Badener Zeitung. Nr. 38, Baden (Niederösterreich), 12.05.1909. Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38 [Spaltenumbruch] hatten nachts 600 französische Grenadiere das auf -- Die Eismänner. Am 12., 13. und 14. -- Die Vogelwelt. Mit der Ankunft des [Spaltenumbruch] -- Die Kurorchesterkonzerte. Vergan- -- Angekommene Fremde. In Baden -- Der hiesige Verschönerungsverein, dessen Tätigkeit eine wirklich anerkennenswerte ist [Spaltenumbruch] bei einsamem Denken und Lesen einen angenehmen Es lag für die Teilnehmer an solchen Abend- Aber auch für den Erzählenden selbst hatte diese Und heute sind alle diese Bräuche dahin; man Von diesem Exkurse, welcher eine Tatsache Ich habe bereits bei jedem der drei Titelpunkte An dieser Stelle greife ich den zuvor schon Es ist richtig, das nahezu gänzliche Aufhören Wo man sich im eigenen Heime zusammenschloß, Hoch anzuschlagen ist aber der allgemein schön- Die Liebe zur Poesie und die Lust zum Fabu- Die klassische Periode und das nachfolgende Zeit- Heute treten die Ansichtskarten vielfach an Stelle Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38 [Spaltenumbruch] hatten nachts 600 franzöſiſche Grenadiere das auf — Die Eismänner. Am 12., 13. und 14. — Die Vogelwelt. Mit der Ankunft des [Spaltenumbruch] — Die Kurorcheſterkonzerte. Vergan- — Angekommene Fremde. In Baden — Der hieſige Verſchönerungsverein, deſſen Tätigkeit eine wirklich anerkennenswerte iſt [Spaltenumbruch] bei einſamem Denken und Leſen einen angenehmen Es lag für die Teilnehmer an ſolchen Abend- Aber auch für den Erzählenden ſelbſt hatte dieſe Und heute ſind alle dieſe Bräuche dahin; man Von dieſem Exkurſe, welcher eine Tatſache Ich habe bereits bei jedem der drei Titelpunkte An dieſer Stelle greife ich den zuvor ſchon Es iſt richtig, das nahezu gänzliche Aufhören Wo man ſich im eigenen Heime zuſammenſchloß, Hoch anzuſchlagen iſt aber der allgemein ſchön- Die Liebe zur Poeſie und die Luſt zum Fabu- Die klaſſiſche Periode und das nachfolgende Zeit- Heute treten die Anſichtskarten vielfach an Stelle <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0004" n="4"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38</hi> </hi> </fw><lb/> <cb/> <div type="jLocal" n="1"> <div xml:id="hundert2" prev="#hundert1" type="jArticle" n="2"> <p>hatten nachts 600 franzöſiſche Grenadiere das auf<lb/> der Auinſel befindliche Jägerhaus und den Hafendamm<lb/> beſetzt und unter deren Deckung hätten andere Truppen<lb/> hinübergeſchafft werden ſollen und am nächſten Tage<lb/> hätte der Brückenſchlag ſtattfinden ſollen. Als der<lb/> Korpskommandant endlich dies erfuhr, beorderte er<lb/> ſofort das 49. Infanterieregiment, den Franzoſen die<lb/> beſetzte Stellung, koſte es, was es wolle, zu entreißen.<lb/> Mit unglaublichem Mute, durch eine zähe Ausdauer<lb/> im Angriff, wurden die Oeſterreicher unter bedeuten-<lb/> den Verluſten der Franzoſen Herr. Dieſe wurden<lb/> ſamt und ſonders teils getötet, teils gefangen, ſo<lb/> daß keiner der Beteiligten ſeinem Kaiſer die betrübende<lb/> Meldung hatte melden können. Es war ein gewaltiges<lb/> Ringen beiderſeits; denn die Franzoſen verteidigten<lb/> ihre Poſition mit dem Mute der Verzweiflung und<lb/> die Neunundvierziger griffen mit dem Willen, zu<lb/> ſiegen immer von neuem an, bis ſie ſich in den Beſitz<lb/> des wichtigen Platzes geſetzt hatten. Napoleon mußte<lb/> die Abſicht, hier die Donau zu paſſieren, aufgeben<lb/> und wandte ſich nach der Lobau, von wo aus er<lb/> eine Woche ſpäter auf den Wahlplatz bei Aſpern vor-<lb/> rückte. Hier wurde, wie bekannt, die franzöſiſche Armee<lb/> geſchlagen. Neidlos und voll Bewunderung anerkannten<lb/> alle die Bravour der Neunundvierziger. Schon am<lb/> 14. Mai 1809 wurde dem Regimente im Armeekorps-<lb/> befehle der Dank ausgeſprochen und die glänzende<lb/> Waffentat desſelben wurde dem ganzen Armeekorps<lb/> als leuchtendes Beiſpiel zur Nacheiferung empfohlen.