Allgemeine Zeitung, Nr. 89, 1. April 1900.München, Sonntag Allgemeine Zeitung 1. April 1900. Nr. 89. [Spaltenumbruch]
wollen wir gern verzeihen, denn es ist bei uns zulande nach- Gegen die Behauptung, daß wir freiwillig offiziös Wir bedauern, daß wir in jüngster Zeit wiederholt Deutsches Reich. Das Centrum und die Flottenvorlage. Berlin, 30. März.Mit einer Fülle schwerer Wir wollen nicht leugnen, daß die rückhaltlose Art, wie Noch weniger positive Anhaltspunkte, als die Debatte Mehr Bedeutung wird man woh[l der Thatsache be-] gab sie ihm, als er mürrisch eintrat, ohne jede weitere Be- Lina wirft ein: "Ischt das der Wirth mit dem Loch im "Freilich!" Von der letzten Rauferei her! Der Bader "Wohin gehört denn der andere Brief?" "Der Seilerin! Der Brief ist jedenfalls von ihrem Lina lobt den Briefträger, ohne den das Postamt in "Ischt nicht so gefährlich! Man muß nur wissen, wer "Die Post kennt aber meistens den Absender nicht!" "Die Post? Das ischt nur so ein fremdes Weibsbild, Lina lächelt und nimmt die Grobheit des Postfakto- Von Ziegelstaub behaftet ist ein zweiter Brief, dessen Lina schüttelt den Kopf ob solch postalischer Wahr- "Möchte wisen ob du das Kalb Holst am Montag oder nicht, War am Freitag 3 Wochen alt; [Spaltenumbruch] Wan du es nicht brauchen kannst, Mach es mir zu wissen bald. Christian Schober." Kaum hatte das Fräulein diese Epistel gelesen, kam "Was willst denn einstellen in der Postkanzlei?" "Nicht viel, bloß den Kübel da." "Was ischt denn drinnen?" "Gleich nur etwas Wagenschmier'." Den Duft hatte Lina inzwischen in die Nase bekommen "Was? Nicht aufheben willst mir den Kübel?! Wär' Ingrimmig ging die Bäuerin mit ihrem Wagenfett Mitleidig fragte Lina, was denn fehle und was der Der kleine Gebirgler stand auf, beguckte seine nackten, "Das kann ich doch nicht wissen!" "So, nicht? Ja, bischt du denn nicht die Postfräuln?" "Doch! Aber ich kenne den Inhalt der Paketsendungen "Ich? Nein! Ich soll bloß Pfoaden kriegen." "Die Hemden müssen aber doch verpackt sein!" "Die meinigen nicht, die kommen in einem Brief." "Na, geh nur wieder, Kleiner, es ischt noch nichts für Nun heulte der kleine Bursche herzzerbrechend, daß Lina hatte sich wieder an den Kanzleitisch gesetzt und Den Brief vom Boden aufhebend, las Lina die Adresse, Lina greift nach dem postalischen Ortslexikon; wie ver- "An Abwechslung fehlt es wahrlich nicht in diesem "Recht gern! Nur müßt Ihr die Kleider ordentlich in "Müssen muß ich gar nix, und schreiben thue ich nix, Lachend sagte Lina: "Nun, die Postbegleitadresse will "Schick sie nur so fort! Auf der Post wird nix ge- "Geht nicht, mein Lieber! Apropos, dürfen denn die "Sell dürfen sie nicht!" "Wozu schickt Ihr aber Eurem Sohn Zivilkleider?" "Du, weißt, sell geht dich nix an! Und ich mag nimmer München, Sonntag Allgemeine Zeitung 1. April 1900. Nr. 89. [Spaltenumbruch]
wollen wir gern verzeihen, denn es iſt bei uns zulande nach- Gegen die Behauptung, daß wir freiwillig offiziös Wir bedauern, daß wir in jüngſter Zeit wiederholt Deutſches Reich. Das Centrum und die Flottenvorlage. ☩ Berlin, 30. März.Mit einer Fülle ſchwerer Wir wollen nicht leugnen, daß die rückhaltloſe Art, wie Noch weniger poſitive Anhaltspunkte, als die Debatte Mehr Bedeutung wird man woh[l der Thatsache be-] gab ſie ihm, als er mürriſch eintrat, ohne jede weitere Be- Lina wirft ein: „Iſcht das der Wirth mit dem Loch im „Freilich!“ Von der letzten Rauferei her! Der Bader „Wohin gehört denn der andere Brief?“ „Der Seilerin! Der Brief iſt jedenfalls von ihrem Lina lobt den Briefträger, ohne den das Poſtamt in „Iſcht nicht ſo gefährlich! Man muß nur wiſſen, wer „Die Poſt kennt aber meiſtens den Abſender nicht!“ „Die Poſt? Das iſcht nur ſo ein fremdes Weibsbild, Lina lächelt und nimmt die Grobheit des Poſtfakto- Von Ziegelſtaub behaftet iſt ein zweiter Brief, deſſen Lina ſchüttelt den Kopf ob ſolch poſtaliſcher Wahr- „Möchte wiſen ob du das Kalb Holſt am Montag oder nicht, War am Freitag 3 Wochen alt; [Spaltenumbruch] Wan du es nicht brauchen kannſt, Mach es mir zu wiſſen bald. Chriſtian Schober.“ Kaum hatte das Fräulein dieſe Epiſtel geleſen, kam „Was willſt denn einſtellen in der Poſtkanzlei?“ „Nicht viel, bloß den Kübel da.“ „Was iſcht denn drinnen?“ „Gleich nur etwas Wagenſchmier’.“ Den Duft hatte Lina inzwiſchen in die Naſe bekommen „Was? Nicht aufheben willſt mir den Kübel?! Wär’ Ingrimmig ging die Bäuerin mit ihrem Wagenfett Mitleidig fragte Lina, was denn fehle und was der Der kleine Gebirgler ſtand auf, beguckte ſeine nackten, „Das kann ich doch nicht wiſſen!“ „So, nicht? Ja, biſcht du denn nicht die Poſtfräuln?“ „Doch! Aber ich kenne den Inhalt der Paketſendungen „Ich? Nein! Ich ſoll bloß Pfoaden kriegen.“ „Die Hemden müſſen aber doch verpackt ſein!“ „Die meinigen nicht, die kommen in einem Brief.“ „Na, geh nur wieder, Kleiner, es iſcht noch nichts für Nun heulte der kleine Burſche herzzerbrechend, daß Lina hatte ſich wieder an den Kanzleitiſch geſetzt und Den Brief vom Boden aufhebend, las Lina die Adreſſe, Lina greift nach dem poſtaliſchen Ortslexikon; wie ver- „An Abwechslung fehlt es wahrlich nicht in dieſem „Recht gern! Nur müßt Ihr die Kleider ordentlich in „Müſſen muß ich gar nix, und ſchreiben thue ich nix, Lachend ſagte Lina: „Nun, die Poſtbegleitadreſſe will „Schick ſie nur ſo fort! Auf der Poſt wird nix ge- „Geht nicht, mein Lieber! Apropos, dürfen denn die „Sell dürfen ſie nicht!“ „Wozu ſchickt Ihr aber Eurem Sohn Zivilkleider?“ „Du, weißt, ſell geht dich nix an! Und ich mag nimmer <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0002" n="Seite 2.