[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852.freien Denken erzeugen? Das vermag sie ja so wenig, als Und wie weit seid ihr denn bisher in eurem formalen freien Denken erzeugen? Das vermag ſie ja ſo wenig, als Und wie weit ſeid ihr denn bisher in eurem formalen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0060" n="54"/> freien Denken erzeugen? Das vermag ſie ja ſo wenig, als<lb/> ſie dem Blindgeborenen ein Bild von der Farbenpracht und<lb/> dem Taubgeborenen eine Vorſtellung von dem Reiche der<lb/> Töne geben kann. Sie vermag über dieſe ſittlichen Erfah-<lb/> rungen nur das, was ſie auch über die ſinnlichen vermag,<lb/> nämlich ſie da, wo ſie bereits als ein Gegebenes vorhanden<lb/> ſind, nach ihrer Entſtehung und nach ihren Wirkungen zu<lb/> vergleichen und aus dieſem Ergebniß Schlüſſe zu ziehen, da<lb/> aber, wo dieſelben noch nicht vorhanden ſind, vermag ſie nichts,<lb/> als ſie zu ignoriren oder von ihnen zu ſprechen wie der<lb/> Blinde von den Farben. Was iſt nun unter ſolchen Um-<lb/> ſtänden zu erwarten, wenn wir eine neue Grundlage für<lb/> unſere „ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glaubenszuſtände“<lb/> blos durch die Kraft des Begriffes ſuchen? Unſere <hi rendition="#g">ſinn-<lb/> lichen</hi> Bedürfniſſe werden dabei ſchwerlich vergeſſen werden,<lb/> aber nicht weil die Kraft des Begriffes die ſinnlichen Er-<lb/> fahrungen zu erſetzen vermöchte, ſondern nur, weil dieſelben<lb/> uns von allen Seiten her ſo <hi rendition="#g">handgreiflich</hi> an ihr Da-<lb/> ſein mahnen, daß auch der allereinſeitigſte Denker ſchwerlich<lb/> in Verſuchung kommen wird, Hunger und Durſt durch die<lb/> Kraft ſeines Begriffes ſtillen zu wollen. Aber unſere <hi rendition="#g">ſitt-<lb/> lichen</hi> Bedürfniſſe werden dabei leer ausgehen, zumal in<lb/> einer Zeit, welche in ſinnlichen und geiſtigen Genüſſen ſo<lb/> verſunken iſt, daß bei Unzähligen das Bewußtſein ihrer ſitt-<lb/> lichen Natur ganz erloſchen, bei unzähligen Anderen wenig-<lb/> ſtens bis zu einem Grade geſchwächt iſt, bei welchem uns die<lb/> Sache ſelbſt gar nicht mehr im rechten Lichte und in ihrer<lb/> wahren Bedeutung erſcheinen kann.</p><lb/> <p>Und <hi rendition="#g">wie weit</hi> ſeid ihr denn bisher in eurem formalen<lb/> Geſchäfte durch die Kraft des Begriffes gelangt? Habt ihr<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [54/0060]
freien Denken erzeugen? Das vermag ſie ja ſo wenig, als
ſie dem Blindgeborenen ein Bild von der Farbenpracht und
dem Taubgeborenen eine Vorſtellung von dem Reiche der
Töne geben kann. Sie vermag über dieſe ſittlichen Erfah-
rungen nur das, was ſie auch über die ſinnlichen vermag,
nämlich ſie da, wo ſie bereits als ein Gegebenes vorhanden
ſind, nach ihrer Entſtehung und nach ihren Wirkungen zu
vergleichen und aus dieſem Ergebniß Schlüſſe zu ziehen, da
aber, wo dieſelben noch nicht vorhanden ſind, vermag ſie nichts,
als ſie zu ignoriren oder von ihnen zu ſprechen wie der
Blinde von den Farben. Was iſt nun unter ſolchen Um-
ſtänden zu erwarten, wenn wir eine neue Grundlage für
unſere „ſtaatlichen, geſellſchaftlichen und Glaubenszuſtände“
blos durch die Kraft des Begriffes ſuchen? Unſere ſinn-
lichen Bedürfniſſe werden dabei ſchwerlich vergeſſen werden,
aber nicht weil die Kraft des Begriffes die ſinnlichen Er-
fahrungen zu erſetzen vermöchte, ſondern nur, weil dieſelben
uns von allen Seiten her ſo handgreiflich an ihr Da-
ſein mahnen, daß auch der allereinſeitigſte Denker ſchwerlich
in Verſuchung kommen wird, Hunger und Durſt durch die
Kraft ſeines Begriffes ſtillen zu wollen. Aber unſere ſitt-
lichen Bedürfniſſe werden dabei leer ausgehen, zumal in
einer Zeit, welche in ſinnlichen und geiſtigen Genüſſen ſo
verſunken iſt, daß bei Unzähligen das Bewußtſein ihrer ſitt-
lichen Natur ganz erloſchen, bei unzähligen Anderen wenig-
ſtens bis zu einem Grade geſchwächt iſt, bei welchem uns die
Sache ſelbſt gar nicht mehr im rechten Lichte und in ihrer
wahren Bedeutung erſcheinen kann.
Und wie weit ſeid ihr denn bisher in eurem formalen
Geſchäfte durch die Kraft des Begriffes gelangt? Habt ihr
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/60 |
Zitationshilfe: | [N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/60>, abgerufen am 16.02.2025. |