<lb/> Auch in der Schlacht bei Aſpern zeichnete ſich das<lb/> Regiment aus und die Anerkennung ihres Helden-<lb/> mutes lautete im Armeebefehle: „Auf dem Schlacht-<lb/> felde ſeid ihr die erſten Soldaten der Welt; denn<lb/> ohne Neunundvierzig gäbe es keinen Sieg bei Aſpern“.<lb/> Die Erinnerung an ſolche Ruhmestage des Landes-<lb/> regiments kann nie oft genug aufgefriſcht werden,<lb/> damit auch die Epigonen ſich an den Taten ihrer<lb/> Vorfahren erinnern. Und wahrlich, wir ſahen es, als<lb/> unſere Landeskinder an die ſüdöſtlichen Grenzen zogen,<lb/> um dem öſterreichiſchen Doppeladler die ihm ge-<lb/> bührende Achtung zu verſchaffen. Vor hundert Jahren<lb/> eine gewaltige Waffentat — im heurigen Jahre eine<lb/> machtgebietende Rüſtung, die uns den Frieden ſchuf.<lb/> Die Tage des mittleren Mai 1809 bleiben un<lb/> vergeſſen.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head>— <hi rendition="#g">Die Eismänner.</hi> </head> <p>Am 12., 13. und 14.<lb/> Mai befürchtet das Volk, jedenfalls nach vieljähriger<lb/> Beobachtung, Morgenfröſte. Aber mit dem Datum<lb/> kommen Pankraz, Servaz und Bonifaz nicht immer.<lb/> Heuer haben ſie drei frühere Tage okkupiert, Freitag,<lb/> Samstag und Sonntag. Beſonders kalt war der<lb/> Samstag. In den erſten Morgenſtunden, als eben<lb/> die Sonne aufgehen wollte, ſah man an den ſaftigen<lb/> Kleeſtauden die glitzernden Reifkriſtalle. Bei der<lb/> Einöde fand man ſchon ganze Streifen bereiften<lb/> Bodens und auf den kleinen Lacken dünne Eiskruſten.<lb/><cb/> Aber die Siegenfelder und die Gaadener Wieſen<lb/> waren weiß wie beſchneit. Die Dicke des Eiſes betrug<lb/> bis 5 <hi rendition="#aq">mm.</hi> Die Blätter der niederen Bänme waren<lb/> in Froſt erſtarrt und ein eiſig kalter Nordwind ſtrich<lb/> von den Bergen her. Wenn nicht aus dem grünen<lb/> Walde Kuckucksruf und das melodiöſe Pfeifen des<lb/> Pfingſtvogels (Goldamſel) erſcholl, mochte man ſich in<lb/> den Spätherbſt verſetzt fühlen. Um halb ſieben bedeckte<lb/> ſich das Sulzergebirge wie mit einem lichten Nebel<lb/> und da kams von Sittendorf in dichten Schwaden:<lb/> es waren veritable Schneeflocken, die als letzter Gruß<lb/> des hartnäckigen Winters zur Erde flatterten. Nicht<lb/> lange dauerte das Spiel, das Gewölke verzog ſich<lb/> und die Temperatur ſtieg derart, daß binnen zehn<lb/> Minuten der ganze Reif in blinkenden Tau ver-<lb/> wandelt ward. Die niedrigen Buſchen und Eſchen<lb/> aber waren, wo die Sonnenſtrahlen hinfielen, ver-<lb/> ſengt und auch in den Weingärten zeigten ſich bald<lb/> einige Froſtſchäden, aber ſicherlich nicht in dem Aus-<lb/> maße, wie es von Weingärtnern dargeſtellt wird.<lb/> Der Sonntagsmorgen war ebenfalls ſehr kühl, doch<lb/> ſank das Queckſilber nicht unter + 1°. Tagsüber<lb/> aber war es ſehr ſchön und alles eilte ins Freie, um<lb/> den Lenz zu genießen.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head>— <hi rendition="#g">Die Vogelwelt.</hi> </head> <p>Mit der Ankunft des<lb/> Pirols (Goldamſel) iſt die Sommerornis unſerer<lb/> Gegend komplett. Als Vorläufer war vor einer Woche<lb/> der rotrückige Würger (Dorndreher) angekommen.<lb/> Ihm folgten die Wachteln in der Ebene und die<lb/> Goldamſeln in den Laubwäldern und am Sonntag<lb/> konnte man vom Walde her das Frühlingslied der<lb/> erſteren und Wachtelſchlag von den Getreideäckern<lb/> verne<supplied>h</supplied>men. Ausſtändig iſt noch der Turmſegler. Die<lb/> Schwalben waren die ganze Woche hindurch nicht<lb/> ſichtbar. Wohin ſie ſich geflüchtet, iſt nicht zu eruieren.<lb/> Es wurde erzählt, daß man bei Felixdorf ganze<lb/> Haufen toter Schwalben gefunden hätte. Es iſt nicht<lb/> unmöglich, daß die armen Tierchen vor Hunger und<lb/> Kälte zugrunde gingen, nachdem ſie in der Vorwoche<lb/> ſchon ihre alten Neſter einer durchgreifenden Reparatur<lb/> unterzogen hatten. Aber am Sonntag Nachmittag<lb/> konnte man ſie wieder beobachten, wie ſie pfeilſchnell<lb/> um die Häuſer und durch die Gaſſen ſchoſſen. Mögen<lb/> ſie von weiterem Ungemach verſchont bleiben; auch die<lb/> Menſchheit ſehnt ſich nach warmer Frühlingsluft.