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Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 30. März 1900.

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München, Freitag Allgemeine Zeitung 30. März 1900. Nr. 87.
[Spaltenumbruch]

aber zwiſchen den agrariſchen und den induſtriellen Kreiſen
können nur dazu beitragen, denen, die dem Auslande
gegenüber das Intereſſe der Geſammtheit des deutſchen
Volkes unter Innehaltung einer wohlerwogenen Durch-
ſchnittslinie vertreten, ihre Aufgabe zu erſchweren.

Sitzung des preußiſchen Abgeordnetenhaufes.

Auf der Tagesordnung ſteht die
Interpellation Baenſch-Schmidtlein u. Genoſſen.
Kultusminiſter Studt erklärt ſich zur ſofortigen Beantwortung
bereit.

Abg. Baenſch-Schmidtlein (freikonſ.) begründet ſeine
Interpellation und erſucht den Miniſter, noch in dieſem Jahre
eine Vorlage einzubringen, die eine gerechte Vertheilung der
Schullaſten herbeiführt.

Der Kultusminiſter verliest eine Erklärung, welche
darin gipfelt, daß die Regierung für dieſen Zweck in den
nächſten Etat 10,000,000 M. einſtellen werde. Um eine durch-
greifende geſetzgeberiſche Reform durchzuführen, müſſe feſt-
geſtellt werden, was die Gemeinden überhaupt für öffentliche
Zwecke aufwenden. Abg. Dr. v. Heydebrand (konſ.) er-
klärt eine Statiſtik für völlig überflüſſig. An dem bisherigen
Charakter der Schule dürfe nichts geändert werden. Vor
allem darf nicht etwa eine Staatsſchule daraus werden.

Abg. Seydel (nat.-lib.) bemerkt, eine Reform des Schul-
vorſtandes müſſe verlangt werden. Abg. Dr. Porſch (Centr.)
erkennt die Mißſtände an und verlangt eine Berückſichtigung
der konfeſſionellen Minderheiten. Vor allem müſſe feſtgelegt
werden, daß die Schule für alle Zeit einen konfeſſionellen
Charakter zu tragen habe. Abg. Graf v. Kanitz (konſ.) führt
aus, die Schule ſei eine Verauſtaltung, aber nicht eine Ein-
richtung des Staates. Abg. Friedberg (nat.-lib.) erklärt,
es ſei wunderbar, daß das Miniſterium auf einen einmüthig
geäußerten Wunſch des Hauſes ſo wenig Rückſicht nehme.
Die Abgg. Frhr. v. Zedlitz und Graf zu Limburg-
Stirum
ſprechen den dringenden Wunſch aus, daß ſchon die
nächſte Seſſion eine Vorlage über die Schulunterhaltungs-
pflicht bringe. Ein allgemeines Schulgeſetz brauche man jetzt
nicht. Der Kultusminiſter erklärt, auf jeden Fall ſei eine
eingehende Statiſtik nothwendig. Den chriſtlich-konfeſſionellen
Charakter werde die Volksſchule wahren. Er freue ſich, daß
in dieſer Beziehung eine ſolche Einmüthigkeit zutage getreten
ſei. Nach weiteren Bemerkungen der Abgg. Kopſch und
Rickert ſchließt die Beſprechung. Es folgt die zweite
Berathung des Geſetzentwurfs betr. die Polizei-
verwaltung der Stadtkreiſe Charlottenburg,
Schöneberg und Rixdorf.
Abg. Dr. Arendt (freikonf.)
erinnert an die Aeußerung Bebels im Reichstage, daß die
Unterſuchung über die Verſtümmelung der Statuen in der
Siegesallee eingeſtellt worden ſei, nachdem die Polizei er-
kannt habe, daß die Thäter den beſitzenden Klaſſen angehören.
Miniſter v. Rheinbaben bezeichnet den Vorwurf Bebels
als unerhört. Es ſei auch nicht der Schatten eines Beweiſes
dafür erbracht; mancherlei ſpreche ſogar dagegen. Die Be-
ſchädigungen ſeien wahrſcheinlich durch einen Hammer herbei-
geführt, alſo nicht im Uebermuth durch einen Stockſchlag. Es
ſcheint alſo eine mit Vorbedacht vollführte That. — Der
Geſetzentwurf wird darauf nach kurzer Erörterung au-
genommen. Nächſte Sitzung
morgen, 11 Uhr. Tages-
ordnung: Kleinere Vorlagen, Petitionen. Schluß 3 Uhr.