[2]"/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">München, Sonntag Allgemeine Zeitung</hi> 1. April 1900. Nr. 89.</fw><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div xml:id="a01b" prev="#a01a" type="jComment" n="2"> <p>wollen wir gern verzeihen, denn es iſt bei uns zulande nach-<lb/> gerade zur Manie geworden, Blätter, denen gute Infor-<lb/> mationsquellen zu Gebote ſtehen, die dabei aber von der<lb/> Unabhängigkeit ihres Urtheils kein Jota opfern, mit der<lb/> Bezeichnung „offiziös“ zu bedenken. In erſter Linie ver-<lb/> fallen dieſem Offizioſitätsverdacht ſelbſtverſtändlich die-<lb/> jenigen Zeitungen, die, gleich uns, nicht Bedenken tragen,<lb/> einer Regierung, die ihres Erachtens recht und richtig<lb/> handelt, ein Wort der Billigung und der Zuſtimmung zu-<lb/> theil werden zu laſſen, und die auch da, wo ſie in der Oppo-<lb/> ſition ſtehen, des in guter Geſellſchaft üblichen Tones ſich<lb/> befleißigen.</p><lb/> <p>Gegen die Behauptung, daß wir freiwillig offiziös<lb/> ſeien, wehren wir uns und werden wir uns immer wehren,<lb/> weil ſie der Sachlage nicht entſpricht. Will man ſie deſſenun-<lb/> geachtet wiederholen, ſo werden wir uns deßhalb nicht über-<lb/> mäßig echauffiren, denn am letzten Ende kann man ja offi-<lb/> ziös und dabei doch ein leidlich anſtändiger Menſch ſein. Mit<lb/> äußerſter Entſchiedenheit müſſen wir uns jedoch gegen den<lb/> Verſuch einzelner rother und ſchwarzer Sudelblätter wen-<lb/> den, unſer Eintreten für die Flottenvorlage, das uns ledig-<lb/> lich durch nationale und patriotiſche Erwägungen vorge-<lb/> zeichnet worden iſt, auf ein angebliches Abhängigkeitsver-<lb/> hältniß gegenüber der am Kriegsſchiffbau intereſſirten<lb/> Großinduſtrie zurückzuführen. Ein ſolches Abhängigkeits-<lb/> verhältniß hat für uns niemals beſtanden und beſteht auch<lb/> zur Zeit nicht. Ein Gegner, der uns mit derartigen In-<lb/> ſinuationen, die mit der hin und wieder ausgeſprengten<lb/> dreiſten Lüge, daß wir „im Solde“ irgend einer Regierung<lb/> ſtänden und mit bayeriſchem oder preußiſchem Gelde „ge-<lb/> kauft“ ſeien, auf einer Linie ſteht, muß wahrlich am Ende<lb/> ſeiner ſachlichen Argumente angelangt ſein. Iſt das nicht<lb/> der Fall, ſo bleibt nur die Annahme, daß er von der<lb/> eigenen Erbärmlichkeit auf die moraliſche Qualität Anderer<lb/> ſich Schlüſſe geſtattet, und daß er das für ſich ſelbſt maß-<lb/> gebende <hi rendition="#aq">„virtus post nummos“</hi> für ein im politiſchen<lb/> Leben und im publiziſtiſchen Streit allgemein gültiges<lb/> Prinzip hält, was es gottlob doch bei weitem nicht iſt. In<lb/> allen Parteilagern, auch in denjenigen, mit denen wir<lb/> dauernd in ſchärfſter Fehde liegen, kennen wir Männer, die<lb/> für das aus den Erträgniſſen der Kloake gewonnene Gold<lb/> das <hi rendition="#aq">„non olet“</hi> des Veſpaſian nicht gelten laſſen, die aber<lb/> ſtets bereit ſind, für ideale Zwecke und für ihre politiſche<lb/> Ueberzeugung ſelbſt die belangreichſten materiellen Opfer<lb/> zu bringen. Dem hieſigen ſozialdemokratiſchen Organ<lb/> ſcheinen ſolche Männer in den eigenen Reihen allerdings<lb/> unbekannt zu ſein; wäre es anders, ſo würde es die hoch-<lb/> angeſehenen Perſönlichkeiten, denen die Allgemeine Zeitung<lb/> es zu danken hatte und noch zu danken hat, daß ſie ohne<lb/> Rückſicht auf geſchäftliche Intereſſen auch unter ſchwierigen<lb/> Verhältniſſen in voller Unabhängigkeit ihre alten, ſtolzen<lb/> Traditionen zu wahren vermag, nicht in der pöbelhaften<lb/> Weiſe verunglimpfen, wie es dies ſoeben gethan hat, indem<lb/> es — wir wollen aus dem ſchmachvollen Pamphlet wenig-<lb/> ſtens eine Zeile niedriger hängen — uns als „die holz-<lb/> papierene Maitreſſe eines reichen Scharfmachers“ bezeich-<lb/> nete. Gebe der Himmel, daß von den Blättern, die dem<lb/> deutſchen Volk ſeine tägliche politiſche Koſt bieten, recht<lb/> viele, wie wir, auf Holz- und recht wenige auf Lumpen-<lb/> Papier gedruckt ſein mögen. Mit Organen der letzteren<lb/> Art in publiziſtiſcher Fehde uns auseinanderzuſetzen, wird<lb/> kein anſtändig und billig Denkender, welcher Partei er<lb/> auch angehören mag, uns zumuthen. Gegen gewerbs-<lb/> mäßige Ehrabſchneider und Verleumder werden wir in<lb/> Zukunft an anderer Stelle Recht und Schutz zu finden<lb/> wiſſen. Das mögen diejenigen, die es angeht, ſich ge-<lb/> ſagt ſein laſſen!</p><lb/> <p>Wir bedauern, daß wir in jüngſter Zeit wiederholt<lb/> genöthigt geweſen ſind, in eigener Sache die Aufmerk-<lb/> ſamkeit unſrer Leſer in Anſpruch zu nehmen; wir würden<lb/> auch auf die eben geſchilderten Roheiten und Infamien<lb/> nicht eingegangen ſein, wenn ſie nicht einen Vorgeſchmack<lb/> deſſen bieten könnten, was wir für den Fall einer<lb/><cb/> Wahlkampagne wegen der Flottenvorlage zu gewär-<lb/> tigen haben, wenn nicht die beſſeren Elemente hüben<lb/> und drüben ihren ganzen Einfluß aufbieten, um der<lb/> leider ſchon zu weit fortgeſchrittenen Verwilderung<lb/> unſrer politiſchen und publiziſtiſchen Sitten entgegen-<lb/> zuwirken. Wir haben früher den parlamentariſchen<lb/> Exzeſſen, zu denen die Angehörigen heißblütigerer Nationen<lb/> ſich verleiten ließen, mit einem gewiſſen Gefühl morali-<lb/> ſcher Ueberlegenheit zugeſchaut und ohne beſondere phari-<lb/> ſäiſche Heuchelei auch zuſchauen können, denn im großen<lb/> und ganzen hatte man bei uns doch Werth darauf gelegt,<lb/> auch im heißeſten Parteiſtreit die Regeln eines anſtändigen<lb/> Kampfes nicht außer acht zu laſſen. Leider ſind das ver-<lb/> ſchwundene Zeiten; aber wenn wir Selbſtbeſinnung<lb/> und Selbſtbeherrſchung walten laſſen, ſollten ſie wieder-<lb/> kehren können. Engländer und Buren haſſen ſich gewiß<lb/> aus tieffter Seele, und doch hat der britiſche Oberbefehls-<lb/> haber Lord Roberts es für Ehrenpflicht erachtet, ſeinem<lb/> Widerſacher Cronje in ritterlicher Weiſe zu begegnen, und<lb/> auf Seiten der ſchlichten, dem natürlichen Empfinden folgen-<lb/> den Buren hat man in ähnlichem Falle wiederholt die gleiche<lb/> Haltung beobachtet. Die deutſche Preſſe ohne Unterſchied der<lb/> Parteiſtellung hat die Kunde hievon mit lebhafteſter Genug-<lb/> thuung begrüßt; möchte ſie nun auch von den Kämpfern<lb/> in Südafrika nicht nur das Schlimme lernen und ge-<lb/> legentliche Ausſchreitungen nachahmen, ſondern ſich von<lb/> ihnen auch zeigen laſſen, daß man ſich ſelbſt am meiſten<lb/> ehrt, wenn man dem Gegner Gerechtigkeit widerfahren läßt.