Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 64. Augsburg (Bayern), 5. März 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch] stadt Siciliens; sehr vielen war die Bevölkerungszahl Jtaliens unbekannt.
Ueber die Geschichte ihres Vaterlandes war bei allen mit ganz wenigen Aus-
nahmen dieselbe traurige Wissensöde gebreitet: Brutus war ihnen ein
Tyrann, Dante ein französischer Dichter, Petrarca eine Dichterin; Colum-
bus war nach dem einen ein Heiliger, nach dem andern gar ein Apostel
gewesen.

Die Kenntnisse in der Mathematik hätten streng genommen nur bei
sehr wenigen zur Aufnahme in das Technikum hingereicht. Bloß die in
israelitischen Schulen Erzogenen machten hier eine ehrenvolle Ausnahme.
Bei den übrigen war das einfache Zusammenzählen so ziemlich der Höhe-
punkt der Leistung; nach dem Dictat fünfzifferige Zahlen, wie z. B. 50,367,
zu schreiben, war ohne langes Zögern, Verbessern und Addiren den meisten
unmöglich.

Es war eben das ganze bisherige System in Personen und in dem
Gegenstand des Unterrichts verkehrt und unzeitgemäß. Die zwei größten
Mißstände desselben lagen insbesondere in den ganz ungeeigneten Sub-
jecten der Lehrenden und in dem völligen Mangel eines Elementarunter-
richts. Jede Kutte war ja auch Mantel des Lehrers und Professors; jedes
geistliche Jnstitut konnte sich im Augenblick in eine Erziehungsanstalt um-
wandeln; jede kleine Gemeinde vermochte zu bewirken daß eine in ihrem
Bann weilende geistliche Körperschaft -- man kann sich denken wie groß
deren Befähigung hiezu war -- einen zum Besuch der Universität berech-
tigenden, ja manche Universitätsvorlesungen ersetzenden Lehrcurs eröffnete;
endlich wurden dem Laien welcher sich dem Jugendunterricht widmen wollte
tausend Hindernisse von den geistlichen Monopolisten in den Weg gelegt.

Ferner fehlte im Kirchenstaate die solide Basis eines Elementarunter-
richts. Nur diejenigen welche weitere Studien zu machen beabsichtigten,
wurden in den anderswo von der Volksschule allgemein gelehrten Kennt-
nissen unterrichtet. Und selbst bei diesen fehlte eine die Jntelligenz all-
mählich vorbereitende und heranreifende Aufstufung dieser frühesren Periode
des Lernens; denn sobald der Schüler nothdürftig und auf die mechanischste
Weise zum Lesenkönnen gebracht war, sobald er die Feder halten konnte,
gieng es an ein Lateinlernen "daß ihm der Kopf rauchte." Er ward als-
bald in die " Janua Grammaticae " hineingeschoben; aus diesem Werke,
dem Grausen der römischen Jugend und der Verwunderung gebildeter
Schulmänner, mußte er nun Jahre lang Worte und Declinationen und
Conjugationen auswendig lernen, und mit dieser unverstandenen Gelehr-
samkeit Hefte über Hefte vollpfropfen, während er die Bedeutung der
Worte, die Anwendung der Conjugationen und Declinationen erst viel
später erfahren sollte.

Man hatte freilich andere Dinge zu thun in Rom als für das Unter-
richtswesen zu sorgen, soweit es nicht Dressur im grammatikalischen und
kirchlichen Katechismus war. Wozu die vielen Lehrmeister und die vielen
so leicht gefahrbringenden Denkübungen! Da construirte man lieber einen
obersten unfehlbaren Weltlehrmeister, dessen bald eingedrillte Sätze in
allen Dingen des Geistes leicht zu handhabendes Maß gaben. Wenn nur
die gläubige Menge seine Heilslehre auf den Knieen liegend hinnahm,
dann durfte sie die ungezählten Tage fröhlich sein, und in Lumpen gehen
und in Unwissenheit. Hoffen wir daß das neue Jtalien und seine jüngst
in Rom begonnene Arbeit im Schulwesen diesem erlahmten Stamme wieder
das systematisch unterdrückte Bewußtsein geistiger Selbstverantwortlichkeit
zurückgebe.

Ein französisches Buch über Deutschland.
( Schluß. )

K.S. Die Wintersaison begünstigt das Theater, das damals noch in
Weimar unter Dingelstedts Leitung stand. Nicht nur die Gediegenheit der
Stücke und das Geschick der Darsteller befriedigen Legrelle aufs höchste,
sondern vor allem das respectable Bürgerthum, welches mit einer Art von
ehrerbietigem Lerneifer der Vorstellung beiwohnt. Gerade hierin liegt
ein wesentlicher Unterschied zwischen deutscher und französischer Sitte, denn
in Paris ruht der Schwerpunkt des Theaters in der Geselligkeit und der
Sensation, nicht in der sittlichen bildenden Macht der Bühne. Selbst dem
Privatleben der Schauspieler theilt sich in kleinen strebsamen Städten
dieses fleißige bürgerliche Gepräge mit, denn der Nimbus des Scandals ist
nur ein Vorrecht der Weltstadt. Marquis Posa und Mephistopheles führen
ihre Kinder an der Hand durch den Park, kein Schauspieler trägt apricosen-
farbene Beinkleider auf der Promenade, keine Primadonna kutschirt im
Vierspänner bekannter Fürsten.

Die Achtung welche Legrelle vor unsern Zuständen hat, obgleich ihre
Kehrseite so oft die Enge ist, übertragen wir unwillkürlich auf ihn selbst;
ihm ist die Literatur ein Gräuel die sich nur mit "putrider Psychologie"
beschäftigt. Auch den Werth der neueren deutschen Autoren weiß der
französische Autor mit feinem Gefühl zu schätzen, und während er die
[Spaltenumbruch] besondern Vorzüge jedes Einzelnen richtig erfaßt, lobt er den Kern der
Reinheit und Tüchtigkeit als ihr gemeinsames Erbgut. Eine Poesie die
nur das Laster auf die Bühne bringt, und sich dabei der Hoffnung hingibt
daß durch diesen Anblick die Menschen gebessert werden, geht verfehlte
Wege; denn durch das castigat ridendo ist noch niemand geändert wor-
den. Sursum corda -- das ist die wahre Moral und die wahre Poesie,
durch welche Deutschland die Franzosen geistig überwunden hat. Die
Pietät, die aus diesen Worten Legrelle's spricht, wird in Weimar durch
hundertfältige Erinnerung genährt. Bekanntlich nennt Heinrich Heine
die Stadt den Wittwensitz der Musen, und knüpft daran seine frivolen
Spöttereien; Legrelle aber ist edler gegen dieses Wittwenleid, wenn man
es so nennen will; ihn macht die Ehrfurcht vor der Vergangenheit nicht
ungerecht wider die Gegenwart. Niemals baut er das Denkmal eines gro-
ßen Mannes aus den Trümmern auf in die er andere Größen zerrissen hat;
niemals ist seine Bewunderung grausam; kein Marsyas wird neben den
Apoll gestellt, und wo er Beifall gibt, geschieht es ohne zu nehmen, ohne
jene negativen Mittel die uns ernüchtern.