<lb/> Die Amſeln und die Singdroſſeln hatten ſchon Junge<lb/> ausgebrütet. Ob ſie ſie über die ſchlimme Regenzeit<lb/> am Leben erhielten, wird ſich bald zeigen. Die Höhlen-<lb/> brüter, zumal die Meiſen, die ſich in den Niſtkäſtchen<lb/> des Kurparkes wohnlich eingerichtet hatten, obliegen dem<lb/> Brutgeſchäfte und in einigen Wochen wird man die<lb/> kleinen Familien von Zweig zu Zweig, von Wipfel<lb/> zu Wipfel flattern ſehen. An Nachtigallen werden die<lb/> Auen von Jahr zu Jahr ärmer; denn die beſten<lb/> Schläger werden abgefangen. Der Vogelſchutz iſt<lb/> eben noch mangelhaft.</p><lb/> <cb/> </div> <div type="jArticle" n="2"> <head>— <hi rendition="#g">Die Kurorcheſterkonzerte.</hi> </head> <p>Vergan-<lb/> genen Sonntag war es dem Kurorcheſter zum erſten-<lb/> male vergönnt, ſich im Freien, d. h. im Kurparke,<lb/> hören laſſen zu können. Die Morgenkonzerte, die<lb/> Orcheſterdirektor <hi rendition="#g">Hummer</hi> dirigiert, ſind um dieſe<lb/> Jahreszeit wohl noch ſchwach beſucht, deſto beſſer die<lb/> Mittags- und Abendkonzerte. Am Sonntag wogte die<lb/> Hörermenge wie an einem Sommertage auf und ab<lb/> und lauſchte den herrlichen Aufführungen, welche unter<lb/> der meiſterhaften Leitung des Muſikdirektors H. M.<lb/><hi rendition="#g">Wallner</hi> Perlen der tonkünſtleriſchen Schöpfungen<lb/> bieten. Die Programme ſind vorzüglich zuſammen-<lb/> geſtellt; man bekommt gediegene klaſſiſche Muſik neben<lb/> ſolcher leichteren Genres zu hören und dies in voll-<lb/> kommener Ausführung. Wir wollen nur das Vorſpiel<lb/> zur Oper „Mephiſtopheles“ Boito’s vom Samstag<lb/> anführen, die Verdi’ſche Phantaſie aus der Oper<lb/> „Der Maskenball“ oder C. M. v. Weber’s Oberon-<lb/> Ouverture, deren Aufführung alle Hörer entzückte und<lb/> die dem durchgeiſtigten Dirigieren Wallner’s, wie<lb/> auch dem verſtändnisvollen Spiele der Mitwirkenden<lb/> den lebhafteſten und dankbarſten Beifall verſchaffte.<lb/> Auch das Sonntagkonzert brachte glänzende Nummern,<lb/> wie überhaupt alles ſchöne Alte und hübſche Novi-<lb/> täten in den Programmen zu finden und tadellos zu<lb/> hören ſind. Die Kurkommiſſion kann mit Stolz auf<lb/> ihr erſtklaſſiges Orcheſter hinweiſen und tatſächlich iſt<lb/> ein ſo vortreffliches Enſemble einer der Haupt-<lb/> anziehungspunkte eines Kurortes. Es hieße Eulen<lb/> nach Athen tragen, wollte man noch mehr Lob hin-<lb/> zufügen — nur, wie wir im Vorjahre wiederholt<lb/> hervorgehoben hatten, wäre eine Vermehrung der<lb/> Streichinſtrumente, beſonders für die Produktionen<lb/> im Freien, ſehr zu wünſchen. Was aber die künſt-<lb/> leriſchen Darbietungen betrifft, ſo ſind ſie in der be-<lb/> währten Hand Wallner’s in beſter Hut.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head>— <hi rendition="#g">Angekommene Fremde.</hi> </head> <p>In Baden<lb/> ſind in den letzten Tagen zum Kurgebrauche, reſp.<lb/> Sommerfriſche angekommen: Gutsbeſitzer R. v. <hi rendition="#g">Hert-<lb/> berg</hi> (Penſion Landſchaft), Prof. Kornelius Frei-<lb/> herr v. <hi rendition="#g">Hahn</hi> (Hotel Schäferin), Sektionschef Auguſt<lb/><hi rendition="#g">Czapka</hi> Freiherr v. <hi rendition="#g">Winſtetten,</hi> Frau Baroniu<lb/> Antonia <hi rendition="#g">Buſchman,</hi> Vinzenz Graf <hi rendition="#g">Kuenburg</hi><lb/> (Hotel Schäferin).</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head>— <hi rendition="#g">Der hieſige Verſchönerungsverein,</hi> </head><lb/> <p>deſſen Tätigkeit eine wirklich anerkennenswerte iſt<lb/> und der beſonders heuer durch größere Arbeiten in<lb/> Anſpruch genommen iſt, ſcheint nun auch in letzterer<lb/> Zeit in weiten Kreiſen ſich Sympathien zu erringen,<lb/> die ſich durch zahlreichen Beitritt von Mitgliedern<lb/> äußern. So ſind in der letzten Zeit u. a. Herr Doro<lb/><hi rendition="#g">Hein</hi> mit einem Jahresbeitrag von 100 Kronen und<lb/> und die Rennſtallbeſitzer Herren <hi rendition="#g">Piatnik</hi> mit einem<lb/> ſolchen von 50 Kronen als Mitglieder beigetreten;<lb/> außerdem ſpendete Herr Regierungsrat <hi rendition="#g">Rollett</hi> dem<lb/> Vereine 200 Kronen.