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#c">Deutſches Reich.</hi> </hi> </head><lb/> <div xml:id="a03a" next="#a03b" type="jComment" n="3"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Das Centrum und die Flottenvorlage.</hi> </hi> </head><lb/> <dateline>☩ <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 30. März.</dateline> <p>Mit einer Fülle ſchwerer<lb/> Fragezeichen belaſtet iſt der <hi rendition="#g">Reichstag</hi> in die <hi rendition="#g">Oſter-<lb/> ferien</hi> gegangen. Die dreitägige Debatte, in welcher zu-<lb/> letzt die <hi rendition="#g">Budgetkommiſſion</hi> endlich die <hi rendition="#g">Flotten-<lb/> vorlage</hi> in Behandlung genommen hat, ſoll nach der<lb/> Meinung gutmüthiger Leute eine Grundlage für eine po-<lb/> ſitive Löſung geſchaffen haben. Ein kaltblütigeres Urtheil<lb/> wird ſich nach dieſer Grundlage vergebens umſehen. Unſe-<lb/> res Erachtens beſteht das einzige Verdienſt dieſer Kommiſ-<lb/> ſionsverhandlungen darin, zum Bewußtſein gebracht zu<lb/> haben, daß es drückendere Sorgen gibt als Fleiſchbeſchau<lb/> und <hi rendition="#aq">lex</hi> Heinze. Die Ungewißheit des Schickſals der<lb/> Flottenvorlage liegt einzig und allein in der <hi rendition="#g">Stellung<lb/> des Centrums.</hi> Hat die Kommiſſionsdebatte darüber<lb/> mehr Klarheit verbreitet? Darauf gibt es nur ein rundes<lb/> Nein. Noch iſt ja dies ſeltſame Rekognoszirungsgefecht erſt<lb/> zur Hälfte beendigt. In dem Reſt des vom Centrum aufge-<lb/> ſtellten Fragebogens ſtecken noch recht anmuthige Sachen,<lb/> bei deren Erklärung recht merkwürdige Ueberraſchungen<lb/> herausſpringen können. Was bisher verhandelt wurde,<lb/> die Nothwendigkeit der Flottenverſtärkung und die Frage<lb/> der Deckungsmittel, iſt ja zweifellos das Wichtigſte. Wir<lb/> können aber nicht finden, daß die Sachlage, im Grunde ge-<lb/> nommen, irgendwie verſchoben ſei. Daß das Centrum das<lb/> Bedürfniß einer Erweiterung der Flotte über den Rahmen<lb/> des Geſetzes von 1898 hinaus nicht beſtreitet, wußte man be-<lb/> reits aus der Fraktionsrede des Herrn Schädler in der<lb/> erſten Leſung; ebenſo aber auch, daß es eine Erweiterung<lb/> in dem Umfange der Vorlage einmüthig ablehne. Von In-<lb/> tereſſe war alſo, zu erfahren, mit welcher Einſchränkung es<lb/> die Verſtärkung zu bewilligen bereit ſei. Eine Antwort auf<lb/> dieſe Frage hat man nicht erhalten.</p><lb/> <p>Wir wollen nicht leugnen, daß die rückhaltloſe Art, wie<lb/> die Herren Gröber und Müller-Fulda der Vermehrung der<lb/><hi rendition="#g">Schlachtflotte</hi> zugeſtimmt haben, ein Gefühl der Be-<lb/> friedigung hervorrufen kann; aber wenn eine der Beding-<lb/> ungen für dieſe Zuſtimmung die Ablehnung der Vermeh-<lb/> rung der Schiffe für den <hi rendition="#g">Auslandsdienſt</hi> ſein ſoll,<lb/> ſo erſcheint doch ſehr zweifelhaft, daß die Regierung darauf<lb/> eingehen könnte. Da die Auslandsſchiffe in erſter Linie den<lb/> Intereſſen des Handels dienen, iſt ja wahrſcheinlich, daß in<lb/> einſeitig agrariſch erregten Kreiſen für ihre Ablehnung<lb/><cb/> leicht Stimmung zu machen ſein würde. Um ſo bemerkens-<lb/> werther iſt, daß bei den konſervativen Mitgliedern der<lb/> Kommiſſion für dieſe Idee allem Anſcheine nach eine Unter-<lb/> ſtützung nicht gefunden worden iſt. Von einer bereits vor-<lb/> handenen Baſis der Verſtändigung kann hier ſonach kaum<lb/> die Rede ſein. Zudem: was bedeuten die Anſchauungen<lb/> der Herren Gröber und Müller-Fulda, wenn Beide nach-<lb/> drücklich betonen, daß ſie nur für ihre Perſon ſprechen? Ein<lb/> drittes dem Centrum angehörendes Kommiſſionsmitglied,<lb/> Herr Roeren, hat ſich mit Schroffheit <hi rendition="#g">gegen</hi> die Ver-<lb/> mehrung auch der <hi rendition="#g">Schlachtflotte</hi> ausgeſprochen. Das<lb/> bezeichnet alſo einſtweilen eine ſtarke <hi rendition="#g">Meinungs-<lb/> verſchiedenheit im Centrum.</hi> Wer kann aber<lb/> ſagen, auf welcher Seite die Mehrheit der Fraktion ſteht?<lb/> Für das Zuſtandekommen des Flottengeſetzes würde ja frei-<lb/> lich die Mitwirkung des ganzen Centrums nicht erforder-<lb/> lich ſein; zur Noth genügen 40 Mitglieder. Wer garantirt<lb/> aber dafür, daß dem Centrum nicht ſchließlich, wie bei der<lb/> Militärvorlage von 1893, die Einigkeit der Partei höher<lb/> ſteht als die Flottenverſtärkung? Man kann ſich darüber<lb/> nicht täuſchen: was die gegenwärtig in der Kommiſſion<lb/> agirenden Herren reden, hat nur den Zweck, <hi rendition="#aq">ut aliquid<lb/> factum esse videatur.</hi> Was in Wirklichkeit geſchehen<lb/> ſoll, darüber wird ſich das Centrum erſt ſchlüſſig machen,<lb/> wenn ihm ganz anders woher, als von dieſen Kommiſſions-<lb/> berathungen die Erleuchtung gekommen ſein wird. Dann<lb/> wird wohl auch Herr Schädler wieder auf der Bildfläche<lb/> erſcheinen.