Von der schönen Literatur wirft Legrelle einen Blick auf die Litera-
tur des Tages, deren Mittelpunkt das Journalzimmer in Weimar ist.
Als Fremder wird er dort eingeführt, und mißtrauisch schauen die ehrwür-
digen Stammgäste ihn an, obwohl er leisen Schrittes hereintritt. Da
liegen Gartenlaube und Kladderadatsch, " les feuilles volantes " und
Westermanns Monatshefte; neben ihnen die ganze Fluth politischer Zeit-
schriften. Fast jede Nummer wird in treffender Weise charakterisirt, vom
Tagblättchen bis zur "Gazette de Croix;" auch der "Allgemeinen Zeitung"
gönnt er besondere Achtsamkeit.

Wer ein Duzend Zeitungen gelesen, hat der ist verzeihlicher Weise in
der Laune zu politisiren, und daß Legrelle sich hiezu herbeiläßt, ist vielleicht
der einzige Schritt den er auf seinem schönen Wege zu bereuen hat.

Wir erinnern daran daß das Werk ( obwohl 1866 veröffentlicht ) doch
am Schlusse der fünfziger Jahre geschrieben wurde, und finden es demnach
begreiflich wenn wir zunächst einem Klagelied über die deutsche Klein-
staaterei begegnen. Jn keinem Punkte waren ja Frankreich und Deutsch-
land gründlicher verschieden. Ueber dem Rhein gab es nur Paris, und
das ganze Land war stets nur die Gallerie auf welcher die Bewohner als Zu-
schauer der Hauptstadt standen, mehr oder minder von der Claque unter-
mischt. Jn Deutschland aber gab es von jeder Sache sechsunddreißig
Varietäten; es gab Vaterländer die ein Morgennebel zudeckt, die man
nicht als einen Staat, sondern nur als eine Jdylle bezeichnen durfte. Und
wenn auch die Verehrung von geistigen und wirthschaftlichen Centren ihr
Gutes hatte, so hat sie doch die Gränzen ihrer Berechtigung in der Rich-
tung der Zeit, so streift sie doch so nahe an das Caricaturenhafte, daß wir
dem Talent gern einige Sarkasmen vergeben müssen.

" Ah, quel luxe de geographie!" ruft der entsetzte Franzose aus,
das Kind des Volkes dem Geographie von jeher eine Schwäche war!

Uns aber muß dann andrerseits auch die Frage gestattet sein: warum
der Verfasser so betroffen wird wenn er die ersten Schritte zur deutschen
Einheit betrachtet, warum so unmuthsvoll wenn er von den Bestrebungen
unseres Volkes spricht diesen Luxus zu vermindern? Es muß uns freistehen
hierin einen Mangel an Consequenz zu finden. Gern räumen wir es ein
daß auch die völkerrechtlichen Persönlichkeiten, d. h. die Nationen, ihre
Fehler haben, so gut wie das einzelne Jndividuum; allein wenn Frankreich
uns den Größenwahnsinn und die Leidenschaft alles zu besitzen zuschreibt,
dann hat es sicher unsere Fehler nach den eigenen abgemessen.

Was thun wir denn indem wir den deutschen Staat begründen, als
das was Frankreich im eigenen Hause that; was geben wir preis indem
wir die Kleinstaaterei beschränken, als das was Frankreich von jeher so
lächerlich oder schmachvoll fand? Und wenn es dennoch will daß wir da-
bei beharren, dann will es unsere Schmach, während es doch selber die
Ehre als das höchste Gut eines Volkes pflegt! Man möchte meinen daß
dieser Gedankengang einfach genug wäre, und dennoch begreift ihn nie-
mand im geistvollen Frankreich, dennoch hat selbst Prevost Paradol, der
edelste Mann den das neue Frankreich besaß, in seinem jüngsten Buche
zum Krieg geblasen! Jst das nicht eine pathologische Erscheinung, ist das
nicht partieller Wahnsinn? Frankreich selbst hat uns das Schwert in die
Hand gezwungen, um diesem Zustand, der unerträglich wurde, ein Ende
zu setzen. Wer den Gedanken nicht Folge gibt, der muß durch Thaten
berichtigt werden; wer sich den Gründen verschließt, für den bleibt nur
das fait accompli noch übrig. Von Frankreich ward diese Doctrin er-
funden, so mag es nun an seiner eigenen Lehre lernen.

Jm übrigen rühmen wir es Legrelle gerne nach daß er selbst hier sich
in würdevollen reflectiven Gränzen hält, und niemals in jenen Polterton
verfällt den seine Mitbürger für Patriotismus halten. Er ist ernstlich, ja
sogar sichtlich bemüht das Richtige zu finden; die vorzüglichen Eigenschaf-
ten welche den Menschen und den Schriftsteller auszeichnen, verlassen auch

[Spaltenumbruch] stadt Siciliens; sehr vielen war die Bevölkerungszahl Jtaliens unbekannt.
Ueber die Geschichte ihres Vaterlandes war bei allen mit ganz wenigen Aus-
nahmen dieselbe traurige Wissensöde gebreitet: Brutus war ihnen ein
Tyrann, Dante ein französischer Dichter, Petrarca eine Dichterin; Colum-
bus war nach dem einen ein Heiliger, nach dem andern gar ein Apostel
gewesen.

Die Kenntnisse in der Mathematik hätten streng genommen nur bei
sehr wenigen zur Aufnahme in das Technikum hingereicht. Bloß die in
israelitischen Schulen Erzogenen machten hier eine ehrenvolle Ausnahme.
Bei den übrigen war das einfache Zusammenzählen so ziemlich der Höhe-
punkt der Leistung; nach dem Dictat fünfzifferige Zahlen, wie z. B. 50,367,
zu schreiben, war ohne langes Zögern, Verbessern und Addiren den meisten
unmöglich.