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <cb/> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div next="#briefe5" xml:id="briefe4" prev="#briefe3" type="jArticle" n="2"> <p>bei einſamem Denken und Leſen einen angenehmen<lb/> Aufenthalt bot. Auch gab es damals in den Städten<lb/> mancherlei Vergnügen, ſo daß wir keineswegs an-<lb/> nehmen dürfen, nur die Not hätte unſere Vorfahren<lb/> zu ſo manchem Kurzweil geführt.</p><lb/> <p>Es lag für die Teilnehmer an ſolchen Abend-<lb/> zuſammenkünften etwas geheimnisvoll Anregendes<lb/> darin, die Poeſien gleichzeitig mit ihren Freunden<lb/> in ſich aufzunehmen. Der ganze Gang einer Ge-<lb/> ſchichte entſpann ſich mit den Worten ihres Erzählers<lb/> vor den geiſtigen Augen der Hörer gleichzeitig und<lb/> in der gleichen Eingebung. Das Bewußtſein zu be-<lb/> ſitzen, daß jeden Augenblick der andere Anweſende die<lb/> gleiche Vorſtellung empfängt wie wir, übt auf uns<lb/> immer eine anheimelnde Wirkung aus. Und liegt<lb/> nicht auch in dem Tone eines guten Erzählers etwas<lb/> ſeelenvolles? Wenn wir leſen, ſo hören wir im<lb/> Geiſte den Text immer in unſerem eigenen Tone<lb/> vorgetragen, das heißt, wir beleben uns die Sprache<lb/> des Dichters in einer unſerem perſönlichen Empfinden<lb/> entſprechenden Weiſe; wenn wir aber das gleiche er-<lb/> zählen hören, klingt es uns nach der Empfindung des<lb/> Sprechers entgegen.</p><lb/> <p>Aber auch für den Erzählenden ſelbſt hatte dieſe<lb/> Sitte großen Wert und das Vergnügen, welches<lb/> darin lag, einen Kranz von Lieben, die ſtumm lauſchten,<lb/> um ſich verſammelt zu ſehen, braucht wohl auch nicht<lb/> ganz außeracht gelaſſen zu werden.</p><lb/> <p>Und heute ſind alle dieſe Bräuche dahin; man<lb/> ſudelt ſeine Briefe, führt keine Stammbücher mehr,<lb/> man erzählt nimmer. Ja ſelbſt das Vorleſen, eine<lb/> ſpätere Nachfolge des Erzählens, iſt nicht mehr allge-<lb/> mein Sitte. Alles iſt dahin und hat nur ſpärliche<lb/> Nachklänge hinterlaſſen. Aber das iſt eigentlich tief<lb/> zu bedauern. Kühn widerſpreche ich hier jener mäch-<lb/> tigen Stimme des Hypermodernismus, welche mit<lb/> fanatiſcher Wucht alles, was nur immer an alte<lb/> Zeiten erinnern könnte, blindlings niederſchreit.<lb/><cb/> Muß in dem Kampfe, welchen eine neue Idee gegen<lb/> ſchlechten alten Roſt zu beſtehen hat, denn durchaus<lb/> auch alles gute Alte zugrundegehen? Der Fortſchritt,<lb/> welcher mehr zerſtört als er bietet, iſt in Wirklich-<lb/> keit keiner. Und einen ſolchen hat die geiſtig in-<lb/> materielle Kultur heute zu verzeichnen.</p><lb/> <p>Von dieſem Exkurſe, welcher eine Tatſache<lb/> ſtreifte, die ſich außer in den gegenſtändlichen auch<lb/> in vielen anderen größeren Erſcheinungen offenbart,<lb/> kehre ich zu meinem Thema zurück.</p><lb/> <p>Ich habe bereits bei jedem der drei Titelpunkte<lb/> dieſes Aufſatzes ſeine intimeren Werte genannt; es<lb/> gibt aber auch weitertragende, für die moraliſche und<lb/> geſchichtliche Entwicklung der ganzen Menſchheit be-<lb/> deutungsvolle Werte.</p><lb/> <p>An dieſer Stelle greife ich den zuvor ſchon<lb/> einmal berührten Gedanken über das in früheren<lb/> Zeiten größere Intereſſe an den Schickſalen ſeiner<lb/> Lieben wieder auf und es iſt mir hier vor allem<lb/> darum zu tun, die eigentümliche Wechſelwirkung, in<lb/> welcher der Niedergang des Geſellſchaftslebens und<lb/> der Vorfall der beſprochenen drei Sitten zu einander<lb/> ſtehen, zu kennzeichnen.