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[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852.

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was man nicht versteht, was da ist und was nicht ist,
was sein kann und was nicht sein kann, eine Sprache, mit
der man schwarz aus weiß, wahr aus unwahr, gut aus
schlecht machen kann, je nachdem man's gerade nimmt. Das
"reine Denken" ist eine reine Sprache geworden, eine
Sprache, welche nirgends in's Leben paßt, weil sie nicht aus
dem Leben entstanden ist, und gegen welche sich der gesunde
Menschenverstand ebenso sehr als das sittliche Gefühl auf-
lehnen muß. Denn was soll der gesunde Menschenverstand
dazu sagen, wenn er sieht, daß die Philosophie den breiten
Boden der Thatsachen, auf welchem jeder nicht betrunkene
Mensch sehr bequem und sicher gehen kann, als eine un-
brauchbare Bahn behandelt und ihm zumuthet, der schmalen
Linie des reinen Denkens den Vorzug zu geben, auf welchem
sie, mit der Balancirstange einer subtilen Dialektik bewaffnet,
ihm in herzbrechenden Krümmungen und Windungen eine
Reihe von Seiltänzerkünsten vorgaukelt? Und was soll das
sittliche Gefühl dazu sagen, wenn die Philosophie es für
mundtodt erklärt, und behauptet, daß Nichts als existirend
anerkannt werden dürfe, Nichts zum Fortleben berechtigt sein
könne, was nicht aus der Kraft des Begriffes seinen Ur-
sprung abzuleiten vermöge? Jst es denn nicht offenbar, daß
man auf dem Wege des reinen Denkens ebenso gut Pflaster-
steine entdecken könnte, als sittliche Empfindungen, und daß
eine Wissenschaft, welche Nichts anerkennen will, was sie nicht
auf dem Wege des reinen Denkens gefunden hat, schon längst
sogar die Existenz der Pflastersteine geläugnet haben würde,
wenn diese nicht glücklicher Weise so greifbarer Natur wären?

Eine Bildung, welche einer derartigen Philosophie
das Leben geben konnte und dieselbe mit allen ihren Ver-

was man nicht verſteht, was da iſt und was nicht iſt,
was ſein kann und was nicht ſein kann, eine Sprache, mit
der man ſchwarz aus weiß, wahr aus unwahr, gut aus
ſchlecht machen kann, je nachdem man’s gerade nimmt. Das
„reine Denken“ iſt eine reine Sprache geworden, eine
Sprache, welche nirgends in’s Leben paßt, weil ſie nicht aus
dem Leben entſtanden iſt, und gegen welche ſich der geſunde
Menſchenverſtand ebenſo ſehr als das ſittliche Gefühl auf-
lehnen muß. Denn was ſoll der geſunde Menſchenverſtand
dazu ſagen, wenn er ſieht, daß die Philoſophie den breiten
Boden der Thatſachen, auf welchem jeder nicht betrunkene
Menſch ſehr bequem und ſicher gehen kann, als eine un-
brauchbare Bahn behandelt und ihm zumuthet, der ſchmalen
Linie des reinen Denkens den Vorzug zu geben, auf welchem
ſie, mit der Balancirſtange einer ſubtilen Dialektik bewaffnet,
ihm in herzbrechenden Krümmungen und Windungen eine
Reihe von Seiltänzerkünſten vorgaukelt? Und was ſoll das
ſittliche Gefühl dazu ſagen, wenn die Philoſophie es für
mundtodt erklärt, und behauptet, daß Nichts als exiſtirend
anerkannt werden dürfe, Nichts zum Fortleben berechtigt ſein
könne, was nicht aus der Kraft des Begriffes ſeinen Ur-
ſprung abzuleiten vermöge? Jſt es denn nicht offenbar, daß
man auf dem Wege des reinen Denkens ebenſo gut Pflaſter-
ſteine entdecken könnte, als ſittliche Empfindungen, und daß
eine Wiſſenſchaft, welche Nichts anerkennen will, was ſie nicht
auf dem Wege des reinen Denkens gefunden hat, ſchon längſt
ſogar die Exiſtenz der Pflaſterſteine geläugnet haben würde,
wenn dieſe nicht glücklicher Weiſe ſo greifbarer Natur wären?

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das Leben geben konnte und dieſelbe mit allen ihren Ver-

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[58/0064] was man nicht verſteht, was da iſt und was nicht iſt, was ſein kann und was nicht ſein kann, eine Sprache, mit der man ſchwarz aus weiß, wahr aus unwahr, gut aus ſchlecht machen kann, je nachdem man’s gerade nimmt. Das „reine Denken“ iſt eine reine Sprache geworden, eine Sprache, welche nirgends in’s Leben paßt, weil ſie nicht aus dem Leben entſtanden iſt, und gegen welche ſich der geſunde Menſchenverſtand ebenſo ſehr als das ſittliche Gefühl auf- lehnen muß. Denn was ſoll der geſunde Menſchenverſtand dazu ſagen, wenn er ſieht, daß die Philoſophie den breiten Boden der Thatſachen, auf welchem jeder nicht betrunkene Menſch ſehr bequem und ſicher gehen kann, als eine un- brauchbare Bahn behandelt und ihm zumuthet, der ſchmalen Linie des reinen Denkens den Vorzug zu geben, auf welchem ſie, mit der Balancirſtange einer ſubtilen Dialektik bewaffnet, ihm in herzbrechenden Krümmungen und Windungen eine Reihe von Seiltänzerkünſten vorgaukelt? Und was ſoll das ſittliche Gefühl dazu ſagen, wenn die Philoſophie es für mundtodt erklärt, und behauptet, daß Nichts als exiſtirend anerkannt werden dürfe, Nichts zum Fortleben berechtigt ſein könne, was nicht aus der Kraft des Begriffes ſeinen Ur- ſprung abzuleiten vermöge? Jſt es denn nicht offenbar, daß man auf dem Wege des reinen Denkens ebenſo gut Pflaſter- ſteine entdecken könnte, als ſittliche Empfindungen, und daß eine Wiſſenſchaft, welche Nichts anerkennen will, was ſie nicht auf dem Wege des reinen Denkens gefunden hat, ſchon längſt ſogar die Exiſtenz der Pflaſterſteine geläugnet haben würde, wenn dieſe nicht glücklicher Weiſe ſo greifbarer Natur wären? Eine Bildung, welche einer derartigen Philoſophie das Leben geben konnte und dieſelbe mit allen ihren Ver-

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Zitationshilfe: [N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/64>, abgerufen am 27.11.2024.