Oeſterreich-Ungarn.
Vom Wiener Gemeinderath.

* Die Wiener Gemeindeverhältniſſe geſtalten ſich nach der
Inkraftſetzung des neuen Gemeindeſtatuts und der neuen
Wahlordnung recht unerquicklich. Der Gemeinderath iſt
infolge des unwiderruflichen Austritts von 35 fortſchritt-
lichen Mitgliedern
auf eine automatiſche Bewilligungs-
maſchine der HH. Lueger, Strobach u. ſ. w. herabgeſunken,
dabei iſt kaum die zu einer gültigen Abſtimmung erforderliche
Mitgliederzahl aufzutreiben. Mit zweifelhafter Rechtsbeſtändig-
keit wurde geſtern gleich die ſchwebende Schuld im Be-
trage von 12,000,000 Kronen bewilligt. Vorgeſtern wurde
der Voranſchlag für die zweite Hochquellenleitung für
Wien kurzerhand votirt, ein Unternehmen, das bis 100,000,000
Kronen und mehr zu verſchlingen droht. Die Liberalen
arbeiten nun, in der Hoffnung, daß dadurch ein Wandel in
der üblen Situation geſchafft werde, auf Neuwahlen hin
und die Regierung wird ſich möglicherweiſe zur Auflöſung
des jetzigen Gemeinderaths entſchließen müſſen.

[Spaltenumbruch]
Der Kohlenarbeiter-Strike.

* Die Beendigung des Strikes in den Kohlenbergwerken
wird, wie von vornherein nicht anders zu erwarten war,
hier und da noch durch mancherlei Zwiſchenfälle geſtört. Die-
ſelben rühren insbeſondere von Racheakten an Strike-
brechern
her; ſo hatte eine Attacke auf einen Strikebrecher
in Dux einen Konflikt der ſchon wieder in Arbeit befind-
lichen Häuer mit der Werkleitung zur Folge, der mit einem
neuen Ausſtand der Häuer endigte. Es war die ſonderbare
Forderung an die Werkleitung geſtellt worden, ſämmtlichen
Arbeitern zu kündigen, die während des allgemeinen Strikes
gearbeitet hatten. Die Bedrohung der Arbeitswilligen iſt auch
in Kladno die Urſache der noch immer nicht günſtigen
Situation; es ſind hier noch etwa 68 Proz. der Arbeiter im
Ausſtand. Zur Schicht kommende Bergleute wurden mit
Revolvern angefallen und an Arbeiterhäuſern wurden Brand-
legungen ausgeführt. Doch wird nun wohl bald auch an
dieſem Orte Ruhe und normaler Arbeitsbetrieb eintreten. Im
Mähriſch-Oſtrauer Revier, wo der Strike ſeinerzeit den
relativ größten Umfang angenommen hatte und am hart-
näckigſten durchgeführt wurde, iſt derſelbe jetzt faſt vollſtändig
beigelegt. Es fehlten auf der Mittwoch-Frühſchicht im Weſt-
revier noch etwa 1100 Gruben- und 700 Tagarbeiter, im
Oſtrevier Niemand; die längſte Zeit aber ſtrikten hier 25,000
Mann und mehr. Die Kohlenförderung ſoll jetzt ſogar un-
gewöhnlich ſtark ſein, da die Arbeiter ſich alle Mühe geben,
die Lohnverluſte einzubringen.

Deutſch-Radikale und Deutſch-Liberale in Tirol.