</p><lb/> <p>Es iſt richtig, das nahezu gänzliche Aufhören<lb/> der häuslichen Gemütlichkeit hat den Zuſammenbruch<lb/> alter Gebräuche verſchuldet. Dieſer trug aber wiederum<lb/> viel dazu bei, das erſtere um ſo radikaler durchzu-<lb/> ſetzen. Das Schwinden der familiären Geſelligkeit<lb/> machte in dem Falle wohl den Anfang des Zer-<lb/> ſtörungswerkes, aber immerhin iſt die wohltuende<lb/> Wirkung, beſonders der zuletzt beſprochenen Sitte auf<lb/> das Geſellſchaftsleben ihren größten Wert, wenngleich<lb/> ſie dieſes auch nicht zu retten imſtande war</p><lb/> <p>Wo man ſich im eigenen Heime zuſammenſchloß,<lb/> um ohne jeden Behelf ſein Vergnügen in dem bloßen<lb/> ſeeliſchen Verkehre mit ſeinem Nächſten zu ſuchen,<lb/> dort erblühten wahre, edle Freundſchaften, dort ent-<lb/> wickelte ſich eine Liebe, die zuerſt frei von Sinn-<lb/><cb/> lichkeit ihren kryſtallreinen Quell nur in dem hin-<lb/> reißenden Eindrucke eines fremden Gemütes hatte.<lb/> Da bekam jedes ein richtiges Bild von den Nei-<lb/> gungen und Charakterzügen des anderen, weil man<lb/> es in ſeinem eigenſten Milieu vor ſich ſah. Da auf<lb/> dem Lande während des Erzählens gearbeitet wurde,<lb/> gedieh die häusliche Kunſt. Das Gedächtnis wurde<lb/> ungemein geſchärft durch das Beſtreben, das Gehörte<lb/> jederzeit wiedergeben zu können. Von dem Werte der<lb/> traditionellen Fortpflanzung überhaupt, ſoferne ſie<lb/> den echten Volksgeiſt friſcher erhält, will ich hier gar<lb/> nicht ſprechen.</p><lb/> <p>Hoch anzuſchlagen iſt aber der allgemein ſchön-<lb/> geiſtige Zug, welcher durch alle geſchilderten Bräuche<lb/> ſeinerzeit in die Bevölkerung getragen wurde. In-<lb/> folge der Sorgfalt, mit der man ſeine Briefe ver-<lb/> faßte, der Freude, die man an guten Siunſprüchen<lb/> fand, und beſonders der praktiſchen Uebung im Er-<lb/> zählen wurde die Ausdrucksfähigkeit für Geſchäfts-<lb/> ſachen ungemein erhöht. Und wenn gerade zu dieſer<lb/> Zeit auf dem literariſchen Himmel Sterne empor-<lb/> ſtiegen, deren unvergänglicher Glanz die Jahrhun-<lb/> derte überdauern wird, ſo darf uns das gar nicht<lb/> wundern.</p><lb/> <p>Die Liebe zur Poeſie und die Luſt zum Fabu-<lb/> lieren wurde auf ſolche Weiſe bei talentvollen Menſchen<lb/> ſchon frühzeitig geweckt und reifte in dieſer Schule<lb/> oft zur ſchönſten Blüte. Wir erinnern uns hier nur<lb/> der bedeutungsvollen Stunden, wo Frau Rat dem<lb/> jungen Goethe vom Dr. Fauſt erzählte.</p><lb/> <p>Die klaſſiſche Periode und das nachfolgende Zeit-<lb/> alter der Romantik verdankten ihre Lebenskraft un-<lb/> beſtreitbar den begünſtigenden Zuſtänden des damaligen<lb/> Geſellſchaftslebens.</p><lb/> <p>Heute treten die Anſichtskarten vielfach an Stelle<lb/> der früheren Luxusbriefe (man verſteht wohl, was<lb/> ich mit dem Worte bezeichnen will), die Autographen-<lb/> fächer an Stelle der Stammbücher. Aber ſo nett jene</p> </div> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [4/0004]
Mittwoch Badener Zeitung 12. Mai 1909 Nr. 38
hatten nachts 600 franzöſiſche Grenadiere das auf
der Auinſel befindliche Jägerhaus und den Hafendamm
beſetzt und unter deren Deckung hätten andere Truppen
hinübergeſchafft werden ſollen und am nächſten Tage
hätte der Brückenſchlag ſtattfinden ſollen. Als der
Korpskommandant endlich dies erfuhr, beorderte er
ſofort das 49. Infanterieregiment, den Franzoſen die
beſetzte Stellung, koſte es, was es wolle, zu entreißen.
Mit unglaublichem Mute, durch eine zähe Ausdauer
im Angriff, wurden die Oeſterreicher unter bedeuten-
den Verluſten der Franzoſen Herr. Dieſe wurden
ſamt und ſonders teils getötet, teils gefangen, ſo
daß keiner der Beteiligten ſeinem Kaiſer die betrübende
Meldung hatte melden können. Es war ein gewaltiges
Ringen beiderſeits; denn die Franzoſen verteidigten
ihre Poſition mit dem Mute der Verzweiflung und
die Neunundvierziger griffen mit dem Willen, zu
ſiegen immer von neuem an, bis ſie ſich in den Beſitz
des wichtigen Platzes geſetzt hatten. Napoleon mußte
die Abſicht, hier die Donau zu paſſieren, aufgeben
und wandte ſich nach der Lobau, von wo aus er
eine Woche ſpäter auf den Wahlplatz bei Aſpern vor-
rückte. Hier wurde, wie bekannt, die franzöſiſche Armee
geſchlagen. Neidlos und voll Bewunderung anerkannten
alle die Bravour der Neunundvierziger. Schon am
14. Mai 1809 wurde dem Regimente im Armeekorps-
befehle der Dank ausgeſprochen und die glänzende
Waffentat desſelben wurde dem ganzen Armeekorps
als leuchtendes Beiſpiel zur Nacheiferung empfohlen.
