
und Vergänglichkeiten eines Originals zu einer oft lächerlichen Übertreibung
ausgestalten, sondern die Originalität, die in jedem Menschen von Hause aus
angelegt ist, zur Entfaltung zu bringen. Auch an dem kleinen Menschen sind
Seiten entdeckt, von denen aus er die Anlage zum Genie in sich trägt: Kräfte
der künstlerischen Jntuition, des eigenen Empfindens und Schaffens.

Es ist deshalb das Problem der Zeit, wie dieser geniale Mensch, der als
Embryo in jeder menschlichen Persönlichkeit lebendig ist, gegen die Mächte
geschützt werden kann, die ihn, oft noch vor der Geburt, ertöten. Das Problem
ist verwickelt. Es erscheint in der wirtschaftlichen Frage und bedeutet dort die
Befreiung des Menschen von der ihn erdrückenden Macht der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung. Es ist aber auch ein Teil der pädagogischen, der künst-
lerischen und religiösen Frage und fordert hier die Befreiung der Persönlichkeit
von den nivellierenden Mächten einer rein formalen, nur den Jntellekt ins
Auge fassenden Bildung.

Seitdem Nietzsche vom schaffenden Menschen als dem Träger jeglicher
Kultur gesprochen, ist der Jntellekt für alle der produktiven Sphäre an-
gehörenden Geistesfunktionen in Verruf gekommen. Es ist eine große Gegen-
bewegung eingeleitet, die uns aus einer langen Periode ohnmächtiger Nach-
bildung und allmächtiger Begriffsherrschaft zu einem neuen Glauben an das
eigene Wollen und Können, den eigenen Genius hinausführen soll. Schon
wird unter diesen Geniemenschen der Jntellekt mit einer Art Geringschätzung,
mindestens mit einem geheimen Argwohn, genannt. Für die Religion zumal
soll der Geniemensch eine neue Zukunftsperspektive bedeuten. Sie will sich
wieder den schöpferischen Jnstinkten des Menschen vermählen und sich den
Geniekultus als ihre eigenste Domäne ausersehen. Dabei aber liegt Wahres
und Falsches, Gesundes und Krankes so nahe beieinander, daß alles Erfreuliche,
das diese religiöse Entwicklung zu verheißen scheint, immerdar sofort in sein
Gegenteil umzuschlagen droht.

Die Frage nach dem Werte des Jntellekts ist schon einmal in der Re-
ligionsgeschichte der christlichen Ära mit grandioser Entschiedenheit gegen den
Jntellekt beantwortet worden, als der alte Kirchenvater sein credo quia
absurdum
in die Welt hineinrief und damit der Kirche für Jahrhunderte ihren
Weg vorzeichnete. Die Absurdität, die Widervernünftigkeit das eigentliche
Kriterium, die Lebensbedingung des Glaubens: das war eine Kriegserklärung
an den Jntellekt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Und der
Glaube war ja für dieses Zeitalter alles. Er schloß in sich das gesamte
Menschenleben, das Recht und die Sitte, die Wissenschaft und die Kunst. Wo
dieser Glaube zum Siege kam, mußte er seinen Bekennern einen Haß gegen
den Jntellekt einflößen, er mußte sie zum Kampf auf Leben und Tod gegen
alles, was vernünftig hieß, antreiben.

Und der Glaube kam zum Siege. Die Kraft des Kirchenglaubens
wurde gerade sein Widerspruch gegen die Vernunft. Durch diesen Widerspruch
trat der Glaube den Gläubigen als göttliche Offenbarung gegenüber. Jn
dem Opfer des Jntellekts, das der Glaube forderte, bewährte der Mensch seine
völlige Hingabe an eine Lebensmacht, die ihn über sich selbst emporheben, ihn
von sich selbst erlösen sollte.

