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Tübinger Chronik. Nr. 81. [Tübingen (Württemberg)], 7. Juli 1845.

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[Beginn Spaltensatz] bemerkte er endlich, und bringe Dir einige Briefe
mit. -

Tags darauf erwartete er mich, er hatte meh-
rere Briefe bei sich und bestätigte damit die bezwei-
felten Stellen. Es befanden sich unter den Briefen
zwei Blätter eines Kartenspiels, Herz=Sieben und
Eckstein=Sieben, beide mit einem Siegel versehen;
diese Karten dienten zum Behufe der Uebergabe des
wenige Monate alten Kindes ( seiner Frau ) von der
damaligen Erzieherin an eine Andere.

Da es der steten Bemühung der Mutter, ihr
Kind aufzufinden, wofür sie keine Kosten scheute,
endlich gelungen war, den Ort desselben zu entde-
cken, welches Suchen um so schwieriger wurde, als
nach den damaligen Gesetzen bei Lautwerden dieses
Falles - als Wittwe ein Kind geboren zu haben
- der Mutter die damals bezogene Pension gefal-
len wäre, fand man für nöthig, das Kind anders-
wo zn verstecken. Um Mitternacht, zu der für die-
sen Zweck anberaumten Zeit, so erzählte mir Rud-
hardt, begegneten sich zwischen Eßlingen und Möh-
ringen zwei Wagen, in deren einem sich die Pfleg-
mutter mit dem Kinde, in dem andern die zur Em-
pfangnahme neugewählte Wärterin sich befand; be-
nannte Karten waren die Zeichen zur gegenseitigen
Sicherheit in den Händen beider Weiber und Herz-
Sieben mit dem Kinde wurde um Eckstein=Sieben ge-
tauscht. Beide Kutscher fuhren wieder stumm ihren vor-
gezeichneten Weg und wünschten sich wahrscheinlich öf-
ter solche Ertrafahrten. Wie diese ältesten Briefe in die
Hände Ruthardts kamen, weiß ich nicht mehr anzu-
geben. Ein dabei befindliches Miniatur=Porträt des
Vaters seiner Frau erhielt letztere einst von ihrer
Mutter, welche fleißig mit ihr correspondirte, sich
stets als mütterliche Freundin unterschrieb und nach
Aussagen des Ruthardt ihr nicht nur stets mütter-
liche Ermahnungen, sondern auch zuweilen Unter-
stützung zufließen ließ. Auf diese Weise, mit Er-
zählen dieser sonderbaren Geschichte, brachten wir vom
6. bis 20. April beinahe alle Abende zu, und nie
wollte die Zeit zur Durchlesung der sämtlichen be-
nannten Briefe herausfallen, als er endlich, um
dies zu bewerkstelligen, Samstag den 20. April ver-
sprach, Tags darauf mir dieselben sammt und son-
ders zu senden, um die Durchlesung mit Muse vor-
nehmen zu können.     ( Schluß folgt. )



Wie sieht's in der Welt aus?