Auch in der Schlacht bei Aſpern zeichnete ſich das
Regiment aus und die Anerkennung ihres Helden-
mutes lautete im Armeebefehle: „Auf dem Schlacht-
felde ſeid ihr die erſten Soldaten der Welt; denn
ohne Neunundvierzig gäbe es keinen Sieg bei Aſpern“.
Die Erinnerung an ſolche Ruhmestage des Landes-
regiments kann nie oft genug aufgefriſcht werden,
damit auch die Epigonen ſich an den Taten ihrer
Vorfahren erinnern. Und wahrlich, wir ſahen es, als
unſere Landeskinder an die ſüdöſtlichen Grenzen zogen,
um dem öſterreichiſchen Doppeladler die ihm ge-
bührende Achtung zu verſchaffen. Vor hundert Jahren
eine gewaltige Waffentat — im heurigen Jahre eine
machtgebietende Rüſtung, die uns den Frieden ſchuf.
Die Tage des mittleren Mai 1809 bleiben un
vergeſſen.
— Die Eismänner. Am 12., 13. und 14.
Mai befürchtet das Volk, jedenfalls nach vieljähriger
Beobachtung, Morgenfröſte. Aber mit dem Datum
kommen Pankraz, Servaz und Bonifaz nicht immer.
Heuer haben ſie drei frühere Tage okkupiert, Freitag,
Samstag und Sonntag. Beſonders kalt war der
Samstag. In den erſten Morgenſtunden, als eben
die Sonne aufgehen wollte, ſah man an den ſaftigen
Kleeſtauden die glitzernden Reifkriſtalle. Bei der
Einöde fand man ſchon ganze Streifen bereiften
Bodens und auf den kleinen Lacken dünne Eiskruſten.
Aber die Siegenfelder und die Gaadener Wieſen
waren weiß wie beſchneit. Die Dicke des Eiſes betrug
bis 5 mm. Die Blätter der niederen Bänme waren
in Froſt erſtarrt und ein eiſig kalter Nordwind ſtrich
von den Bergen her. Wenn nicht aus dem grünen
Walde Kuckucksruf und das melodiöſe Pfeifen des
Pfingſtvogels (Goldamſel) erſcholl, mochte man ſich in
den Spätherbſt verſetzt fühlen. Um halb ſieben bedeckte
ſich das Sulzergebirge wie mit einem lichten Nebel
und da kams von Sittendorf in dichten Schwaden:
es waren veritable Schneeflocken, die als letzter Gruß
des hartnäckigen Winters zur Erde flatterten. Nicht
lange dauerte das Spiel, das Gewölke verzog ſich
und die Temperatur ſtieg derart, daß binnen zehn
Minuten der ganze Reif in blinkenden Tau ver-
wandelt ward. Die niedrigen Buſchen und Eſchen
aber waren, wo die Sonnenſtrahlen hinfielen, ver-
ſengt und auch in den Weingärten zeigten ſich bald
einige Froſtſchäden, aber ſicherlich nicht in dem Aus-
maße, wie es von Weingärtnern dargeſtellt wird.
Der Sonntagsmorgen war ebenfalls ſehr kühl, doch
ſank das Queckſilber nicht unter + 1°. Tagsüber
aber war es ſehr ſchön und alles eilte ins Freie, um
den Lenz zu genießen.
— Die Vogelwelt. Mit der Ankunft des
Pirols (Goldamſel) iſt die Sommerornis unſerer
Gegend komplett. Als Vorläufer war vor einer Woche
der rotrückige Würger (Dorndreher) angekommen.
Ihm folgten die Wachteln in der Ebene und die
Goldamſeln in den Laubwäldern und am Sonntag
konnte man vom Walde her das Frühlingslied der
erſteren und Wachtelſchlag von den Getreideäckern
vernehmen. Ausſtändig iſt noch der Turmſegler. Die
Schwalben waren die ganze Woche hindurch nicht
ſichtbar. Wohin ſie ſich geflüchtet, iſt nicht zu eruieren.
Es wurde erzählt, daß man bei Felixdorf ganze
Haufen toter Schwalben gefunden hätte. Es iſt nicht
unmöglich, daß die armen Tierchen vor Hunger und
Kälte zugrunde gingen, nachdem ſie in der Vorwoche
ſchon ihre alten Neſter einer durchgreifenden Reparatur
unterzogen hatten. Aber am Sonntag Nachmittag
konnte man ſie wieder beobachten, wie ſie pfeilſchnell
um die Häuſer und durch die Gaſſen ſchoſſen. Mögen
ſie von weiterem Ungemach verſchont bleiben; auch die
Menſchheit ſehnt ſich nach warmer Frühlingsluft.
Die Amſeln und die Singdroſſeln hatten ſchon Junge
ausgebrütet. Ob ſie ſie über die ſchlimme Regenzeit
am Leben erhielten, wird ſich bald zeigen. Die Höhlen-
brüter, zumal die Meiſen, die ſich in den Niſtkäſtchen
des Kurparkes wohnlich eingerichtet hatten, obliegen dem
Brutgeſchäfte und in einigen Wochen wird man die
kleinen Familien von Zweig zu Zweig, von Wipfel
zu Wipfel flattern ſehen. An Nachtigallen werden die
Auen von Jahr zu Jahr ärmer; denn die beſten
Schläger werden abgefangen. Der Vogelſchutz iſt
eben noch mangelhaft.