Es war eben das ganze bisherige System in Personen und in dem
Gegenstand des Unterrichts verkehrt und unzeitgemäß. Die zwei größten
Mißstände desselben lagen insbesondere in den ganz ungeeigneten Sub-
jecten der Lehrenden und in dem völligen Mangel eines Elementarunter-
richts. Jede Kutte war ja auch Mantel des Lehrers und Professors; jedes
geistliche Jnstitut konnte sich im Augenblick in eine Erziehungsanstalt um-
wandeln; jede kleine Gemeinde vermochte zu bewirken daß eine in ihrem
Bann weilende geistliche Körperschaft -- man kann sich denken wie groß
deren Befähigung hiezu war -- einen zum Besuch der Universität berech-
tigenden, ja manche Universitätsvorlesungen ersetzenden Lehrcurs eröffnete;
endlich wurden dem Laien welcher sich dem Jugendunterricht widmen wollte
tausend Hindernisse von den geistlichen Monopolisten in den Weg gelegt.

Ferner fehlte im Kirchenstaate die solide Basis eines Elementarunter-
richts. Nur diejenigen welche weitere Studien zu machen beabsichtigten,
wurden in den anderswo von der Volksschule allgemein gelehrten Kennt-
nissen unterrichtet. Und selbst bei diesen fehlte eine die Jntelligenz all-
mählich vorbereitende und heranreifende Aufstufung dieser frühesren Periode
des Lernens; denn sobald der Schüler nothdürftig und auf die mechanischste
Weise zum Lesenkönnen gebracht war, sobald er die Feder halten konnte,
gieng es an ein Lateinlernen „daß ihm der Kopf rauchte.“ Er ward als-
bald in die „ Janua Grammaticae “ hineingeschoben; aus diesem Werke,
dem Grausen der römischen Jugend und der Verwunderung gebildeter
Schulmänner, mußte er nun Jahre lang Worte und Declinationen und
Conjugationen auswendig lernen, und mit dieser unverstandenen Gelehr-
samkeit Hefte über Hefte vollpfropfen, während er die Bedeutung der
Worte, die Anwendung der Conjugationen und Declinationen erst viel
später erfahren sollte.

Man hatte freilich andere Dinge zu thun in Rom als für das Unter-
richtswesen zu sorgen, soweit es nicht Dressur im grammatikalischen und
kirchlichen Katechismus war. Wozu die vielen Lehrmeister und die vielen
so leicht gefahrbringenden Denkübungen! Da construirte man lieber einen
obersten unfehlbaren Weltlehrmeister, dessen bald eingedrillte Sätze in
allen Dingen des Geistes leicht zu handhabendes Maß gaben. Wenn nur
die gläubige Menge seine Heilslehre auf den Knieen liegend hinnahm,
dann durfte sie die ungezählten Tage fröhlich sein, und in Lumpen gehen
und in Unwissenheit. Hoffen wir daß das neue Jtalien und seine jüngst
in Rom begonnene Arbeit im Schulwesen diesem erlahmten Stamme wieder
das systematisch unterdrückte Bewußtsein geistiger Selbstverantwortlichkeit
zurückgebe.

Ein französisches Buch über Deutschland.
( Schluß. )

K.S. Die Wintersaison begünstigt das Theater, das damals noch in
Weimar unter Dingelstedts Leitung stand. Nicht nur die Gediegenheit der
Stücke und das Geschick der Darsteller befriedigen Legrelle aufs höchste,
sondern vor allem das respectable Bürgerthum, welches mit einer Art von
ehrerbietigem Lerneifer der Vorstellung beiwohnt. Gerade hierin liegt
ein wesentlicher Unterschied zwischen deutscher und französischer Sitte, denn
in Paris ruht der Schwerpunkt des Theaters in der Geselligkeit und der
Sensation, nicht in der sittlichen bildenden Macht der Bühne. Selbst dem
Privatleben der Schauspieler theilt sich in kleinen strebsamen Städten
dieses fleißige bürgerliche Gepräge mit, denn der Nimbus des Scandals ist
nur ein Vorrecht der Weltstadt. Marquis Posa und Mephistopheles führen
ihre Kinder an der Hand durch den Park, kein Schauspieler trägt apricosen-
farbene Beinkleider auf der Promenade, keine Primadonna kutschirt im
Vierspänner bekannter Fürsten.

Die Achtung welche Legrelle vor unsern Zuständen hat, obgleich ihre
Kehrseite so oft die Enge ist, übertragen wir unwillkürlich auf ihn selbst;
ihm ist die Literatur ein Gräuel die sich nur mit „putrider Psychologie“
beschäftigt. Auch den Werth der neueren deutschen Autoren weiß der
französische Autor mit feinem Gefühl zu schätzen, und während er die
[Spaltenumbruch] besondern Vorzüge jedes Einzelnen richtig erfaßt, lobt er den Kern der
Reinheit und Tüchtigkeit als ihr gemeinsames Erbgut. Eine Poesie die
nur das Laster auf die Bühne bringt, und sich dabei der Hoffnung hingibt
daß durch diesen Anblick die Menschen gebessert werden, geht verfehlte
Wege; denn durch das castigat ridendo ist noch niemand geändert wor-
den. Sursum corda -- das ist die wahre Moral und die wahre Poesie,
durch welche Deutschland die Franzosen geistig überwunden hat. Die
Pietät, die aus diesen Worten Legrelle's spricht, wird in Weimar durch
hundertfältige Erinnerung genährt. Bekanntlich nennt Heinrich Heine
die Stadt den Wittwensitz der Musen, und knüpft daran seine frivolen
Spöttereien; Legrelle aber ist edler gegen dieses Wittwenleid, wenn man
es so nennen will; ihn macht die Ehrfurcht vor der Vergangenheit nicht
ungerecht wider die Gegenwart. Niemals baut er das Denkmal eines gro-
ßen Mannes aus den Trümmern auf in die er andere Größen zerrissen hat;
niemals ist seine Bewunderung grausam; kein Marsyas wird neben den
Apoll gestellt, und wo er Beifall gibt, geschieht es ohne zu nehmen, ohne
jene negativen Mittel die uns ernüchtern.