Fast in allen öffentlichen Blättern wird gegenwärtig
wegen der Hinrichtung der Giftmörderin Ruthardt
Allarm geschlagen, dieselbe wegen der Festigkeit ( oder
vielmehr theatralischen Frechheit ) , mit welcher sie starb,
fast bis in den Himmel erhoben, und als eine Unschul-
dige, als eine Märtyrerin der Gerechtigkeit dargestellt.
Man lese nur z. B. einen mit A. S. unterzeichneten
Aufsatz in einer der letzten Nummern des Beobachters!
Und warum wird gerade über diese Hinrichtung so
viel geschrieen und geschrieben? Warum dringen auf
Einmal die meisten öffentlichen Blätter auf die gänz-
liche Abschaffung der Todesstrafe? Aus keinem andern
Grunde, als weil die hingerichtete Verbrecherin eine
junge, hübsche Frau war! Wäre dieselbe ein altes,
[Spaltenumbruch] häßliches Weib gewesen, so hätte gewiß kein Hahn
darnach gekräht. Denn warum bekümmerte sich kein
Mensch um die beiden, vor etwa 3 Jahren in Künzelsau
hingerichteten, alten Weiber? Warum war der vor
1 1 / 2 Jahren in Reutlingen hingerichtete Raubmörder
schon nach 2 Tagen fast gänzlich in Vergessenheit ge-
rathen? Und doch ist das Verbrechen, welches die Hin-
gerichtete beging, ein viel verabscheuungswürdigeres,
als das von Zuletztgenannten begangene. Die Opfer
der Letztern fielen mit Einem Streiche, und zwar von
den Händen roher Menschen, welche die Abscheulichkeit
ihrer That nicht vollkommen einzusehen im Stande waren.
Die Hingerichtete hingegen, welcher ein höherer Grad
von intellectueller Bildung zukam, sah mit schauder-
hafter Ruhe ihren eigenen, braven Mann, welcher
ihr nie etwas zu Leide gethan, sich mit den fürchter-
lichsten Schmerzen vierzehn Tage lang auf dem
Lager herumwälzen. Sie wurde nicht gerührt durch die
Schmerzenstöne ihres Mannes, nicht gerührt durch ihr
einziges Kind, welches sie des theuern Vaters beraubte,
nein - noch in dem letzten Löffel der Arznei, von
welcher der Unglückliche Linderung seiner Schmerzen
hoffte, gab sie ihrem Manne das höllische Gift ein.

Nur krankhafte Empfindsamkeit und Verliebtheit ( oder
vielmehr Geilheit ) konnte daher behaupten, die Gift-
mörderin sey ungerecht gerichtet worden; nur Blinde
konnten sie als eine Unschuldige, als eine Heldin an-
sehen. Nein! sie ist vollkommen gerecht gerichtet
worden; die Gerechtigkeit und die menschliche Gesell-
schaft mußten gesühnt werden!

Jm Münchener "Tagblatte" liest man folgende
Familiennachricht:

"Heute Morgen schied in's Land der Geister,
An der Schwindsucht unheilbarem Weh,
Mein geliebter Mann, der Schneidermeister
P..., im zwölften Jahre unsrer Eh'.
Alle, die den Sel'gen kannten,
Wissen wohl, was ich an ihm verlor.
Still' zu trauern, bitt' ich die Verwandten;
Mein Geschäft betreib' ich wie zuvor."

"Unter Anderem," so erzählte ein Reisender, "las
ich in einem Wirthshause im Wochenblatte ( des Titels
desselben kann ich mich im Augenblick nicht mehr erin-
nern ) folgende Anzeige:

( Gewerbs= und Handelsfreiheit betreffend. )
Beachtenswerthe Anzeige.

Kauf wer da kaufen will,
Jch hab' der Waaren viel,
Jch gib's um's halbe Geld,
Wem es gefällt! -

"Löblich, sehr löblich," sagte der Erzähler, "ist es
von diesem Herrn, als Gründer eines Gewerbevereins,
der sich sonst in seinen Geschäften wegen Hebung der
Gewerbe mit derlei u. s. w. nicht zu befassen scheint,
zu Hebung derselben nach Kräften beitragen zu wollen."
Die pathetische Rede, die dieser Herr gehalten habe,
habe zur Gründung dieses Vereins wesentlich beigetra-
gen, und er glaube zu finden, daß, nach der Anzeige,
es diesem Herrn um Hebung der Gewerbe - haupt-
sächlich im Hinblick auf England - völliger Ernst sey.

"Das Zusammenhalten mag immerhin einen schönen
Zweck in sich fassen," erwiederte ich ihm, "es fragt sich
aber auch wohin ein solcher Zweck zielt - ob auf dieser,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] bemerkte er endlich, und bringe Dir einige Briefe
mit. –

Tags darauf erwartete er mich, er hatte meh-
rere Briefe bei sich und bestätigte damit die bezwei-
felten Stellen. Es befanden sich unter den Briefen
zwei Blätter eines Kartenspiels, Herz=Sieben und
Eckstein=Sieben, beide mit einem Siegel versehen;
diese Karten dienten zum Behufe der Uebergabe des
wenige Monate alten Kindes ( seiner Frau ) von der
damaligen Erzieherin an eine Andere.