— Die Kurorcheſterkonzerte. Vergan-
genen Sonntag war es dem Kurorcheſter zum erſten-
male vergönnt, ſich im Freien, d. h. im Kurparke,
hören laſſen zu können. Die Morgenkonzerte, die
Orcheſterdirektor Hummer dirigiert, ſind um dieſe
Jahreszeit wohl noch ſchwach beſucht, deſto beſſer die
Mittags- und Abendkonzerte. Am Sonntag wogte die
Hörermenge wie an einem Sommertage auf und ab
und lauſchte den herrlichen Aufführungen, welche unter
der meiſterhaften Leitung des Muſikdirektors H. M.
Wallner Perlen der tonkünſtleriſchen Schöpfungen
bieten. Die Programme ſind vorzüglich zuſammen-
geſtellt; man bekommt gediegene klaſſiſche Muſik neben
ſolcher leichteren Genres zu hören und dies in voll-
kommener Ausführung. Wir wollen nur das Vorſpiel
zur Oper „Mephiſtopheles“ Boito’s vom Samstag
anführen, die Verdi’ſche Phantaſie aus der Oper
„Der Maskenball“ oder C. M. v. Weber’s Oberon-
Ouverture, deren Aufführung alle Hörer entzückte und
die dem durchgeiſtigten Dirigieren Wallner’s, wie
auch dem verſtändnisvollen Spiele der Mitwirkenden
den lebhafteſten und dankbarſten Beifall verſchaffte.
Auch das Sonntagkonzert brachte glänzende Nummern,
wie überhaupt alles ſchöne Alte und hübſche Novi-
täten in den Programmen zu finden und tadellos zu
hören ſind. Die Kurkommiſſion kann mit Stolz auf
ihr erſtklaſſiges Orcheſter hinweiſen und tatſächlich iſt
ein ſo vortreffliches Enſemble einer der Haupt-
anziehungspunkte eines Kurortes. Es hieße Eulen
nach Athen tragen, wollte man noch mehr Lob hin-
zufügen — nur, wie wir im Vorjahre wiederholt
hervorgehoben hatten, wäre eine Vermehrung der
Streichinſtrumente, beſonders für die Produktionen
im Freien, ſehr zu wünſchen. Was aber die künſt-
leriſchen Darbietungen betrifft, ſo ſind ſie in der be-
währten Hand Wallner’s in beſter Hut.
— Angekommene Fremde. In Baden
ſind in den letzten Tagen zum Kurgebrauche, reſp.
Sommerfriſche angekommen: Gutsbeſitzer R. v. Hert-
berg (Penſion Landſchaft), Prof. Kornelius Frei-
herr v. Hahn (Hotel Schäferin), Sektionschef Auguſt
Czapka Freiherr v. Winſtetten, Frau Baroniu
Antonia Buſchman, Vinzenz Graf Kuenburg
(Hotel Schäferin).
— Der hieſige Verſchönerungsverein,
deſſen Tätigkeit eine wirklich anerkennenswerte iſt
und der beſonders heuer durch größere Arbeiten in
Anſpruch genommen iſt, ſcheint nun auch in letzterer
Zeit in weiten Kreiſen ſich Sympathien zu erringen,
die ſich durch zahlreichen Beitritt von Mitgliedern
äußern. So ſind in der letzten Zeit u. a. Herr Doro
Hein mit einem Jahresbeitrag von 100 Kronen und
und die Rennſtallbeſitzer Herren Piatnik mit einem
ſolchen von 50 Kronen als Mitglieder beigetreten;
außerdem ſpendete Herr Regierungsrat Rollett dem
Vereine 200 Kronen.
bei einſamem Denken und Leſen einen angenehmen
Aufenthalt bot. Auch gab es damals in den Städten
mancherlei Vergnügen, ſo daß wir keineswegs an-
nehmen dürfen, nur die Not hätte unſere Vorfahren
zu ſo manchem Kurzweil geführt.
Es lag für die Teilnehmer an ſolchen Abend-
zuſammenkünften etwas geheimnisvoll Anregendes
darin, die Poeſien gleichzeitig mit ihren Freunden
in ſich aufzunehmen. Der ganze Gang einer Ge-
ſchichte entſpann ſich mit den Worten ihres Erzählers
vor den geiſtigen Augen der Hörer gleichzeitig und
in der gleichen Eingebung. Das Bewußtſein zu be-
ſitzen, daß jeden Augenblick der andere Anweſende die
gleiche Vorſtellung empfängt wie wir, übt auf uns
immer eine anheimelnde Wirkung aus. Und liegt
nicht auch in dem Tone eines guten Erzählers etwas
ſeelenvolles? Wenn wir leſen, ſo hören wir im
Geiſte den Text immer in unſerem eigenen Tone
vorgetragen, das heißt, wir beleben uns die Sprache
des Dichters in einer unſerem perſönlichen Empfinden
entſprechenden Weiſe; wenn wir aber das gleiche er-
zählen hören, klingt es uns nach der Empfindung des
Sprechers entgegen.
Aber auch für den Erzählenden ſelbſt hatte dieſe
Sitte großen Wert und das Vergnügen, welches
darin lag, einen Kranz von Lieben, die ſtumm lauſchten,
um ſich verſammelt zu ſehen, braucht wohl auch nicht
ganz außeracht gelaſſen zu werden.