Von der schönen Literatur wirft Legrelle einen Blick auf die Litera-
tur des Tages, deren Mittelpunkt das Journalzimmer in Weimar ist.
Als Fremder wird er dort eingeführt, und mißtrauisch schauen die ehrwür-
digen Stammgäste ihn an, obwohl er leisen Schrittes hereintritt. Da
liegen Gartenlaube und Kladderadatsch, „ les feuilles volantes “ und
Westermanns Monatshefte; neben ihnen die ganze Fluth politischer Zeit-
schriften. Fast jede Nummer wird in treffender Weise charakterisirt, vom
Tagblättchen bis zur „Gazette de Croix;“ auch der „Allgemeinen Zeitung“
gönnt er besondere Achtsamkeit.

Wer ein Duzend Zeitungen gelesen, hat der ist verzeihlicher Weise in
der Laune zu politisiren, und daß Legrelle sich hiezu herbeiläßt, ist vielleicht
der einzige Schritt den er auf seinem schönen Wege zu bereuen hat.

Wir erinnern daran daß das Werk ( obwohl 1866 veröffentlicht ) doch
am Schlusse der fünfziger Jahre geschrieben wurde, und finden es demnach
begreiflich wenn wir zunächst einem Klagelied über die deutsche Klein-
staaterei begegnen. Jn keinem Punkte waren ja Frankreich und Deutsch-
land gründlicher verschieden. Ueber dem Rhein gab es nur Paris, und
das ganze Land war stets nur die Gallerie auf welcher die Bewohner als Zu-
schauer der Hauptstadt standen, mehr oder minder von der Claque unter-
mischt. Jn Deutschland aber gab es von jeder Sache sechsunddreißig
Varietäten; es gab Vaterländer die ein Morgennebel zudeckt, die man
nicht als einen Staat, sondern nur als eine Jdylle bezeichnen durfte. Und
wenn auch die Verehrung von geistigen und wirthschaftlichen Centren ihr
Gutes hatte, so hat sie doch die Gränzen ihrer Berechtigung in der Rich-
tung der Zeit, so streift sie doch so nahe an das Caricaturenhafte, daß wir
dem Talent gern einige Sarkasmen vergeben müssen.

Ah, quel luxe de géographie!“ ruft der entsetzte Franzose aus,
das Kind des Volkes dem Geographie von jeher eine Schwäche war!

Uns aber muß dann andrerseits auch die Frage gestattet sein: warum
der Verfasser so betroffen wird wenn er die ersten Schritte zur deutschen
Einheit betrachtet, warum so unmuthsvoll wenn er von den Bestrebungen
unseres Volkes spricht diesen Luxus zu vermindern? Es muß uns freistehen
hierin einen Mangel an Consequenz zu finden. Gern räumen wir es ein
daß auch die völkerrechtlichen Persönlichkeiten, d. h. die Nationen, ihre
Fehler haben, so gut wie das einzelne Jndividuum; allein wenn Frankreich
uns den Größenwahnsinn und die Leidenschaft alles zu besitzen zuschreibt,
dann hat es sicher unsere Fehler nach den eigenen abgemessen.

Was thun wir denn indem wir den deutschen Staat begründen, als
das was Frankreich im eigenen Hause that; was geben wir preis indem
wir die Kleinstaaterei beschränken, als das was Frankreich von jeher so
lächerlich oder schmachvoll fand? Und wenn es dennoch will daß wir da-
bei beharren, dann will es unsere Schmach, während es doch selber die
Ehre als das höchste Gut eines Volkes pflegt! Man möchte meinen daß
dieser Gedankengang einfach genug wäre, und dennoch begreift ihn nie-
mand im geistvollen Frankreich, dennoch hat selbst Prévost Paradol, der
edelste Mann den das neue Frankreich besaß, in seinem jüngsten Buche
zum Krieg geblasen! Jst das nicht eine pathologische Erscheinung, ist das
nicht partieller Wahnsinn? Frankreich selbst hat uns das Schwert in die
Hand gezwungen, um diesem Zustand, der unerträglich wurde, ein Ende
zu setzen. Wer den Gedanken nicht Folge gibt, der muß durch Thaten
berichtigt werden; wer sich den Gründen verschließt, für den bleibt nur
das fait accompli noch übrig. Von Frankreich ward diese Doctrin er-
funden, so mag es nun an seiner eigenen Lehre lernen.