</p><lb/> <p>Noch weniger poſitive Anhaltspunkte, als die Debatte<lb/> über die Nothwendigkeit der Flottenverſtärkung, hat die-<lb/> jenige über die <hi rendition="#g">Deckungsfrage</hi> hinterlaſſen. Selbſt-<lb/> verſtändlich konnte ſie nur auf eine Wiederholung der gan-<lb/> zen Fluth mehr oder weniger möglicher oder unmöglicher<lb/> Projekte herauskommen, mit denen das deutſche Volk wäh-<lb/> rend der letzten Monate in der Preſſe überſchüttet worden<lb/> iſt. Und ſelbſtverſtändlich brauchte eins dieſer Projekte nur<lb/> empfohlen zu werden, um ſofort die Mißbilligung des näch-<lb/> ſten Redners zu finden, der ſeinerſeits ein nach ſeiner<lb/> Meinung viel beſſeres vorzuſchlagen wüßte. Herr Richter<lb/> hat gemeint, das in der Kommiſſion zuſammengeſtellte<lb/> Steuerbouquet werde den Flottenfreunden ſtark zur Er-<lb/> nüchterung gereichen. Wir bezweifeln, daß ein ſofort von<lb/> der Kommiſſion ſelbſt ſo vollſtändig zerpflücktes Bouquet<lb/> überhaupt einen Eindruck machen wird. Es gehört nicht<lb/> viel Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß aus dieſem<lb/> ganzen Wirrwarr nichts weiter herauskommen wird als<lb/> die Verdoppelung des Lotterieſtempels, eine Beſteuerung<lb/> des Saccharins und vielleicht ein Cono<supplied cert="high">ſſementſtempel. Wer</supplied><lb/> glaubt, daß durch eine derartige Perſ<supplied cert="high">pektive die Flotten-</supplied><lb/> bewegung ſich entmuthigen laſſen werd<supplied cert="high">e, der wird ſich bald</supplied><lb/> enttäuſcht ſehen.</p><lb/> <p>Mehr Bedeutung wird man woh<supplied cert="low">l der Thatsache be-</supplied><lb/> legen, daß die <hi rendition="#g">verbündeten R<supplied cert="high">egierungen ſich</supplied></hi><lb/> durch den Deckungsfragenlärm in ihrer Ueberzeugung, daß<lb/> eine <hi rendition="#g">Inanſpruchnahme neuer Einnahme-<lb/> quellen</hi> überhaupt <hi rendition="#g">nicht erforderlich</hi> ſei, nicht,<lb/> oder bis jetzt wenigſtens nicht, haben beirren laſſen. Be-<lb/> greiflicherweiſe lehnen ſie die ihnen auf dem Präſentirteller<lb/> entgegengebrachte Verdoppelung des Lotterieſtempels nicht<lb/> ab, und ſie können die Maßregel ruhig vertreten, als eine<lb/> Beſchwichtigung der ängſtlichen Gemüther, welche ſich auf<lb/> eine den Mehrbedarf der Marine in dem von der Regierung<lb/> vorgeſchlagenen Betrage deckende Steigerung der ordent-<lb/> lichen Reichseinnahmen nicht verlaſſen mögen. Wenn das<lb/> Centrum ſich dadurch nicht befriedigt fühlt, weil es mit dem<lb/> von der Regierung, entſprechend den bisher ſtets beobachte-<lb/> ten Grundſätzen, vorgeſchlagenen Modus der Deckung durch<lb/> Anleihe und durch ordentliche Einnahmen nicht einver-<lb/> ſtanden iſt, ſo hat es ſeinerſeits die Pflicht, Gegenvorſchläge<lb/> zu machen. Als ſolche werden aber die Aper<hi rendition="#aq">ç</hi>üs der Herren<lb/> Müller-Fulda und Gröber, welch Letzterer die Kommiſſion<lb/> mit der finanzpolitiſchen Ungeheuerlichkeit einer quotiſirten<lb/> Reichserbſchaftsſteuer überraſchte, nicht aufgefaßt werden<lb/> können. Den von nationalliberaler Seite angebotenen</p> </div> </div> </div><lb/> <cb/> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div xml:id="a02b" prev="#a02a" type="jArticle" n="2"> <p>gab ſie ihm, als er mürriſch eintrat, ohne jede weitere Be-<lb/> merkung, und der alte Landbriefträger beguckte die Adreſ-<lb/> ſen. Doch zeigte er keinerlei Ueberraſchung, die Sache<lb/> ſcheint für ihn ſehr einfach zu liegen. Schon beim Brief<lb/> für die Unterdirn ſagt er für ſich: „So, ſo, kriegt die Cenzl<lb/> beim Karlwirth wieder einmal a Briefl!“</p><lb/> <p>Lina wirft ein: „Iſcht das der Wirth mit dem Loch im<lb/> Dach?“</p><lb/> <p>„Freilich!“ Von der letzten Rauferei her! Der Bader<lb/> hat ihm ’s Loch zugeflickt, aber der Wirth hat ſeinen Spitz-<lb/> namen doch!“</p><lb/> <p>„Wohin gehört denn der andere Brief?“</p><lb/> <p>„Der Seilerin! Der Brief iſt jedenfalls von ihrem<lb/> Zukünftigen, und ſeller hält was auf ordentliche Titula-<lb/> tur.“</p><lb/> <p>Lina lobt den Briefträger, ohne den das Poſtamt in<lb/> nicht geringe Verlege theit wegen der Zuſtellung ſolch un-<lb/> genügend adreſſirter Briefe käme.</p><lb/> <p>„Iſcht nicht ſo gefährlich! Man muß nur wiſſen, wer<lb/> gemeint iſcht, und von wem der Brief iſcht.“</p><lb/> <p>„Die Poſt kennt aber meiſtens den Abſender nicht!“</p><lb/> <p>„Die Poſt? Das iſcht nur ſo ein fremdes Weibsbild,<lb/> das die Leut’ nicht kennt! Ich weiß bei jedem Brief, von<lb/> wem er iſcht!“</p><lb/> <p>Lina lächelt und nimmt die Grobheit des Poſtfakto-<lb/> tums nicht weiter übel. Während Sepp die beiden Briefe<lb/> austrägt, entleert das Poſtfräulein den Briefkaſten im Flur<lb/> und muſtert die Einlage. Hier ein ſchmutziger, fettiger<lb/> Brief, deſſen Abſenderin leicht in einer Küche zu vermuthen<lb/> iſt. Die Adreſſe lautet: „An den Kaiſerlichen jeger Jophſes<lb/> Bleibnichtlang, 11. Cumpani, Bergkaſern, Brixen, geſchrie-<lb/> ben in Eil, in nächtiger Weil, in Dämrung und Licht, ver-<lb/> giß mein nicht.“</p><lb/> <p>Von Ziegelſtaub behaftet iſt ein zweiter Brief, deſſen<lb/> Inhalt man aus der Adreſſe leicht errathen kann, den<lb/> zweifellos ein welſcher Ziegelarbeiter ſchrieb: „An mein<lb/> Weib Maria Benatti in Cavaleſe, Südtirol. Den Brief<lb/> ihr glei geben wegen nachkommen!“</p><lb/> <p>Lina ſchüttelt den Kopf ob ſolch poſtaliſcher Wahr-<lb/> nehmungen und liest den Inhalt einer Korreſpondenzkarte,<lb/> auf welcher ein biederer Bergbauer in poetiſcher Anwand-<lb/> lung gekritzelt hat:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Möchte wiſen ob du das Kalb</l><lb/> <l>Holſt am Montag oder nicht,</l><lb/> <l>War am Freitag 3 Wochen alt;</l><lb/> <cb/> <l>Wan du es nicht brauchen kannſt,</l><lb/> <l>Mach es mir zu wiſſen bald.