Da es der steten Bemühung der Mutter, ihr
Kind aufzufinden, wofür sie keine Kosten scheute,
endlich gelungen war, den Ort desselben zu entde-
cken, welches Suchen um so schwieriger wurde, als
nach den damaligen Gesetzen bei Lautwerden dieses
Falles – als Wittwe ein Kind geboren zu haben
– der Mutter die damals bezogene Pension gefal-
len wäre, fand man für nöthig, das Kind anders-
wo zn verstecken. Um Mitternacht, zu der für die-
sen Zweck anberaumten Zeit, so erzählte mir Rud-
hardt, begegneten sich zwischen Eßlingen und Möh-
ringen zwei Wagen, in deren einem sich die Pfleg-
mutter mit dem Kinde, in dem andern die zur Em-
pfangnahme neugewählte Wärterin sich befand; be-
nannte Karten waren die Zeichen zur gegenseitigen
Sicherheit in den Händen beider Weiber und Herz-
Sieben mit dem Kinde wurde um Eckstein=Sieben ge-
tauscht. Beide Kutscher fuhren wieder stumm ihren vor-
gezeichneten Weg und wünschten sich wahrscheinlich öf-
ter solche Ertrafahrten. Wie diese ältesten Briefe in die
Hände Ruthardts kamen, weiß ich nicht mehr anzu-
geben. Ein dabei befindliches Miniatur=Porträt des
Vaters seiner Frau erhielt letztere einst von ihrer
Mutter, welche fleißig mit ihr correspondirte, sich
stets als mütterliche Freundin unterschrieb und nach
Aussagen des Ruthardt ihr nicht nur stets mütter-
liche Ermahnungen, sondern auch zuweilen Unter-
stützung zufließen ließ. Auf diese Weise, mit Er-
zählen dieser sonderbaren Geschichte, brachten wir vom
6. bis 20. April beinahe alle Abende zu, und nie
wollte die Zeit zur Durchlesung der sämtlichen be-
nannten Briefe herausfallen, als er endlich, um
dies zu bewerkstelligen, Samstag den 20. April ver-
sprach, Tags darauf mir dieselben sammt und son-
ders zu senden, um die Durchlesung mit Muse vor-
nehmen zu können.     ( Schluß folgt. )



Wie sieht's in der Welt aus?

Fast in allen öffentlichen Blättern wird gegenwärtig
wegen der Hinrichtung der Giftmörderin Ruthardt
Allarm geschlagen, dieselbe wegen der Festigkeit ( oder
vielmehr theatralischen Frechheit ) , mit welcher sie starb,
fast bis in den Himmel erhoben, und als eine Unschul-
dige, als eine Märtyrerin der Gerechtigkeit dargestellt.
Man lese nur z. B. einen mit A. S. unterzeichneten
Aufsatz in einer der letzten Nummern des Beobachters!
Und warum wird gerade über diese Hinrichtung so
viel geschrieen und geschrieben? Warum dringen auf
Einmal die meisten öffentlichen Blätter auf die gänz-
liche Abschaffung der Todesstrafe? Aus keinem andern
Grunde, als weil die hingerichtete Verbrecherin eine
junge, hübsche Frau war! Wäre dieselbe ein altes,
[Spaltenumbruch] häßliches Weib gewesen, so hätte gewiß kein Hahn
darnach gekräht. Denn warum bekümmerte sich kein
Mensch um die beiden, vor etwa 3 Jahren in Künzelsau
hingerichteten, alten Weiber? Warum war der vor
1 1 / 2 Jahren in Reutlingen hingerichtete Raubmörder
schon nach 2 Tagen fast gänzlich in Vergessenheit ge-
rathen? Und doch ist das Verbrechen, welches die Hin-
gerichtete beging, ein viel verabscheuungswürdigeres,
als das von Zuletztgenannten begangene. Die Opfer
der Letztern fielen mit Einem Streiche, und zwar von
den Händen roher Menschen, welche die Abscheulichkeit
ihrer That nicht vollkommen einzusehen im Stande waren.
Die Hingerichtete hingegen, welcher ein höherer Grad
von intellectueller Bildung zukam, sah mit schauder-
hafter Ruhe ihren eigenen, braven Mann, welcher
ihr nie etwas zu Leide gethan, sich mit den fürchter-
lichsten Schmerzen vierzehn Tage lang auf dem
Lager herumwälzen. Sie wurde nicht gerührt durch die
Schmerzenstöne ihres Mannes, nicht gerührt durch ihr
einziges Kind, welches sie des theuern Vaters beraubte,
nein – noch in dem letzten Löffel der Arznei, von
welcher der Unglückliche Linderung seiner Schmerzen
hoffte, gab sie ihrem Manne das höllische Gift ein.