Jm übrigen rühmen wir es Legrelle gerne nach daß er selbst hier sich
in würdevollen reflectiven Gränzen hält, und niemals in jenen Polterton
verfällt den seine Mitbürger für Patriotismus halten. Er ist ernstlich, ja
sogar sichtlich bemüht das Richtige zu finden; die vorzüglichen Eigenschaf-
ten welche den Menschen und den Schriftsteller auszeichnen, verlassen auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <floatingText>
          <body>
            <div type="jPoliticalNews">
              <div type="jArticle">
                <p><pb facs="#f0010" n="1086"/><cb/>
stadt Siciliens; sehr vielen war die Bevölkerungszahl Jtaliens unbekannt.<lb/>
Ueber die Geschichte ihres Vaterlandes war bei allen mit ganz wenigen Aus-<lb/>
nahmen dieselbe traurige Wissensöde gebreitet: Brutus war ihnen ein<lb/>
Tyrann, Dante ein französischer Dichter, Petrarca eine Dichterin; Colum-<lb/>
bus war nach dem einen ein Heiliger, nach dem andern gar ein Apostel<lb/>
gewesen.</p><lb/>
                <p>Die Kenntnisse in der Mathematik hätten streng genommen nur bei<lb/>
sehr wenigen zur Aufnahme in das Technikum hingereicht. Bloß die in<lb/>
israelitischen Schulen Erzogenen machten hier eine ehrenvolle Ausnahme.<lb/>
Bei den übrigen war das einfache Zusammenzählen so ziemlich der Höhe-<lb/>
punkt der Leistung; nach dem Dictat fünfzifferige Zahlen, wie z. B. 50,367,<lb/>
zu schreiben, war ohne langes Zögern, Verbessern und Addiren den meisten<lb/>
unmöglich.</p><lb/>
                <p>Es war eben das ganze bisherige System in Personen und in dem<lb/>
Gegenstand des Unterrichts verkehrt und unzeitgemäß. Die zwei größten<lb/>
Mißstände desselben lagen insbesondere in den ganz ungeeigneten Sub-<lb/>
jecten der Lehrenden und in dem völligen Mangel eines Elementarunter-<lb/>
richts. Jede Kutte war ja auch Mantel des Lehrers und Professors; jedes<lb/>
geistliche Jnstitut konnte sich im Augenblick in eine Erziehungsanstalt um-<lb/>
wandeln; jede kleine Gemeinde vermochte zu bewirken daß eine in ihrem<lb/>
Bann weilende geistliche Körperschaft -- man kann sich denken wie groß<lb/>
deren Befähigung hiezu war -- einen zum Besuch der Universität berech-<lb/>
tigenden, ja manche Universitätsvorlesungen ersetzenden Lehrcurs eröffnete;<lb/>
endlich wurden dem Laien welcher sich dem Jugendunterricht widmen wollte<lb/>
tausend Hindernisse von den geistlichen Monopolisten in den Weg gelegt.</p><lb/>
                <p>Ferner fehlte im Kirchenstaate die solide Basis eines Elementarunter-<lb/>
richts. Nur diejenigen welche weitere Studien zu machen beabsichtigten,<lb/>
wurden in den anderswo von der Volksschule allgemein gelehrten Kennt-<lb/>
nissen unterrichtet. Und selbst bei diesen fehlte eine die Jntelligenz all-<lb/>
mählich vorbereitende und heranreifende Aufstufung dieser frühesren Periode<lb/>
des Lernens; denn sobald der Schüler nothdürftig und auf die mechanischste<lb/>
Weise zum Lesenkönnen gebracht war, sobald er die Feder halten konnte,<lb/>
gieng es an ein Lateinlernen &#x201E;daß ihm der Kopf rauchte.&#x201C; Er ward als-<lb/>
bald in die &#x201E; <hi rendition="#aq">Janua Grammaticae</hi> &#x201C; hineingeschoben; aus diesem Werke,<lb/>
dem Grausen der römischen Jugend und der Verwunderung gebildeter<lb/>
Schulmänner, mußte er nun Jahre lang Worte und Declinationen und<lb/>
Conjugationen auswendig lernen, und mit dieser unverstandenen Gelehr-<lb/>
samkeit Hefte über Hefte vollpfropfen, während er die Bedeutung der<lb/>
Worte, die Anwendung der Conjugationen und Declinationen erst viel<lb/>
später erfahren sollte.</p><lb/>
                <p>Man hatte freilich andere Dinge zu thun in Rom als für das Unter-<lb/>
richtswesen zu sorgen, soweit es nicht Dressur im grammatikalischen und<lb/>
kirchlichen Katechismus war. Wozu die vielen Lehrmeister und die vielen<lb/>
so leicht gefahrbringenden Denkübungen! Da construirte man lieber einen<lb/>
obersten unfehlbaren Weltlehrmeister, dessen bald eingedrillte Sätze in<lb/>
allen Dingen des Geistes leicht zu handhabendes Maß gaben. Wenn nur<lb/>
die gläubige Menge seine Heilslehre auf den Knieen liegend hinnahm,<lb/>
dann durfte sie die ungezählten Tage fröhlich sein, und in Lumpen gehen<lb/>
und in Unwissenheit. Hoffen wir daß das neue Jtalien und seine jüngst<lb/>
in Rom begonnene Arbeit im Schulwesen diesem erlahmten Stamme wieder<lb/>
das systematisch unterdrückte Bewußtsein geistiger Selbstverantwortlichkeit<lb/>
zurückgebe.</p>
              </div>
            </div><lb/>
            <div type="jFeuilleton">
              <head> <hi rendition="#c">Ein französisches Buch über Deutschland.<lb/>
( Schluß. ) </hi> </head><lb/>
              <div type="jArticle">
                <p><hi rendition="#aq">K.S</hi>. Die Wintersaison begünstigt das Theater, das damals noch in<lb/>
Weimar unter Dingelstedts Leitung stand. Nicht nur die Gediegenheit der<lb/>
Stücke und das Geschick der Darsteller befriedigen Legrelle aufs höchste,<lb/>
sondern vor allem das respectable Bürgerthum, welches mit einer Art von<lb/>
ehrerbietigem Lerneifer der Vorstellung beiwohnt. Gerade hierin liegt<lb/>
ein wesentlicher Unterschied zwischen deutscher und französischer Sitte, denn<lb/>
in Paris ruht der Schwerpunkt des Theaters in der Geselligkeit und der<lb/>
Sensation, nicht in der sittlichen bildenden Macht der Bühne. Selbst dem<lb/>
Privatleben der Schauspieler theilt sich in kleinen strebsamen Städten<lb/>
dieses fleißige bürgerliche Gepräge mit, denn der Nimbus des Scandals ist<lb/>
nur ein Vorrecht der Weltstadt. Marquis Posa und Mephistopheles führen<lb/>
ihre Kinder an der Hand durch den Park, kein Schauspieler trägt apricosen-<lb/>
farbene Beinkleider auf der Promenade, keine Primadonna kutschirt im<lb/>
Vierspänner bekannter Fürsten.</p><lb/>
                <p>Die Achtung welche Legrelle vor unsern Zuständen hat, obgleich ihre<lb/>