Eine dieſer Tage von der
deutſch-radikalen Richtung Tirols („Deutſcher Wähler-
verein“) ausgegangene Kundgebung, worin die dentſche Ge-
meinbürgſchaft, beſonders wegen ihres Verhaltens auf der
Verſtändigungskonferenz, aufs ſchärſſte angegriffen wurde,
veranlaßte den „Deutſch-liberalen Verein“ zu einer
Gegenkundgebung, um die Haltung der Gemeinbürgſchaft zu
vertheidigen und zu rechtfertigen und die radikalen Inſulten
zurückzuweiſen. Reichstagsabgeordneter Dr. v. Grabmayr
(liberaler Großgrundbeſitz) ging zwecks Begründung dieſes
Abwehrmanifeſtes des Deutſch-liberalen Vereins in deſſen
geſtriger Generalverſammlung ausführlich auf die allgemeine
politiſche Lage ein und lieferte dabei ſchätzenswerthe Beiträge
zur Beurtheilung der aktuellſten Fragen. Was unſern Ein-
tritt in die Verſtändigungskouferenz vor Feſtlegung der
deutſchen Staatsſprache anbetrifft, ſagte Grabmayr, ſo
ſehe auch ich es als eine Nothwendigkeit für Oeſterreich an, daß es
eine Staatsſprache habe, und zwar die deutſche. Aber ich bin
überzeugt, daß in dieſer Form die Einführung der deutſchen
Staatsſprache unter den heutigen Verhältniſſen nicht möglich iſt.
In jenen Zeiten, wo die Deutſchen eine Zweidrittelmajorität
im Reichsrath hatten, da wäre es an der Zeit geweſen, die
deutſche Staatsſprache einzuführen. Daß die deutſchen
Abgeordneten dies damals unterlaſſen haben,

iſt der größte Vorwurf, den man ihnen machen
muß.
Was die große Verfaſſungspartei damals hatte machen
können, können wir heute — nicht mehr machen. Unter
425 Abgeordneten ſind 198 Deutſche und unter dieſen leider
eine nicht geringe Zahl „Auchdeutſche“, auf die wir nicht
rechnen können. Das Geſetz der Zahl müſſen wir gelten
laſſen. Wie wollen wir eine ſolche Forderung durchſetzen?
Sollen wir den Staatsſtreich verlangen? Das kann ich nicht.
Die deutſche Staatsſprache in vollem Umfang können wir
nicht durchſetzen. Das wurde auch beim Entwurf des Pfingſt-
programms, wobei entſchieden nationale Männer wie Dr.
Lemiſch mitwirkten, wohl erwogen. Es wurde damals be-
ſchloſſen, ſich mit der deutſchen Vermittelungsſprache
zu begnügen. Das iſt nur ein formeller Unterſchied. Mehr
können wir nicht erreichen, als daß das Geltungsgebiet der
deutſchen Sprache in dem Umfang feſtgelegt wird, in dem
ſie heutzutage beſteht. Daß wir ihr Gebiete erobern, die ſie
heute nicht hat, iſt unmöglich. Ich bedaure, daß das
Miniſterium Koerber es in dieſem Punkt an der Klarheit
hat miſſen laſſen, die wir von ihm fordern können.
Wenn wir uns fragen, was der grundlegende Unterſchied
zwiſchen der politiſchen Haltung der Schönerer-Gruppe
und der deutſchen Gemeinbürgſchaftspartei iſt, ſo
beſteht dieſer darin, daß letztere den aufrichtigen Willen hat,
wenn möglich den Frieden und eine Verſtändigung zuſtande
zu bringen, unter der unerläßlichen Vorausſetzung, daß unſer
nationaler Beſitzſtand geſichert wird. Wir wollen Frieden
und Verſtändigung, ſonſt geht dieſes Reich zugrunde. Wir
[Spaltenumbruch] von der deutſchen Gemeinbürgſchaft aber wollen die Kata-
ſtrophe aufhalten und ſind bereit, gewiſſe Konzeſſionen zu
machen, ſolange dieſe nicht an die Lebensbedin-
gungen unfres Volkes taſten.
Dr. v. Grabmayr be-
ſprach ſodann die Stellung zum Miniſterium Koerber und
ſagte: Durch den Sturz Clary’s wurde uns ein Schlag ver-
ſetzt. Clary war wieder einmal ein deutſcher Mann, offen
und wahr. Dem Miniſterium Koerber ſtehen wir kühler
gegenüber. Redner bezeichnet den Miniſterpräſidenten als
ungemein geſchickten Mann, als eine feine Blüthe des öſter-
reichiſchen Bureaukratismus. National iſt er gar nicht. Für
ihn gibt es nur das Intereſſe, das Staatsſchiff wieder heraus-
zulotſen. Daß Koerber irgend einen entſcheidenden Schritt
in Betreff des ſchwebenden nationalen Streites unternimmt,
ohne ſich der Zuſtimmung der Deutſchen verſichert zu haben,
brauchen wir nicht zu fürchten. Wenn der Abſolutismus
käme, würde er keiner Partei zum Wohle gereichen.