</l> </lg><lb/> <p> <hi rendition="#et">Chriſtian Schober.“</hi> </p><lb/> <p>Kaum hatte das Fräulein dieſe Epiſtel geleſen, kam<lb/> eine Bäuerin in die Kanzlei und brachte ihr Anliegen vor:<lb/> „Biſcht du die Poſtfräuln? Ja, ich hab’s mir gleich<lb/> denkt! Mit Verlaub hätt’ ich eine Bitt’ von wegen ’m Ein-<lb/> ſtellen!“</p><lb/> <p>„Was willſt denn einſtellen in der Poſtkanzlei?“</p><lb/> <p>„Nicht viel, bloß den Kübel da.“</p><lb/> <p>„Was iſcht denn drinnen?“</p><lb/> <p>„Gleich nur etwas Wagenſchmier’.“</p><lb/> <p>Den Duft hatte Lina inzwiſchen in die Naſe bekommen<lb/> und ſelbſtverſtändlich verweigerte ſie nun die Einſtellung.</p><lb/> <p>„Was? Nicht aufheben willſt mir den Kübel?! Wär’<lb/> nicht übel! Weißt was, dann kauf ich nichts mehr bei dir!<lb/> Ich ſtreik’ wie die Spezinaldemokraten in Innsbruck! So<lb/> was! Das Poſtmenſch will nicht einſtellen laſſen! Zu was<lb/> iſcht denn die Poſt da!“</p><lb/> <p>Ingrimmig ging die Bäuerin mit ihrem Wagenfett<lb/> weiter und überrannte ein Bübchen, das nun wie ein<lb/> Igel in die Kanzlei rollte und nicht wenig zeterte.</p><lb/> <p>Mitleidig fragte Lina, was denn fehle und was der<lb/> Bub wolle?</p><lb/> <p>Der kleine Gebirgler ſtand auf, beguckte ſeine nackten,<lb/> ſtaubigen Knie und fragte dann: „Sind meine Pfoaden<lb/> (Hemden) da?“</p><lb/> <p>„Das kann ich doch nicht wiſſen!“</p><lb/> <p>„So, nicht? Ja, biſcht du denn nicht die Poſtfräuln?“</p><lb/> <p>„Doch! Aber ich kenne den Inhalt der Paketſendungen<lb/> nicht. Erwarteſt du ein Paket?“</p><lb/> <p>„Ich? Nein! Ich ſoll bloß Pfoaden kriegen.“</p><lb/> <p>„Die Hemden müſſen aber doch verpackt ſein!“</p><lb/> <p>„Die meinigen nicht, die kommen in einem Brief.“</p><lb/> <p>„Na, geh nur wieder, Kleiner, es iſcht noch nichts für<lb/> dich da!“</p><lb/> <p>Nun heulte der kleine Burſche herzzerbrechend, daß<lb/> ihm das neue Poſtfräulein ſeine Hemden nicht geben wolle,<lb/> und entfernte ſich unter Drohungen, über welche Lina hell<lb/> auflachen mußte. Verſprach der Knirps doch, er werde ſie<lb/> beim Lehrer verklagen, und das Poſtfräulein müſſe dann<lb/> etliche Stunden ſtrafſitzen und kriege kein warmes Mittags-<lb/> mahl.</p><lb/> <p>Lina hatte ſich wieder an den Kanzleitiſch geſetzt und<lb/><cb/> begann zu arbeiten, als plötzlich durch das offene Fenſter<lb/> ein Brieflein in die Stube geflogen kam. Raſch eilte das<lb/> Poſtfräulein aus Fenſter und konnte noch ſehen, wie eine<lb/> Bauerndirne davonſprang, die als Aufgeberin des Brief-<lb/> leins nicht geſehen ſein wollte. Lina fand es neu, ſtatt<lb/> den Briefkaſten zu benutzen, die Briefe direkt in die Poſt-<lb/> kanzlei zu werfen.</p><lb/> <p>Den Brief vom Boden aufhebend, las Lina die Adreſſe,<lb/> die alle Findigkeit der Poſt herausforderte, denn dieſelbe<lb/> lautet: „Der Brief gehert nach St. Jakob nach Gand in<lb/> das inderſte Haus dem Bub wo ſein Vader gſtorbe iſcht.“</p><lb/> <p>Lina greift nach dem poſtaliſchen Ortslexikon; wie ver-<lb/> muthet, gibt es eine Anzahl von dem heiligen Jakob ge-<lb/> weihten Orten. Doch halt, eine Ortſchaft Gand exiſtirt<lb/> ja am Arlberg, alſo wird das Sankt Jakob am Arlberg<lb/> gemeint ſein, und dorthin ſpedirte das Poſtfräulein den<lb/> auf ſo ſeltſame Weiſe aufgegebenen und adreſſirten Brief,<lb/> der, wie ein ſpäterer Laufzettel meldete, richtig dem ge-<lb/> meinten Empfänger zugeſtellt worden iſt.</p><lb/> <p>„An Abwechslung fehlt es wahrlich nicht in dieſem<lb/> Poſtamt!“ murmelte Lina, und wie zum Beweis er-<lb/> ſchien ein Bauer, der einen mächtigen Bund Kleidungs-<lb/> ſtücke ſchleppte, und bat, die Expeditorin möge das Zeug<lb/> heute noch an den „Jörgei, der bei der Militär in Trient<lb/> iſcht“, ſchicken.</p><lb/> <p>„Recht gern! Nur müßt Ihr die Kleider ordentlich in<lb/> ein Paket verpacken und auf eine Poſtbegleitadreſſe die ge-<lb/> naue Adreſſe Eures Sohnes ſchreiben.“</p><lb/> <p>„Müſſen muß ich gar nix, und ſchreiben thue ich nix,<lb/> weil ich die lauretaniſche (gemeint war die lateiniſche),<lb/> Schrift nicht kenn’.“</p><lb/> <p>Lachend ſagte Lina: „Nun, die Poſtbegleitadreſſe will<lb/> ich Euch ſchon ſchreiben. Aber das Verpacken der Kleider<lb/> iſcht Eure Sache!“</p><lb/> <p>„Schick ſie nur ſo fort! Auf der Poſt wird nix ge-<lb/> ſtohlen!“</p><lb/> <p>„Geht nicht, mein Lieber! Apropos, dürfen denn die<lb/> Soldaten in Trient in Zivil gehen?“</p><lb/> <p>„Sell dürfen ſie nicht!“</p><lb/> <p>„Wozu ſchickt Ihr aber Eurem Sohn Zivilkleider?“</p><lb/> <p>„Du, weißt, ſell geht dich nix an! Und ich mag nimmer<lb/> weiter diskuriren mit dir. Ich gib jetzt das Gewand unten<lb/> auf der Eiſenbahn auf!“ Sprach’s und ging mit dem<lb/> Kleiderbund ab. <hi rendition="#et">(Fortſetzung folgt.)</hi></p> </div> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [Seite 2.[2]/0002]
München, Sonntag Allgemeine Zeitung 1. April 1900. Nr. 89.
wollen wir gern verzeihen, denn es iſt bei uns zulande nach-
gerade zur Manie geworden, Blätter, denen gute Infor-
mationsquellen zu Gebote ſtehen, die dabei aber von der
Unabhängigkeit ihres Urtheils kein Jota opfern, mit der
Bezeichnung „offiziös“ zu bedenken. In erſter Linie ver-
fallen dieſem Offizioſitätsverdacht ſelbſtverſtändlich die-
jenigen Zeitungen, die, gleich uns, nicht Bedenken tragen,
einer Regierung, die ihres Erachtens recht und richtig
handelt, ein Wort der Billigung und der Zuſtimmung zu-
theil werden zu laſſen, und die auch da, wo ſie in der Oppo-
ſition ſtehen, des in guter Geſellſchaft üblichen Tones ſich
befleißigen.