Kehrseite so oft die Enge ist, übertragen wir unwillkürlich auf ihn selbst;<lb/>
ihm ist die Literatur ein Gräuel die sich nur mit &#x201E;putrider Psychologie&#x201C;<lb/>
beschäftigt. Auch den Werth der neueren deutschen Autoren weiß der<lb/>
französische Autor mit feinem Gefühl zu schätzen, und während er die<lb/><cb/>
besondern Vorzüge jedes Einzelnen richtig erfaßt, lobt er den Kern der<lb/>
Reinheit und Tüchtigkeit als ihr gemeinsames Erbgut. Eine Poesie die<lb/>
nur das Laster auf die Bühne bringt, und sich dabei der Hoffnung hingibt<lb/>
daß durch diesen Anblick die Menschen gebessert werden, geht verfehlte<lb/>
Wege; denn durch das <hi rendition="#aq">castigat ridendo</hi> ist noch niemand geändert wor-<lb/>
den. <hi rendition="#aq">Sursum corda</hi> -- das ist die wahre Moral und die wahre Poesie,<lb/>
durch welche Deutschland die Franzosen geistig überwunden hat. Die<lb/>
Pietät, die aus diesen Worten Legrelle's spricht, wird in Weimar durch<lb/>
hundertfältige Erinnerung genährt. Bekanntlich nennt Heinrich Heine<lb/>
die Stadt den Wittwensitz der Musen, und knüpft daran seine frivolen<lb/>
Spöttereien; Legrelle aber ist edler gegen dieses Wittwenleid, wenn man<lb/>
es so nennen will; ihn macht die Ehrfurcht vor der Vergangenheit nicht<lb/>
ungerecht wider die Gegenwart. Niemals baut er das Denkmal eines gro-<lb/>
ßen Mannes aus den Trümmern auf in die er andere Größen zerrissen hat;<lb/>
niemals ist seine Bewunderung grausam; kein Marsyas wird neben den<lb/>
Apoll gestellt, und wo er Beifall gibt, geschieht es ohne zu nehmen, ohne<lb/>
jene negativen Mittel die uns ernüchtern.</p><lb/>
                <p>Von der schönen Literatur wirft Legrelle einen Blick auf die Litera-<lb/>
tur des Tages, deren Mittelpunkt das Journalzimmer in Weimar ist.<lb/>
Als Fremder wird er dort eingeführt, und mißtrauisch schauen die ehrwür-<lb/>
digen Stammgäste ihn an, obwohl er leisen Schrittes hereintritt. Da<lb/>
liegen Gartenlaube und Kladderadatsch, &#x201E; <hi rendition="#aq">les feuilles volantes</hi> &#x201C; und<lb/>
Westermanns Monatshefte; neben ihnen die ganze Fluth politischer Zeit-<lb/>
schriften. Fast jede Nummer wird in treffender Weise charakterisirt, vom<lb/>
Tagblättchen bis zur &#x201E;Gazette de Croix;&#x201C; auch der &#x201E;Allgemeinen Zeitung&#x201C;<lb/>
gönnt er besondere Achtsamkeit.</p><lb/>
                <p>Wer ein Duzend Zeitungen gelesen, hat der ist verzeihlicher Weise in<lb/>
der Laune zu politisiren, und daß Legrelle sich hiezu herbeiläßt, ist vielleicht<lb/>
der einzige Schritt den er auf seinem schönen Wege zu bereuen hat.</p><lb/>
                <p>Wir erinnern daran daß das Werk ( obwohl 1866 veröffentlicht ) doch<lb/>
am Schlusse der fünfziger Jahre geschrieben wurde, und finden es demnach<lb/>
begreiflich wenn wir zunächst einem Klagelied über die deutsche Klein-<lb/>
staaterei begegnen. Jn keinem Punkte waren ja Frankreich und Deutsch-<lb/>
land gründlicher verschieden. Ueber dem Rhein gab es nur Paris, und<lb/>
das ganze Land war stets nur die Gallerie auf welcher die Bewohner als Zu-<lb/>
schauer der Hauptstadt standen, mehr oder minder von der Claque unter-<lb/>
mischt. Jn Deutschland aber gab es von jeder Sache sechsunddreißig<lb/>
Varietäten; es gab Vaterländer die ein Morgennebel zudeckt, die man<lb/>
nicht als einen Staat, sondern nur als eine Jdylle bezeichnen durfte. Und<lb/>
wenn auch die Verehrung von geistigen und wirthschaftlichen Centren ihr<lb/>
Gutes hatte, so hat sie doch die Gränzen ihrer Berechtigung in der Rich-<lb/>
tung der Zeit, so streift sie doch so nahe an das Caricaturenhafte, daß wir<lb/>
dem Talent gern einige Sarkasmen vergeben müssen.</p><lb/>
                <p>&#x201E; <hi rendition="#aq">Ah, quel luxe de géographie</hi>!&#x201C; ruft der entsetzte Franzose aus,<lb/>
das Kind des Volkes dem Geographie von jeher eine Schwäche war!</p><lb/>
                <p>Uns aber muß dann andrerseits auch die Frage gestattet sein: warum<lb/>
der Verfasser so betroffen wird wenn er die ersten Schritte zur deutschen<lb/>
Einheit betrachtet, warum so unmuthsvoll wenn er von den Bestrebungen<lb/>
unseres Volkes spricht diesen Luxus zu vermindern? Es muß uns freistehen<lb/>
hierin einen Mangel an Consequenz zu finden. Gern räumen wir es ein<lb/>
daß auch die völkerrechtlichen Persönlichkeiten, d. h. die Nationen, ihre<lb/>
Fehler haben, so gut wie das einzelne Jndividuum; allein wenn Frankreich<lb/>
uns den Größenwahnsinn und die Leidenschaft alles zu besitzen zuschreibt,<lb/>
dann hat es sicher unsere Fehler nach den eigenen abgemessen.</p><lb/>
                <p>Was thun wir denn indem wir den deutschen Staat begründen, als<lb/>
das was Frankreich im eigenen Hause that; was geben wir preis indem<lb/>
wir die Kleinstaaterei beschränken, als das was Frankreich von jeher so<lb/>
lächerlich oder schmachvoll fand? Und wenn es dennoch will daß wir da-<lb/>
bei beharren, dann will es unsere Schmach, während es doch selber die<lb/>
Ehre als das höchste Gut eines Volkes pflegt! Man möchte meinen daß<lb/>
dieser Gedankengang einfach genug wäre, und dennoch begreift ihn nie-<lb/>
mand im geistvollen Frankreich, dennoch hat selbst Pr<hi rendition="#aq">é</hi>vost Paradol, der<lb/>
edelste Mann den das neue Frankreich besaß, in seinem jüngsten Buche<lb/>
zum Krieg geblasen! Jst das nicht eine pathologische Erscheinung, ist das<lb/>
nicht partieller Wahnsinn? Frankreich selbst hat uns das Schwert in die<lb/>
Hand gezwungen, um diesem Zustand, der unerträglich wurde, ein Ende<lb/>
zu setzen. Wer den Gedanken nicht Folge gibt, der muß durch Thaten<lb/>
berichtigt werden; wer sich den Gründen verschließt, für den bleibt nur<lb/>
das <hi rendition="#aq">fait accompli</hi> noch übrig. Von Frankreich ward diese Doctrin er-<lb/>
funden, so mag es nun an seiner eigenen Lehre lernen.</p><lb/>