Großbritannien.
Spanien, England und Frankreich in Marokko.

England ermuthigt Spanien
nach Kräften, der drohenden franzöſiſchen Vorwärts-
bewegung
gegen Marokko entgegenzuarbeiten und die
ſpaniſchen Intereſſen im mauriſchen Reich zu wahren. Der
Premierminiſter Señor Silvela gab neulich die Erklärung
ab, daß die ſpaniſche Geſandtſchaft unter Ojeda — die für
den Sultan ſehr werthvolle Geſchenke mitnimmt —
den Zweck habe, gewiſſe frühere Abmachungen neuerdings zu
erörtern, Anordnungen für genügende Waſſerzuleitung in den
zu Spanien gehörigen befeſtigten Plätzen zu treffen, genaue
Gebietsabgrenzungen zu vereinbaren und ein definitives Ueber-
einkommen mit Bezug auf Santa Cruz de Mar Pequeña ab-
zuſchließen. Silvela fügte hinzu, daß die ſpaniſche Regierung
bei ihren Verhandlungen mit dem Sultan eine Ueberein-
ſtimmung mit den übrigen Mächten herzuſtellen ſuche. In
Anknüpfung hieran ſpricht die „Epoca“ die Befürchtung aus,
daß über kurz oder lang eine ehrgeizige Macht — ſoll natürlich
heißen Frankreich — einen Umſturz herbeizuführen ſuchen
wird, und daß Spanien nicht imſtande ſei, Widerſtand zu
leiſten, wenn nicht die übrigen Mächte ſein Vorgehen unter-
ſtützten. Daß ſich eine Uebereinſtimmung „aller übrigen
Mächte“ herſtellen ließe, iſt wohl ſehr unwahrſcheinlich. Natürlich
hat England das größte Intereſſe, im gegenwärtigen Augen-
blick das Aufrollen der marokkaniſchen Frage zu verhindern.
Und es heißt, kein Geheimuiß verrathen, daß die britiſche
Politik das Ziel im Auge hat, ihre Aufmerkſamkeit, ſobald es
gelungen iſt, Südafrika vollſtändig unter britiſche Botmäßig-
keit zu bringen, auf Marokko und Abeſſyuien zu richten.
Die Schlüſſel zur britiſchen Weltherrſchaft liegen an den
beiden Enden des Mittelmeers, und die Engländer können
nie ſicher ſein, daß ihnen dieſe Schlüſſel nicht entriſſen werden,
ſolange ſie nicht auch die marokkaniſche Seite der Straße von
Gibraltar in ihrer Gewalt haben, und ſolange der Regus
von Abeſſynien in der Lage iſt, ihre Herrſchaft am Nil vom
Süden her zu bedrohen. Die Franzoſen wiſſen aber ſehr
wohl, daß England ſich die Löſung dieſer beiden Fragen auf-
ſparen möchte, bis es wieder vollſtändig freie Hände hat —,
und ihr Beſtreben, ſich gerade jetzt in Marokko und Abeſſynien
entſcheidende Vortheile zu ſichern, iſt daher ſehr begreiflich.
Ob die Umſtände und die Machtverhältniſſe die Ausführung
der franzöſiſchen Pläne geſtatten, iſt vielleicht fraglich. Der
Wille, einen Schlag zu führen, iſt jedenfalls vor-
handen.
Das beweiſen die myſteriöſen Truppenbewegungen,
die ſeit einiger Zeit bei Oran, dicht an der marokkaniſchen
Grenze, ſtattſinden.

