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Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 22. Burg/Berlin, 1836.

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Antwerpen.

Antwerpen ist eine große zum Theil prächtige
Stadt mit vornehmen Straßen, Plätzen und Palästen: es
gab Zeiten, wo sie mehre hunderttausend Einwohner zählte;
jetzt ist diese Zahl freilich auf ein Viertel herabgesunken.
Noch jetzt herrscht in den Straßen ein lebhaftes Gewühl,
und man sieht wohl, daß hier sich so Manches zusammen-
drängt, was der Reiz einer großen Stadt und eine glückliche
Lage für den Handel an sich zieht: aber auch dieses, hat
man uns gesagt, ist nur ein Schatten gegen jene Zeiten,
wo Antwerpen mit Belgien dem milden Zepter Wil-
helms
I. angehörte. Es werden viele, viele Jahre dazu
nöthig sein, um die Wunden zu heilen, welche die beklagens-
werthe Katastrophe von 1830 dem Lande, und namentlich
Antwerpen während jener ewig denkwürdigen Belage-
rung der Zitadelle durch die Franzosen geschlagen hat. Lei-
der war es zu spät am Tage, um das ganz Jnnere der letz-
tern, die man jetzt wieder herzustellen im Begriff ist, zu se-
hen, ein strenger Befehl verstattet dieses nur bis Nachmit-
tags vier Uhr, und so haben wir uns begnügen müssen, die
mehr äußern Werke allein zu besuchen.

Die Zitadelle bildet ein unregelmäßiges Fünfeck, liegt
ungefähr einen starken Büchsenschuß von der Stadt entfernt,
und ist nur wenig höher, als das Rayon der letztern selbst,
[Spaltenumbruch] wird jedoch durch keinen andern Punkt beherrscht. Die
Bastionen werden durch Vorsprünge unterstützt, ohne daß
die Vertheidigung dadurch gestört würde; die Kourtinen
durch Halbmonde, sowohl auf der Seite der Stadt, als
auf der von St. Laurent und von Kiel beschützt. Die
Lage der Zitadelle gestattet nicht, sie zu umzingeln, und die
nahe Schelde bleibt immer ein Zufluchtsort für die Be-
lagerten; die tiefen Graben sind leicht mit Wasser zu fül-
len. Hiernach war die Zitadelle sehr fest, und dies allein
konnte Chass e veranlassen, eine so langwierige Verthei-
digung zu unternehmen; es ist sehr zweifelhaft, ob die Feste
überhaupt jemals genommen worden wäre, hätte Chass e
nicht, sei es in Folge höherer Jnstruktionen, sei es aus
Menschlichkeit oder Edelsinn, sein Versprechen, die Stadt
zu schonen, so unverbrüchlich gehalten, als es geschehen ist.
Was gerade für Frankreich die Veranlassung zu dieser in
ihrer Art einzigen Belagerung gewesen, welche Motive da-
bei zum Grunde gelegen, daß Europa eigentlich mitten im
Frieden dem kurzen beispiellos blutigen Kriege zweier Na-
tionen auf einem Raum weniger Quadratfuße ruhig zusah,
ohne auch nur eine Hand zu Gunsten des einen oder des
andern Theils aufzuheben, das muß die spätere Geschichte
lehren, die uns so oft Aufschluß über das giebt, was um
und neben uns vorgeht.

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[Beginn Spaltensatz]
Antwerpen.

Antwerpen ist eine große zum Theil prächtige
Stadt mit vornehmen Straßen, Plätzen und Palästen: es
gab Zeiten, wo sie mehre hunderttausend Einwohner zählte;
jetzt ist diese Zahl freilich auf ein Viertel herabgesunken.
Noch jetzt herrscht in den Straßen ein lebhaftes Gewühl,
und man sieht wohl, daß hier sich so Manches zusammen-
drängt, was der Reiz einer großen Stadt und eine glückliche
Lage für den Handel an sich zieht: aber auch dieses, hat
man uns gesagt, ist nur ein Schatten gegen jene Zeiten,
wo Antwerpen mit Belgien dem milden Zepter Wil-
helms
I. angehörte. Es werden viele, viele Jahre dazu
nöthig sein, um die Wunden zu heilen, welche die beklagens-
werthe Katastrophe von 1830 dem Lande, und namentlich
Antwerpen während jener ewig denkwürdigen Belage-
rung der Zitadelle durch die Franzosen geschlagen hat. Lei-
der war es zu spät am Tage, um das ganz Jnnere der letz-
tern, die man jetzt wieder herzustellen im Begriff ist, zu se-
hen, ein strenger Befehl verstattet dieses nur bis Nachmit-
tags vier Uhr, und so haben wir uns begnügen müssen, die
mehr äußern Werke allein zu besuchen.

Die Zitadelle bildet ein unregelmäßiges Fünfeck, liegt
ungefähr einen starken Büchsenschuß von der Stadt entfernt,
und ist nur wenig höher, als das Rayon der letztern selbst,
[Spaltenumbruch] wird jedoch durch keinen andern Punkt beherrscht. Die
Bastionen werden durch Vorsprünge unterstützt, ohne daß
die Vertheidigung dadurch gestört würde; die Kourtinen
durch Halbmonde, sowohl auf der Seite der Stadt, als
auf der von St. Laurent und von Kiel beschützt. Die
Lage der Zitadelle gestattet nicht, sie zu umzingeln, und die
nahe Schelde bleibt immer ein Zufluchtsort für die Be-
lagerten; die tiefen Graben sind leicht mit Wasser zu fül-
len. Hiernach war die Zitadelle sehr fest, und dies allein
konnte Chass é veranlassen, eine so langwierige Verthei-
digung zu unternehmen; es ist sehr zweifelhaft, ob die Feste
überhaupt jemals genommen worden wäre, hätte Chass é
nicht, sei es in Folge höherer Jnstruktionen, sei es aus
Menschlichkeit oder Edelsinn, sein Versprechen, die Stadt
zu schonen, so unverbrüchlich gehalten, als es geschehen ist.
Was gerade für Frankreich die Veranlassung zu dieser in
ihrer Art einzigen Belagerung gewesen, welche Motive da-
bei zum Grunde gelegen, daß Europa eigentlich mitten im
Frieden dem kurzen beispiellos blutigen Kriege zweier Na-
tionen auf einem Raum weniger Quadratfuße ruhig zusah,
ohne auch nur eine Hand zu Gunsten des einen oder des
andern Theils aufzuheben, das muß die spätere Geschichte
lehren, die uns so oft Aufschluß über das giebt, was um
und neben uns vorgeht.

[Ende Spaltensatz]
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Zitationshilfe: Conversations-Blatt zur Unterhaltung und Belehrung für alle Stände. Nr. 22. Burg/Berlin, 1836, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationsblatt22_1836/5>, abgerufen am 24.11.2024.