                <p>Jm übrigen rühmen wir es Legrelle gerne nach daß er selbst hier sich<lb/>
in würdevollen reflectiven Gränzen hält, und niemals in jenen Polterton<lb/>
verfällt den seine Mitbürger für Patriotismus halten. Er ist ernstlich, ja<lb/>
sogar sichtlich bemüht das Richtige zu finden; die vorzüglichen Eigenschaf-<lb/>
ten welche den Menschen und den Schriftsteller auszeichnen, verlassen auch<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </body>
        </floatingText>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1086/0010] stadt Siciliens; sehr vielen war die Bevölkerungszahl Jtaliens unbekannt. Ueber die Geschichte ihres Vaterlandes war bei allen mit ganz wenigen Aus- nahmen dieselbe traurige Wissensöde gebreitet: Brutus war ihnen ein Tyrann, Dante ein französischer Dichter, Petrarca eine Dichterin; Colum- bus war nach dem einen ein Heiliger, nach dem andern gar ein Apostel gewesen. Die Kenntnisse in der Mathematik hätten streng genommen nur bei sehr wenigen zur Aufnahme in das Technikum hingereicht. Bloß die in israelitischen Schulen Erzogenen machten hier eine ehrenvolle Ausnahme. Bei den übrigen war das einfache Zusammenzählen so ziemlich der Höhe- punkt der Leistung; nach dem Dictat fünfzifferige Zahlen, wie z. B. 50,367, zu schreiben, war ohne langes Zögern, Verbessern und Addiren den meisten unmöglich. Es war eben das ganze bisherige System in Personen und in dem Gegenstand des Unterrichts verkehrt und unzeitgemäß. Die zwei größten Mißstände desselben lagen insbesondere in den ganz ungeeigneten Sub- jecten der Lehrenden und in dem völligen Mangel eines Elementarunter- richts. Jede Kutte war ja auch Mantel des Lehrers und Professors; jedes geistliche Jnstitut konnte sich im Augenblick in eine Erziehungsanstalt um- wandeln; jede kleine Gemeinde vermochte zu bewirken daß eine in ihrem Bann weilende geistliche Körperschaft -- man kann sich denken wie groß deren Befähigung hiezu war -- einen zum Besuch der Universität berech- tigenden, ja manche Universitätsvorlesungen ersetzenden Lehrcurs eröffnete; endlich wurden dem Laien welcher sich dem Jugendunterricht widmen wollte tausend Hindernisse von den geistlichen Monopolisten in den Weg gelegt. Ferner fehlte im Kirchenstaate die solide Basis eines Elementarunter- richts. Nur diejenigen welche weitere Studien zu machen beabsichtigten, wurden in den anderswo von der Volksschule allgemein gelehrten Kennt- nissen unterrichtet. Und selbst bei diesen fehlte eine die Jntelligenz all- mählich vorbereitende und heranreifende Aufstufung dieser frühesren Periode des Lernens; denn sobald der Schüler nothdürftig und auf die mechanischste Weise zum Lesenkönnen gebracht war, sobald er die Feder halten konnte, gieng es an ein Lateinlernen „daß ihm der Kopf rauchte.“ Er ward als- bald in die „ Janua Grammaticae “ hineingeschoben; aus diesem Werke, dem Grausen der römischen Jugend und der Verwunderung gebildeter Schulmänner, mußte er nun Jahre lang Worte und Declinationen und Conjugationen auswendig lernen, und mit dieser unverstandenen Gelehr- samkeit Hefte über Hefte vollpfropfen, während er die Bedeutung der Worte, die Anwendung der Conjugationen und Declinationen erst viel später erfahren sollte. Man hatte freilich andere Dinge zu thun in Rom als für das Unter- richtswesen zu sorgen, soweit es nicht Dressur im grammatikalischen und kirchlichen Katechismus war. Wozu die vielen Lehrmeister und die vielen so leicht gefahrbringenden Denkübungen! Da construirte man lieber einen obersten unfehlbaren Weltlehrmeister, dessen bald eingedrillte Sätze in allen Dingen des Geistes leicht zu handhabendes Maß gaben. Wenn nur die gläubige Menge seine Heilslehre auf den Knieen liegend hinnahm, dann durfte sie die ungezählten Tage fröhlich sein, und in Lumpen gehen und in Unwissenheit. Hoffen wir daß das neue Jtalien und seine jüngst in Rom begonnene Arbeit im Schulwesen diesem erlahmten Stamme wieder das systematisch unterdrückte Bewußtsein geistiger Selbstverantwortlichkeit zurückgebe. Ein französisches Buch über Deutschland. ( Schluß. ) K.S. Die Wintersaison begünstigt das Theater, das damals noch in Weimar unter Dingelstedts Leitung stand. Nicht nur die Gediegenheit der Stücke und das Geschick der Darsteller befriedigen Legrelle aufs höchste, sondern vor allem das respectable Bürgerthum, welches mit einer Art von ehrerbietigem Lerneifer der Vorstellung beiwohnt. Gerade hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen deutscher und französischer Sitte, denn in Paris ruht der Schwerpunkt des Theaters in der Geselligkeit und der Sensation, nicht in der sittlichen bildenden Macht der Bühne. Selbst dem Privatleben der Schauspieler theilt sich in kleinen strebsamen Städten dieses fleißige bürgerliche Gepräge mit, denn der Nimbus des Scandals ist nur ein Vorrecht der Weltstadt. Marquis Posa und Mephistopheles führen ihre Kinder an der Hand durch den Park, kein Schauspieler trägt apricosen- farbene Beinkleider auf der Promenade, keine Primadonna kutschirt im Vierspänner bekannter Fürsten. Die Achtung welche Legrelle vor unsern Zuständen hat, obgleich ihre Kehrseite so oft die Enge ist, übertragen wir unwillkürlich auf ihn selbst; ihm ist die Literatur ein Gräuel die sich nur mit „putrider Psychologie“ beschäftigt. Auch den Werth der neueren deutschen Autoren weiß der französische Autor mit feinem Gefühl zu schätzen, und während er die besondern Vorzüge jedes Einzelnen richtig erfaßt, lobt er den Kern der Reinheit und Tüchtigkeit als ihr gemeinsames Erbgut. Eine Poesie die nur das Laster auf die Bühne bringt, und sich dabei der Hoffnung hingibt daß durch diesen Anblick die Menschen gebessert werden, geht verfehlte Wege; denn durch das castigat ridendo ist noch niemand geändert wor- den. Sursum corda -- das ist die wahre Moral und die wahre Poesie, durch welche Deutschland die Franzosen geistig überwunden hat. Die