Nur krankhafte Empfindsamkeit und Verliebtheit ( oder
vielmehr Geilheit ) konnte daher behaupten, die Gift-
mörderin sey ungerecht gerichtet worden; nur Blinde
konnten sie als eine Unschuldige, als eine Heldin an-
sehen. Nein! sie ist vollkommen gerecht gerichtet
worden; die Gerechtigkeit und die menschliche Gesell-
schaft mußten gesühnt werden!

Jm Münchener „Tagblatte“ liest man folgende
Familiennachricht:

„Heute Morgen schied in's Land der Geister,
An der Schwindsucht unheilbarem Weh,
Mein geliebter Mann, der Schneidermeister
P..., im zwölften Jahre unsrer Eh'.
Alle, die den Sel'gen kannten,
Wissen wohl, was ich an ihm verlor.
Still' zu trauern, bitt' ich die Verwandten;
Mein Geschäft betreib' ich wie zuvor.“

„Unter Anderem,“ so erzählte ein Reisender, „las
ich in einem Wirthshause im Wochenblatte ( des Titels
desselben kann ich mich im Augenblick nicht mehr erin-
nern ) folgende Anzeige:

( Gewerbs= und Handelsfreiheit betreffend. )
Beachtenswerthe Anzeige.

Kauf wer da kaufen will,
Jch hab' der Waaren viel,
Jch gib's um's halbe Geld,
Wem es gefällt! –

„Löblich, sehr löblich,“ sagte der Erzähler, „ist es
von diesem Herrn, als Gründer eines Gewerbevereins,
der sich sonst in seinen Geschäften wegen Hebung der
Gewerbe mit derlei u. s. w. nicht zu befassen scheint,
zu Hebung derselben nach Kräften beitragen zu wollen.“
Die pathetische Rede, die dieser Herr gehalten habe,
habe zur Gründung dieses Vereins wesentlich beigetra-
gen, und er glaube zu finden, daß, nach der Anzeige,
es diesem Herrn um Hebung der Gewerbe – haupt-
sächlich im Hinblick auf England – völliger Ernst sey.

„Das Zusammenhalten mag immerhin einen schönen
Zweck in sich fassen,“ erwiederte ich ihm, „es fragt sich
aber auch wohin ein solcher Zweck zielt – ob auf dieser,
[Ende Spaltensatz]

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Jm Münchener „Tagblatte“ liest man folgende Familiennachricht: „Heute Morgen schied in's Land der Geister, An der Schwindsucht unheilbarem Weh, Mein geliebter Mann, der Schneidermeister P..., im zwölften Jahre unsrer Eh'. Alle, die den Sel'gen kannten, Wissen wohl, was ich an ihm verlor. Still' zu trauern, bitt' ich die Verwandten; Mein Geschäft betreib' ich wie zuvor.“ „Unter Anderem,“ so erzählte ein Reisender, „las ich in einem Wirthshause im Wochenblatte ( des Titels desselben kann ich mich im Augenblick nicht mehr erin- nern ) folgende Anzeige: ( Gewerbs= und Handelsfreiheit betreffend. ) Beachtenswerthe Anzeige. 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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 81. [Tübingen (Württemberg)], 7. Juli 1845, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik081_1845/2>, abgerufen am 27.11.2024.