Gegen die Behauptung, daß wir freiwillig offiziös
ſeien, wehren wir uns und werden wir uns immer wehren,
weil ſie der Sachlage nicht entſpricht. Will man ſie deſſenun-
geachtet wiederholen, ſo werden wir uns deßhalb nicht über-
mäßig echauffiren, denn am letzten Ende kann man ja offi-
ziös und dabei doch ein leidlich anſtändiger Menſch ſein. Mit
äußerſter Entſchiedenheit müſſen wir uns jedoch gegen den
Verſuch einzelner rother und ſchwarzer Sudelblätter wen-
den, unſer Eintreten für die Flottenvorlage, das uns ledig-
lich durch nationale und patriotiſche Erwägungen vorge-
zeichnet worden iſt, auf ein angebliches Abhängigkeitsver-
hältniß gegenüber der am Kriegsſchiffbau intereſſirten
Großinduſtrie zurückzuführen. Ein ſolches Abhängigkeits-
verhältniß hat für uns niemals beſtanden und beſteht auch
zur Zeit nicht. Ein Gegner, der uns mit derartigen In-
ſinuationen, die mit der hin und wieder ausgeſprengten
dreiſten Lüge, daß wir „im Solde“ irgend einer Regierung
ſtänden und mit bayeriſchem oder preußiſchem Gelde „ge-
kauft“ ſeien, auf einer Linie ſteht, muß wahrlich am Ende
ſeiner ſachlichen Argumente angelangt ſein. Iſt das nicht
der Fall, ſo bleibt nur die Annahme, daß er von der
eigenen Erbärmlichkeit auf die moraliſche Qualität Anderer
ſich Schlüſſe geſtattet, und daß er das für ſich ſelbſt maß-
gebende „virtus post nummos“ für ein im politiſchen
Leben und im publiziſtiſchen Streit allgemein gültiges
Prinzip hält, was es gottlob doch bei weitem nicht iſt. In
allen Parteilagern, auch in denjenigen, mit denen wir
dauernd in ſchärfſter Fehde liegen, kennen wir Männer, die
für das aus den Erträgniſſen der Kloake gewonnene Gold
das „non olet“ des Veſpaſian nicht gelten laſſen, die aber
ſtets bereit ſind, für ideale Zwecke und für ihre politiſche
Ueberzeugung ſelbſt die belangreichſten materiellen Opfer
zu bringen. Dem hieſigen ſozialdemokratiſchen Organ
ſcheinen ſolche Männer in den eigenen Reihen allerdings
unbekannt zu ſein; wäre es anders, ſo würde es die hoch-
angeſehenen Perſönlichkeiten, denen die Allgemeine Zeitung
es zu danken hatte und noch zu danken hat, daß ſie ohne
Rückſicht auf geſchäftliche Intereſſen auch unter ſchwierigen
Verhältniſſen in voller Unabhängigkeit ihre alten, ſtolzen
Traditionen zu wahren vermag, nicht in der pöbelhaften
Weiſe verunglimpfen, wie es dies ſoeben gethan hat, indem
es — wir wollen aus dem ſchmachvollen Pamphlet wenig-
ſtens eine Zeile niedriger hängen — uns als „die holz-
papierene Maitreſſe eines reichen Scharfmachers“ bezeich-
nete. Gebe der Himmel, daß von den Blättern, die dem
deutſchen Volk ſeine tägliche politiſche Koſt bieten, recht
viele, wie wir, auf Holz- und recht wenige auf Lumpen-
Papier gedruckt ſein mögen. Mit Organen der letzteren
Art in publiziſtiſcher Fehde uns auseinanderzuſetzen, wird
kein anſtändig und billig Denkender, welcher Partei er
auch angehören mag, uns zumuthen. Gegen gewerbs-
mäßige Ehrabſchneider und Verleumder werden wir in
Zukunft an anderer Stelle Recht und Schutz zu finden
wiſſen. Das mögen diejenigen, die es angeht, ſich ge-
ſagt ſein laſſen!
Wir bedauern, daß wir in jüngſter Zeit wiederholt
genöthigt geweſen ſind, in eigener Sache die Aufmerk-
ſamkeit unſrer Leſer in Anſpruch zu nehmen; wir würden
auch auf die eben geſchilderten Roheiten und Infamien
nicht eingegangen ſein, wenn ſie nicht einen Vorgeſchmack
deſſen bieten könnten, was wir für den Fall einer
Wahlkampagne wegen der Flottenvorlage zu gewär-
tigen haben, wenn nicht die beſſeren Elemente hüben
und drüben ihren ganzen Einfluß aufbieten, um der
leider ſchon zu weit fortgeſchrittenen Verwilderung
unſrer politiſchen und publiziſtiſchen Sitten entgegen-
zuwirken. Wir haben früher den parlamentariſchen
Exzeſſen, zu denen die Angehörigen heißblütigerer Nationen
ſich verleiten ließen, mit einem gewiſſen Gefühl morali-
ſcher Ueberlegenheit zugeſchaut und ohne beſondere phari-
ſäiſche Heuchelei auch zuſchauen können, denn im großen
und ganzen hatte man bei uns doch Werth darauf gelegt,
auch im heißeſten Parteiſtreit die Regeln eines anſtändigen
Kampfes nicht außer acht zu laſſen. Leider ſind das ver-
ſchwundene Zeiten; aber wenn wir Selbſtbeſinnung
und Selbſtbeherrſchung walten laſſen, ſollten ſie wieder-
kehren können. Engländer und Buren haſſen ſich gewiß
aus tieffter Seele, und doch hat der britiſche Oberbefehls-
haber Lord Roberts es für Ehrenpflicht erachtet, ſeinem
Widerſacher Cronje in ritterlicher Weiſe zu begegnen, und
auf Seiten der ſchlichten, dem natürlichen Empfinden folgen-
den Buren hat man in ähnlichem Falle wiederholt die gleiche
Haltung beobachtet. Die deutſche Preſſe ohne Unterſchied der
Parteiſtellung hat die Kunde hievon mit lebhafteſter Genug-
thuung begrüßt; möchte ſie nun auch von den Kämpfern
in Südafrika nicht nur das Schlimme lernen und ge-
legentliche Ausſchreitungen nachahmen, ſondern ſich von
ihnen auch zeigen laſſen, daß man ſich ſelbſt am meiſten
ehrt, wenn man dem Gegner Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Deutſches Reich.
Das Centrum und die Flottenvorlage.
☩ Berlin, 30. März.Mit einer Fülle ſchwerer
Fragezeichen belaſtet iſt der Reichstag in die Oſter-
ferien gegangen. Die dreitägige Debatte, in welcher zu-
letzt die Budgetkommiſſion endlich die Flotten-
vorlage in Behandlung genommen hat, ſoll nach der
Meinung gutmüthiger Leute eine Grundlage für eine po-
ſitive Löſung geſchaffen haben. Ein kaltblütigeres Urtheil
wird ſich nach dieſer Grundlage vergebens umſehen. Unſe-
res Erachtens beſteht das einzige Verdienſt dieſer Kommiſ-
ſionsverhandlungen darin, zum Bewußtſein gebracht zu
haben, daß es drückendere Sorgen gibt als Fleiſchbeſchau
und lex Heinze. Die Ungewißheit des Schickſals der
Flottenvorlage liegt einzig und allein in der Stellung
des Centrums. Hat die Kommiſſionsdebatte darüber
mehr Klarheit verbreitet? Darauf gibt es nur ein rundes
Nein. Noch iſt ja dies ſeltſame Rekognoszirungsgefecht erſt
zur Hälfte beendigt. In dem Reſt des vom Centrum aufge-
ſtellten Fragebogens ſtecken noch recht anmuthige Sachen,
bei deren Erklärung recht merkwürdige Ueberraſchungen
herausſpringen können. Was bisher verhandelt wurde,
die Nothwendigkeit der Flottenverſtärkung und die Frage
der Deckungsmittel, iſt ja zweifellos das Wichtigſte. Wir
können aber nicht finden, daß die Sachlage, im Grunde ge-
nommen, irgendwie verſchoben ſei. Daß das Centrum das
Bedürfniß einer Erweiterung der Flotte über den Rahmen
des Geſetzes von 1898 hinaus nicht beſtreitet, wußte man be-
reits aus der Fraktionsrede des Herrn Schädler in der
erſten Leſung; ebenſo aber auch, daß es eine Erweiterung
in dem Umfange der Vorlage einmüthig ablehne. Von In-
tereſſe war alſo, zu erfahren, mit welcher Einſchränkung es
die Verſtärkung zu bewilligen bereit ſei. Eine Antwort auf
dieſe Frage hat man nicht erhalten.