Pietät, die aus diesen Worten Legrelle's spricht, wird in Weimar durch hundertfältige Erinnerung genährt. Bekanntlich nennt Heinrich Heine die Stadt den Wittwensitz der Musen, und knüpft daran seine frivolen Spöttereien; Legrelle aber ist edler gegen dieses Wittwenleid, wenn man es so nennen will; ihn macht die Ehrfurcht vor der Vergangenheit nicht ungerecht wider die Gegenwart. Niemals baut er das Denkmal eines gro- ßen Mannes aus den Trümmern auf in die er andere Größen zerrissen hat; niemals ist seine Bewunderung grausam; kein Marsyas wird neben den Apoll gestellt, und wo er Beifall gibt, geschieht es ohne zu nehmen, ohne jene negativen Mittel die uns ernüchtern. Von der schönen Literatur wirft Legrelle einen Blick auf die Litera- tur des Tages, deren Mittelpunkt das Journalzimmer in Weimar ist. Als Fremder wird er dort eingeführt, und mißtrauisch schauen die ehrwür- digen Stammgäste ihn an, obwohl er leisen Schrittes hereintritt. Da liegen Gartenlaube und Kladderadatsch, „ les feuilles volantes “ und Westermanns Monatshefte; neben ihnen die ganze Fluth politischer Zeit- schriften. Fast jede Nummer wird in treffender Weise charakterisirt, vom Tagblättchen bis zur „Gazette de Croix;“ auch der „Allgemeinen Zeitung“ gönnt er besondere Achtsamkeit. Wer ein Duzend Zeitungen gelesen, hat der ist verzeihlicher Weise in der Laune zu politisiren, und daß Legrelle sich hiezu herbeiläßt, ist vielleicht der einzige Schritt den er auf seinem schönen Wege zu bereuen hat. Wir erinnern daran daß das Werk ( obwohl 1866 veröffentlicht ) doch am Schlusse der fünfziger Jahre geschrieben wurde, und finden es demnach begreiflich wenn wir zunächst einem Klagelied über die deutsche Klein- staaterei begegnen. Jn keinem Punkte waren ja Frankreich und Deutsch- land gründlicher verschieden. Ueber dem Rhein gab es nur Paris, und das ganze Land war stets nur die Gallerie auf welcher die Bewohner als Zu- schauer der Hauptstadt standen, mehr oder minder von der Claque unter- mischt. Jn Deutschland aber gab es von jeder Sache sechsunddreißig Varietäten; es gab Vaterländer die ein Morgennebel zudeckt, die man nicht als einen Staat, sondern nur als eine Jdylle bezeichnen durfte. Und wenn auch die Verehrung von geistigen und wirthschaftlichen Centren ihr Gutes hatte, so hat sie doch die Gränzen ihrer Berechtigung in der Rich- tung der Zeit, so streift sie doch so nahe an das Caricaturenhafte, daß wir dem Talent gern einige Sarkasmen vergeben müssen. „ Ah, quel luxe de géographie!“ ruft der entsetzte Franzose aus, das Kind des Volkes dem Geographie von jeher eine Schwäche war! Uns aber muß dann andrerseits auch die Frage gestattet sein: warum der Verfasser so betroffen wird wenn er die ersten Schritte zur deutschen Einheit betrachtet, warum so unmuthsvoll wenn er von den Bestrebungen unseres Volkes spricht diesen Luxus zu vermindern? Es muß uns freistehen hierin einen Mangel an Consequenz zu finden. Gern räumen wir es ein daß auch die völkerrechtlichen Persönlichkeiten, d. h. die Nationen, ihre Fehler haben, so gut wie das einzelne Jndividuum; allein wenn Frankreich uns den Größenwahnsinn und die Leidenschaft alles zu besitzen zuschreibt, dann hat es sicher unsere Fehler nach den eigenen abgemessen. Was thun wir denn indem wir den deutschen Staat begründen, als das was Frankreich im eigenen Hause that; was geben wir preis indem wir die Kleinstaaterei beschränken, als das was Frankreich von jeher so lächerlich oder schmachvoll fand? Und wenn es dennoch will daß wir da- bei beharren, dann will es unsere Schmach, während es doch selber die Ehre als das höchste Gut eines Volkes pflegt! Man möchte meinen daß dieser Gedankengang einfach genug wäre, und dennoch begreift ihn nie- mand im geistvollen Frankreich, dennoch hat selbst Prévost Paradol, der edelste Mann den das neue Frankreich besaß, in seinem jüngsten Buche zum Krieg geblasen! Jst das nicht eine pathologische Erscheinung, ist das nicht partieller Wahnsinn? Frankreich selbst hat uns das Schwert in die Hand gezwungen, um diesem Zustand, der unerträglich wurde, ein Ende zu setzen. Wer den Gedanken nicht Folge gibt, der muß durch Thaten berichtigt werden; wer sich den Gründen verschließt, für den bleibt nur das fait accompli noch übrig. Von Frankreich ward diese Doctrin er- funden, so mag es nun an seiner eigenen Lehre lernen. Jm übrigen rühmen wir es Legrelle gerne nach daß er selbst hier sich in würdevollen reflectiven Gränzen hält, und niemals in jenen Polterton verfällt den seine Mitbürger für Patriotismus halten. Er ist ernstlich, ja sogar sichtlich bemüht das Richtige zu finden; die vorzüglichen Eigenschaf- ten welche den Menschen und den Schriftsteller auszeichnen, verlassen auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und TEI Transkription
Peter Fankhauser: Transformation von TUSTEP nach TEI P5. Transformation von TEI P5 in das DTA TEI P5 Format.

Weitere Informationen:

Die Transkription erfolgte manuell im Double-Keying-Verfahren. Die Annotation folgt den formulierten Richtlinien.

Besonderheiten der Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen.
  • Druckfehler: ignoriert.
  • fremdsprachliches Material: nur Fremdskripte gekennzeichnet.
  • Kolumnentitel: nicht übernommen.
  • Kustoden: nicht übernommen.
  • langes s (?): in Frakturschrift als s transkribiert, in Antiquaschrift beibehalten.
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert.
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert.
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst.
  • Zeichensetzung: DTABf-getreu.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg64_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg64_1871/10
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 64. Augsburg (Bayern), 5. März 1871, S. 1086. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg64_1871/10>, abgerufen am 24.11.2024.