gut. Allein wie kömmt es, daß trotz allem Religionsunter- richt in Schulen und Kirchen, trotz der unendlichen Verbrei- tung von Bibeln, Katechismen und religiösen Schriften aller Art, und trotz der durch die allgemeine Betheiligung am Schulunterricht jetzt so weit verbreiteten Befähigung zum Lesen und Verstehen dieser Schriften gerade jetzt die Religion in so wenigen Gemüthern tiefere Wurzeln schlagen will? Auf welcher Vorbedingung in uns selbst beruht denn wohl das gläubige Erfassen der religiösen Wahrheiten und zu allernächst das Erfassen der Grundlage aller Religion, des Glaubens an eine höhere über uns waltende sittliche Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorsam schuldig sind? Beruht dieser Glaube etwa auf unserem Verstande, auf der Ent- wicklung unseres Denkvermögens? Wenn das der Fall wäre, so müßte gerade jetzt, wo so Vieles für Entwickelung des Denkvermögens geschieht, dieser Glaube sehr allgemein sein, oder er müßte sich wenigstens bei den Befähigteren, bei den im Denken Geübteren leichter begründen lassen. Nun zeigt sich aber, daß unter den schärfsten Denkern, un- ter den Gebildetsten und Gelehrtesten Ungläubige sich finden neben den Gläubigen, und daß bei sehr geringen Geistes- gaben und bei einer äußerst dürftigen Ausbildung des Gei- stes nicht selten eine Festigkeit des Glaubens und ein Ver- trauen auf Gott sich findet, welches durch keine Drohung eingeschüchtert, durch keine Sophismen beirrt, durch keine Lockungen verführt wird. Also setzt doch wohl der Glaube noch etwas Anderes voraus, als Belehrung und Verständniß derselben, und es ist daher die Klarheit des Denkens, welche ohne Zweifel nöthig ist zu einer richtigen und deutlichen Auffassung der einzelnen Glaubenslehren, ohne Einfluß auf
gut. Allein wie kömmt es, daß trotz allem Religionsunter- richt in Schulen und Kirchen, trotz der unendlichen Verbrei- tung von Bibeln, Katechismen und religiöſen Schriften aller Art, und trotz der durch die allgemeine Betheiligung am Schulunterricht jetzt ſo weit verbreiteten Befähigung zum Leſen und Verſtehen dieſer Schriften gerade jetzt die Religion in ſo wenigen Gemüthern tiefere Wurzeln ſchlagen will? Auf welcher Vorbedingung in uns ſelbſt beruht denn wohl das gläubige Erfaſſen der religiöſen Wahrheiten und zu allernächſt das Erfaſſen der Grundlage aller Religion, des Glaubens an eine höhere über uns waltende ſittliche Macht, welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind? Beruht dieſer Glaube etwa auf unſerem Verſtande, auf der Ent- wicklung unſeres Denkvermögens? Wenn das der Fall wäre, ſo müßte gerade jetzt, wo ſo Vieles für Entwickelung des Denkvermögens geſchieht, dieſer Glaube ſehr allgemein ſein, oder er müßte ſich wenigſtens bei den Befähigteren, bei den im Denken Geübteren leichter begründen laſſen. Nun zeigt ſich aber, daß unter den ſchärfſten Denkern, un- ter den Gebildetſten und Gelehrteſten Ungläubige ſich finden neben den Gläubigen, und daß bei ſehr geringen Geiſtes- gaben und bei einer äußerſt dürftigen Ausbildung des Gei- ſtes nicht ſelten eine Feſtigkeit des Glaubens und ein Ver- trauen auf Gott ſich findet, welches durch keine Drohung eingeſchüchtert, durch keine Sophismen beirrt, durch keine Lockungen verführt wird. Alſo ſetzt doch wohl der Glaube noch etwas Anderes voraus, als Belehrung und Verſtändniß derſelben, und es iſt daher die Klarheit des Denkens, welche ohne Zweifel nöthig iſt zu einer richtigen und deutlichen Auffaſſung der einzelnen Glaubenslehren, ohne Einfluß auf
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gut. Allein wie kömmt es, daß trotz allem Religionsunter-
richt in Schulen und Kirchen, trotz der unendlichen Verbrei-
tung von Bibeln, Katechismen und religiöſen Schriften aller
Art, und trotz der durch die allgemeine Betheiligung am
Schulunterricht jetzt ſo weit verbreiteten Befähigung zum
Leſen und Verſtehen dieſer Schriften gerade jetzt die Religion
in ſo wenigen Gemüthern tiefere Wurzeln ſchlagen will?
Auf welcher Vorbedingung in uns ſelbſt beruht denn wohl
das gläubige Erfaſſen der religiöſen Wahrheiten und zu
allernächſt das Erfaſſen der Grundlage aller Religion, des
Glaubens an eine höhere über uns waltende ſittliche Macht,
welcher wir Ehrfurcht und Gehorſam ſchuldig ſind? Beruht
dieſer Glaube etwa auf unſerem Verſtande, auf der Ent-
wicklung unſeres Denkvermögens? Wenn das der Fall
wäre, ſo müßte gerade jetzt, wo ſo Vieles für Entwickelung
des Denkvermögens geſchieht, dieſer Glaube ſehr allgemein
ſein, oder er müßte ſich wenigſtens bei den Befähigteren,
bei den im Denken Geübteren leichter begründen laſſen.
Nun zeigt ſich aber, daß unter den ſchärfſten Denkern, un-
ter den Gebildetſten und Gelehrteſten Ungläubige ſich finden
neben den Gläubigen, und daß bei ſehr geringen Geiſtes-
gaben und bei einer äußerſt dürftigen Ausbildung des Gei-
ſtes nicht ſelten eine Feſtigkeit des Glaubens und ein Ver-
trauen auf Gott ſich findet, welches durch keine Drohung
eingeſchüchtert, durch keine Sophismen beirrt, durch keine
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noch etwas Anderes voraus, als Belehrung und Verſtändniß
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ohne Zweifel nöthig iſt zu einer richtigen und deutlichen
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[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/31>, abgerufen am 16.02.2025.
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