Wäre der Glaube vernünftig gewesen, so hätte der Mensch selber mit ihm
fertig werden, für ihn die Verantwortung übernehmen müssen. Es hätte

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[354/0018] Dr. A. Kalthoff: Der Intellekt in der Religion. und Vergänglichkeiten eines Originals zu einer oft lächerlichen Übertreibung ausgestalten, sondern die Originalität, die in jedem Menschen von Hause aus angelegt ist, zur Entfaltung zu bringen. Auch an dem kleinen Menschen sind Seiten entdeckt, von denen aus er die Anlage zum Genie in sich trägt: Kräfte der künstlerischen Jntuition, des eigenen Empfindens und Schaffens. Es ist deshalb das Problem der Zeit, wie dieser geniale Mensch, der als Embryo in jeder menschlichen Persönlichkeit lebendig ist, gegen die Mächte geschützt werden kann, die ihn, oft noch vor der Geburt, ertöten. Das Problem ist verwickelt. Es erscheint in der wirtschaftlichen Frage und bedeutet dort die Befreiung des Menschen von der ihn erdrückenden Macht der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Es ist aber auch ein Teil der pädagogischen, der künst- lerischen und religiösen Frage und fordert hier die Befreiung der Persönlichkeit von den nivellierenden Mächten einer rein formalen, nur den Jntellekt ins Auge fassenden Bildung. Seitdem Nietzsche vom schaffenden Menschen als dem Träger jeglicher Kultur gesprochen, ist der Jntellekt für alle der produktiven Sphäre an- gehörenden Geistesfunktionen in Verruf gekommen. Es ist eine große Gegen- bewegung eingeleitet, die uns aus einer langen Periode ohnmächtiger Nach- bildung und allmächtiger Begriffsherrschaft zu einem neuen Glauben an das eigene Wollen und Können, den eigenen Genius hinausführen soll. Schon wird unter diesen Geniemenschen der Jntellekt mit einer Art Geringschätzung, mindestens mit einem geheimen Argwohn, genannt. Für die Religion zumal soll der Geniemensch eine neue Zukunftsperspektive bedeuten. Sie will sich wieder den schöpferischen Jnstinkten des Menschen vermählen und sich den Geniekultus als ihre eigenste Domäne ausersehen. Dabei aber liegt Wahres und Falsches, Gesundes und Krankes so nahe beieinander, daß alles Erfreuliche, das diese religiöse Entwicklung zu verheißen scheint, immerdar sofort in sein Gegenteil umzuschlagen droht. Die Frage nach dem Werte des Jntellekts ist schon einmal in der Re- ligionsgeschichte der christlichen Ära mit grandioser Entschiedenheit gegen den Jntellekt beantwortet worden, als der alte Kirchenvater sein credo quia absurdum in die Welt hineinrief und damit der Kirche für Jahrhunderte ihren Weg vorzeichnete. Die Absurdität, die Widervernünftigkeit das eigentliche Kriterium, die Lebensbedingung des Glaubens: das war eine Kriegserklärung an den Jntellekt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Und der Glaube war ja für dieses Zeitalter alles. Er schloß in sich das gesamte Menschenleben, das Recht und die Sitte, die Wissenschaft und die Kunst. Wo dieser Glaube zum Siege kam, mußte er seinen Bekennern einen Haß gegen den Jntellekt einflößen, er mußte sie zum Kampf auf Leben und Tod gegen alles, was vernünftig hieß, antreiben. Und der Glaube kam zum Siege. Die Kraft des Kirchenglaubens wurde gerade sein Widerspruch gegen die Vernunft. Durch diesen Widerspruch trat der Glaube den Gläubigen als göttliche Offenbarung gegenüber. Jn dem Opfer des Jntellekts, das der Glaube forderte, bewährte der Mensch seine völlige Hingabe an eine Lebensmacht, die ihn über sich selbst emporheben, ihn von sich selbst erlösen sollte. Wäre der Glaube vernünftig gewesen, so hätte der Mensch selber mit ihm fertig werden, für ihn die Verantwortung übernehmen müssen. Es hätte

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/18>, abgerufen am 23.11.2024.