Wir wollen nicht leugnen, daß die rückhaltloſe Art, wie
die Herren Gröber und Müller-Fulda der Vermehrung der
Schlachtflotte zugeſtimmt haben, ein Gefühl der Be-
friedigung hervorrufen kann; aber wenn eine der Beding-
ungen für dieſe Zuſtimmung die Ablehnung der Vermeh-
rung der Schiffe für den Auslandsdienſt ſein ſoll,
ſo erſcheint doch ſehr zweifelhaft, daß die Regierung darauf
eingehen könnte. Da die Auslandsſchiffe in erſter Linie den
Intereſſen des Handels dienen, iſt ja wahrſcheinlich, daß in
einſeitig agrariſch erregten Kreiſen für ihre Ablehnung
leicht Stimmung zu machen ſein würde. Um ſo bemerkens-
werther iſt, daß bei den konſervativen Mitgliedern der
Kommiſſion für dieſe Idee allem Anſcheine nach eine Unter-
ſtützung nicht gefunden worden iſt. Von einer bereits vor-
handenen Baſis der Verſtändigung kann hier ſonach kaum
die Rede ſein. Zudem: was bedeuten die Anſchauungen
der Herren Gröber und Müller-Fulda, wenn Beide nach-
drücklich betonen, daß ſie nur für ihre Perſon ſprechen? Ein
drittes dem Centrum angehörendes Kommiſſionsmitglied,
Herr Roeren, hat ſich mit Schroffheit gegen die Ver-
mehrung auch der Schlachtflotte ausgeſprochen. Das
bezeichnet alſo einſtweilen eine ſtarke Meinungs-
verſchiedenheit im Centrum. Wer kann aber
ſagen, auf welcher Seite die Mehrheit der Fraktion ſteht?
Für das Zuſtandekommen des Flottengeſetzes würde ja frei-
lich die Mitwirkung des ganzen Centrums nicht erforder-
lich ſein; zur Noth genügen 40 Mitglieder. Wer garantirt
aber dafür, daß dem Centrum nicht ſchließlich, wie bei der
Militärvorlage von 1893, die Einigkeit der Partei höher
ſteht als die Flottenverſtärkung? Man kann ſich darüber
nicht täuſchen: was die gegenwärtig in der Kommiſſion
agirenden Herren reden, hat nur den Zweck, ut aliquid
factum esse videatur. Was in Wirklichkeit geſchehen
ſoll, darüber wird ſich das Centrum erſt ſchlüſſig machen,
wenn ihm ganz anders woher, als von dieſen Kommiſſions-
berathungen die Erleuchtung gekommen ſein wird. Dann
wird wohl auch Herr Schädler wieder auf der Bildfläche
erſcheinen.
Noch weniger poſitive Anhaltspunkte, als die Debatte
über die Nothwendigkeit der Flottenverſtärkung, hat die-
jenige über die Deckungsfrage hinterlaſſen. Selbſt-
verſtändlich konnte ſie nur auf eine Wiederholung der gan-
zen Fluth mehr oder weniger möglicher oder unmöglicher
Projekte herauskommen, mit denen das deutſche Volk wäh-
rend der letzten Monate in der Preſſe überſchüttet worden
iſt. Und ſelbſtverſtändlich brauchte eins dieſer Projekte nur
empfohlen zu werden, um ſofort die Mißbilligung des näch-
ſten Redners zu finden, der ſeinerſeits ein nach ſeiner
Meinung viel beſſeres vorzuſchlagen wüßte. Herr Richter
hat gemeint, das in der Kommiſſion zuſammengeſtellte
Steuerbouquet werde den Flottenfreunden ſtark zur Er-
nüchterung gereichen. Wir bezweifeln, daß ein ſofort von
der Kommiſſion ſelbſt ſo vollſtändig zerpflücktes Bouquet
überhaupt einen Eindruck machen wird. Es gehört nicht
viel Scharfblick dazu, um zu erkennen, daß aus dieſem
ganzen Wirrwarr nichts weiter herauskommen wird als
die Verdoppelung des Lotterieſtempels, eine Beſteuerung
des Saccharins und vielleicht ein Conoſſementſtempel. Wer
glaubt, daß durch eine derartige Perſpektive die Flotten-
bewegung ſich entmuthigen laſſen werde, der wird ſich bald
enttäuſcht ſehen.
Mehr Bedeutung wird man wohl der Thatsache be-
legen, daß die verbündeten Regierungen ſich
durch den Deckungsfragenlärm in ihrer Ueberzeugung, daß
eine Inanſpruchnahme neuer Einnahme-
quellen überhaupt nicht erforderlich ſei, nicht,
oder bis jetzt wenigſtens nicht, haben beirren laſſen. Be-
greiflicherweiſe lehnen ſie die ihnen auf dem Präſentirteller
entgegengebrachte Verdoppelung des Lotterieſtempels nicht
ab, und ſie können die Maßregel ruhig vertreten, als eine
Beſchwichtigung der ängſtlichen Gemüther, welche ſich auf
eine den Mehrbedarf der Marine in dem von der Regierung
vorgeſchlagenen Betrage deckende Steigerung der ordent-
lichen Reichseinnahmen nicht verlaſſen mögen. Wenn das
Centrum ſich dadurch nicht befriedigt fühlt, weil es mit dem
von der Regierung, entſprechend den bisher ſtets beobachte-
ten Grundſätzen, vorgeſchlagenen Modus der Deckung durch
Anleihe und durch ordentliche Einnahmen nicht einver-
ſtanden iſt, ſo hat es ſeinerſeits die Pflicht, Gegenvorſchläge
zu machen. Als ſolche werden aber die Aperçüs der Herren
Müller-Fulda und Gröber, welch Letzterer die Kommiſſion
mit der finanzpolitiſchen Ungeheuerlichkeit einer quotiſirten
Reichserbſchaftsſteuer überraſchte, nicht aufgefaßt werden
können. Den von nationalliberaler Seite angebotenen
gab ſie ihm, als er mürriſch eintrat, ohne jede weitere Be-
merkung, und der alte Landbriefträger beguckte die Adreſ-
ſen. Doch zeigte er keinerlei Ueberraſchung, die Sache
ſcheint für ihn ſehr einfach zu liegen. Schon beim Brief
für die Unterdirn ſagt er für ſich: „So, ſo, kriegt die Cenzl
beim Karlwirth wieder einmal a Briefl!“
Lina wirft ein: „Iſcht das der Wirth mit dem Loch im
Dach?“
„Freilich!“ Von der letzten Rauferei her! Der Bader
hat ihm ’s Loch zugeflickt, aber der Wirth hat ſeinen Spitz-
namen doch!“
„Wohin gehört denn der andere Brief?“
„Der Seilerin! Der Brief iſt jedenfalls von ihrem
Zukünftigen, und ſeller hält was auf ordentliche Titula-
tur.“
Lina lobt den Briefträger, ohne den das Poſtamt in
nicht geringe Verlege theit wegen der Zuſtellung ſolch un-
genügend adreſſirter Briefe käme.