Und heute ſind alle dieſe Bräuche dahin; man
ſudelt ſeine Briefe, führt keine Stammbücher mehr,
man erzählt nimmer. Ja ſelbſt das Vorleſen, eine
ſpätere Nachfolge des Erzählens, iſt nicht mehr allge-
mein Sitte. Alles iſt dahin und hat nur ſpärliche
Nachklänge hinterlaſſen. Aber das iſt eigentlich tief
zu bedauern. Kühn widerſpreche ich hier jener mäch-
tigen Stimme des Hypermodernismus, welche mit
fanatiſcher Wucht alles, was nur immer an alte
Zeiten erinnern könnte, blindlings niederſchreit.
Muß in dem Kampfe, welchen eine neue Idee gegen
ſchlechten alten Roſt zu beſtehen hat, denn durchaus
auch alles gute Alte zugrundegehen? Der Fortſchritt,
welcher mehr zerſtört als er bietet, iſt in Wirklich-
keit keiner. Und einen ſolchen hat die geiſtig in-
materielle Kultur heute zu verzeichnen.
Von dieſem Exkurſe, welcher eine Tatſache
ſtreifte, die ſich außer in den gegenſtändlichen auch
in vielen anderen größeren Erſcheinungen offenbart,
kehre ich zu meinem Thema zurück.
Ich habe bereits bei jedem der drei Titelpunkte
dieſes Aufſatzes ſeine intimeren Werte genannt; es
gibt aber auch weitertragende, für die moraliſche und
geſchichtliche Entwicklung der ganzen Menſchheit be-
deutungsvolle Werte.
An dieſer Stelle greife ich den zuvor ſchon
einmal berührten Gedanken über das in früheren
Zeiten größere Intereſſe an den Schickſalen ſeiner
Lieben wieder auf und es iſt mir hier vor allem
darum zu tun, die eigentümliche Wechſelwirkung, in
welcher der Niedergang des Geſellſchaftslebens und
der Vorfall der beſprochenen drei Sitten zu einander
ſtehen, zu kennzeichnen.
Es iſt richtig, das nahezu gänzliche Aufhören
der häuslichen Gemütlichkeit hat den Zuſammenbruch
alter Gebräuche verſchuldet. Dieſer trug aber wiederum
viel dazu bei, das erſtere um ſo radikaler durchzu-
ſetzen. Das Schwinden der familiären Geſelligkeit
machte in dem Falle wohl den Anfang des Zer-
ſtörungswerkes, aber immerhin iſt die wohltuende
Wirkung, beſonders der zuletzt beſprochenen Sitte auf
das Geſellſchaftsleben ihren größten Wert, wenngleich
ſie dieſes auch nicht zu retten imſtande war
Wo man ſich im eigenen Heime zuſammenſchloß,
um ohne jeden Behelf ſein Vergnügen in dem bloßen
ſeeliſchen Verkehre mit ſeinem Nächſten zu ſuchen,
dort erblühten wahre, edle Freundſchaften, dort ent-
wickelte ſich eine Liebe, die zuerſt frei von Sinn-
lichkeit ihren kryſtallreinen Quell nur in dem hin-
reißenden Eindrucke eines fremden Gemütes hatte.
Da bekam jedes ein richtiges Bild von den Nei-
gungen und Charakterzügen des anderen, weil man
es in ſeinem eigenſten Milieu vor ſich ſah. Da auf
dem Lande während des Erzählens gearbeitet wurde,
gedieh die häusliche Kunſt. Das Gedächtnis wurde
ungemein geſchärft durch das Beſtreben, das Gehörte
jederzeit wiedergeben zu können. Von dem Werte der
traditionellen Fortpflanzung überhaupt, ſoferne ſie
den echten Volksgeiſt friſcher erhält, will ich hier gar
nicht ſprechen.
Hoch anzuſchlagen iſt aber der allgemein ſchön-
geiſtige Zug, welcher durch alle geſchilderten Bräuche
ſeinerzeit in die Bevölkerung getragen wurde. In-
folge der Sorgfalt, mit der man ſeine Briefe ver-
faßte, der Freude, die man an guten Siunſprüchen
fand, und beſonders der praktiſchen Uebung im Er-
zählen wurde die Ausdrucksfähigkeit für Geſchäfts-
ſachen ungemein erhöht. Und wenn gerade zu dieſer
Zeit auf dem literariſchen Himmel Sterne empor-
ſtiegen, deren unvergänglicher Glanz die Jahrhun-
derte überdauern wird, ſo darf uns das gar nicht
wundern.
Die Liebe zur Poeſie und die Luſt zum Fabu-
lieren wurde auf ſolche Weiſe bei talentvollen Menſchen
ſchon frühzeitig geweckt und reifte in dieſer Schule
oft zur ſchönſten Blüte. Wir erinnern uns hier nur
der bedeutungsvollen Stunden, wo Frau Rat dem
jungen Goethe vom Dr. Fauſt erzählte.
Die klaſſiſche Periode und das nachfolgende Zeit-
alter der Romantik verdankten ihre Lebenskraft un-
beſtreitbar den begünſtigenden Zuſtänden des damaligen
Geſellſchaftslebens.
Heute treten die Anſichtskarten vielfach an Stelle
der früheren Luxusbriefe (man verſteht wohl, was
ich mit dem Worte bezeichnen will), die Autographen-
fächer an Stelle der Stammbücher. Aber ſo nett jene
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