„Iſcht nicht ſo gefährlich! Man muß nur wiſſen, wer
gemeint iſcht, und von wem der Brief iſcht.“
„Die Poſt kennt aber meiſtens den Abſender nicht!“
„Die Poſt? Das iſcht nur ſo ein fremdes Weibsbild,
das die Leut’ nicht kennt! Ich weiß bei jedem Brief, von
wem er iſcht!“
Lina lächelt und nimmt die Grobheit des Poſtfakto-
tums nicht weiter übel. Während Sepp die beiden Briefe
austrägt, entleert das Poſtfräulein den Briefkaſten im Flur
und muſtert die Einlage. Hier ein ſchmutziger, fettiger
Brief, deſſen Abſenderin leicht in einer Küche zu vermuthen
iſt. Die Adreſſe lautet: „An den Kaiſerlichen jeger Jophſes
Bleibnichtlang, 11. Cumpani, Bergkaſern, Brixen, geſchrie-
ben in Eil, in nächtiger Weil, in Dämrung und Licht, ver-
giß mein nicht.“
Von Ziegelſtaub behaftet iſt ein zweiter Brief, deſſen
Inhalt man aus der Adreſſe leicht errathen kann, den
zweifellos ein welſcher Ziegelarbeiter ſchrieb: „An mein
Weib Maria Benatti in Cavaleſe, Südtirol. Den Brief
ihr glei geben wegen nachkommen!“
Lina ſchüttelt den Kopf ob ſolch poſtaliſcher Wahr-
nehmungen und liest den Inhalt einer Korreſpondenzkarte,
auf welcher ein biederer Bergbauer in poetiſcher Anwand-
lung gekritzelt hat:
„Möchte wiſen ob du das Kalb
Holſt am Montag oder nicht,
War am Freitag 3 Wochen alt;
Wan du es nicht brauchen kannſt,
Mach es mir zu wiſſen bald.
Chriſtian Schober.“
Kaum hatte das Fräulein dieſe Epiſtel geleſen, kam
eine Bäuerin in die Kanzlei und brachte ihr Anliegen vor:
„Biſcht du die Poſtfräuln? Ja, ich hab’s mir gleich
denkt! Mit Verlaub hätt’ ich eine Bitt’ von wegen ’m Ein-
ſtellen!“
„Was willſt denn einſtellen in der Poſtkanzlei?“
„Nicht viel, bloß den Kübel da.“
„Was iſcht denn drinnen?“
„Gleich nur etwas Wagenſchmier’.“
Den Duft hatte Lina inzwiſchen in die Naſe bekommen
und ſelbſtverſtändlich verweigerte ſie nun die Einſtellung.
„Was? Nicht aufheben willſt mir den Kübel?! Wär’
nicht übel! Weißt was, dann kauf ich nichts mehr bei dir!
Ich ſtreik’ wie die Spezinaldemokraten in Innsbruck! So
was! Das Poſtmenſch will nicht einſtellen laſſen! Zu was
iſcht denn die Poſt da!“
Ingrimmig ging die Bäuerin mit ihrem Wagenfett
weiter und überrannte ein Bübchen, das nun wie ein
Igel in die Kanzlei rollte und nicht wenig zeterte.
Mitleidig fragte Lina, was denn fehle und was der
Bub wolle?
Der kleine Gebirgler ſtand auf, beguckte ſeine nackten,
ſtaubigen Knie und fragte dann: „Sind meine Pfoaden
(Hemden) da?“
„Das kann ich doch nicht wiſſen!“
„So, nicht? Ja, biſcht du denn nicht die Poſtfräuln?“
„Doch! Aber ich kenne den Inhalt der Paketſendungen
nicht. Erwarteſt du ein Paket?“
„Ich? Nein! Ich ſoll bloß Pfoaden kriegen.“
„Die Hemden müſſen aber doch verpackt ſein!“
„Die meinigen nicht, die kommen in einem Brief.“
„Na, geh nur wieder, Kleiner, es iſcht noch nichts für
dich da!“
Nun heulte der kleine Burſche herzzerbrechend, daß
ihm das neue Poſtfräulein ſeine Hemden nicht geben wolle,
und entfernte ſich unter Drohungen, über welche Lina hell
auflachen mußte. Verſprach der Knirps doch, er werde ſie
beim Lehrer verklagen, und das Poſtfräulein müſſe dann
etliche Stunden ſtrafſitzen und kriege kein warmes Mittags-
mahl.
Lina hatte ſich wieder an den Kanzleitiſch geſetzt und
begann zu arbeiten, als plötzlich durch das offene Fenſter
ein Brieflein in die Stube geflogen kam. Raſch eilte das
Poſtfräulein aus Fenſter und konnte noch ſehen, wie eine
Bauerndirne davonſprang, die als Aufgeberin des Brief-
leins nicht geſehen ſein wollte. Lina fand es neu, ſtatt
den Briefkaſten zu benutzen, die Briefe direkt in die Poſt-
kanzlei zu werfen.
Den Brief vom Boden aufhebend, las Lina die Adreſſe,
die alle Findigkeit der Poſt herausforderte, denn dieſelbe
lautet: „Der Brief gehert nach St. Jakob nach Gand in
das inderſte Haus dem Bub wo ſein Vader gſtorbe iſcht.“
Lina greift nach dem poſtaliſchen Ortslexikon; wie ver-
muthet, gibt es eine Anzahl von dem heiligen Jakob ge-
weihten Orten. Doch halt, eine Ortſchaft Gand exiſtirt
ja am Arlberg, alſo wird das Sankt Jakob am Arlberg
gemeint ſein, und dorthin ſpedirte das Poſtfräulein den
auf ſo ſeltſame Weiſe aufgegebenen und adreſſirten Brief,
der, wie ein ſpäterer Laufzettel meldete, richtig dem ge-
meinten Empfänger zugeſtellt worden iſt.
„An Abwechslung fehlt es wahrlich nicht in dieſem
Poſtamt!“ murmelte Lina, und wie zum Beweis er-
ſchien ein Bauer, der einen mächtigen Bund Kleidungs-
ſtücke ſchleppte, und bat, die Expeditorin möge das Zeug
heute noch an den „Jörgei, der bei der Militär in Trient
iſcht“, ſchicken.
„Recht gern! Nur müßt Ihr die Kleider ordentlich in
ein Paket verpacken und auf eine Poſtbegleitadreſſe die ge-
naue Adreſſe Eures Sohnes ſchreiben.“
„Müſſen muß ich gar nix, und ſchreiben thue ich nix,
weil ich die lauretaniſche (gemeint war die lateiniſche),
Schrift nicht kenn’.“
Lachend ſagte Lina: „Nun, die Poſtbegleitadreſſe will
ich Euch ſchon ſchreiben. Aber das Verpacken der Kleider
iſcht Eure Sache!“
„Schick ſie nur ſo fort! Auf der Poſt wird nix ge-
ſtohlen!“
„Geht nicht, mein Lieber! Apropos, dürfen denn die
Soldaten in Trient in Zivil gehen?“
„Sell dürfen ſie nicht!“
„Wozu ſchickt Ihr aber Eurem Sohn Zivilkleider?“
„Du, weißt, ſell geht dich nix an! Und ich mag nimmer
weiter diskuriren mit dir. Ich gib jetzt das Gewand unten
auf der Eiſenbahn auf!“ Sprach’s und ging mit dem
Kleiderbund ab. (Fortſetzung folgt.)
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