Frankreich.
Die Ordensmanie.

Ueber franzöſiſche Miniſter-
kriſen,
beſonders wenn ſie nicht eingetreten ſind, ſondern
nur eventuell hätten eintreten können, zu ſchreiben, lohnt ſich
nicht. Wie die Republik hier etikettirt iſt, ob Waldeck oder
Ribot, kann uns ungeheuer gleichgültig ſein; es iſt das für
uns, um ein franzöſiſches Sprichwort von dem „bonnet
blane on blane bonnet“
frei ins Deutſche zu überſetzen, Jacke
wie Weſte. Waldeck ſtützt ſich ein bischen mehr auf die
Linke, leuguet das aber, und Ribot, ſein muthmaßlicher
Erbe, würde ſich ein bischen mehr an die Rechte anlehnen,
aber auch nur heimlich. Im übrigen wird im Innern weiter
gewurſtelt und nach außen weiter an dem Revanchefaden ge-



[Spaltenumbruch]

ſie nach vorliegenden Briefen, Poſtſtücken, Begleitadreſſen,
Zertifikaten und dergleichen. Nichts da, als unterm Amts-
tiſch ein Kiſtchen Käſe, das die Poſtmeiſterin vergeſſen und
als Fußſchemel benutzt zu haben ſcheint. Flink befördert
Lina dieſen Duftſpender hinaus in den Flur und öffnet
dann ſämmtliche Fenſter. Ein weiteres Geſchäft iſt die
Entfernung der Fruchtvorräthe und ſo weiter aus der
Kanzlei, wobei das Poſtfräulein die Gegenſtände ſchlank-
weg in die nächſtbeſte Stube verbringt. Das erzeugte natür-
lich Lärm, und dieſer lockte wieder die Bäuerin herbei, die
den Vorgang zu ahnen ſchien und lebhaft proteſtirte. Lina
aber forderte vor allem Einlöſung des Bons, widrigen-
falls das Manko im Protokoll vermerkt werden müßte.
Das ſtopfte der halbblinden Poſtmeiſterin ſofort den
Mund, doch that ſie dergleichen, als müſſe jemand anders
ſolchen Zettel in die Geldtaſche gelegt haben. Die Leute
ſeien ja ſo ſchlecht heutzutage. Das Poſtfräulein beſtand
aber auf ſofortiger Baareinlöſung, da der Zettel die Unter-
ſchrift „Poſtmeiſterin“ trage, und ſeufzend holte die depoſſe-
dirte Poſtmeiſterin die Fünfguldennote herbei, hoch be-
theuernd, nun nichts mehr von der Malefizpoſt wiſſen zu
wollen.

„Das iſcht auch nicht nöthig!“ verſicherte Lina und
fragte, ob ſie in dem Bett dort nächtigen ſolle.

„Freilich, iſcht wohl ein feines Bett, lauter echte
Hühnerfedern und ſo viel gut ſchwer!“

Lina bat um friſches Linnen, kam aber übel an, denn
die Bäuerin ſchwor, daß Niemand drin gelegen habe als
die Zeit her, ſo etliche Monate, der Pintſcher. Mit der
Wäſche müſſe geſpart werden, weil die Seife ſo viel theuer
ſei. Die Unterredung endete gleichwohl damit, das ſich die
ſparſame Poſtmeiſterin zur Herausgabe eines friſchen
Linnen bequemte.

Und nun fing das Poſtfräulein zu amtiren an, indem
es die Formulare ordnete, Tinte ins Fäßchen goß und dann
das im Hausflur befindliche Briefkäſtchen entleerte. Viel
iſt nicht darin, bloß eine Korreſpondenzkarte, die einige
Tage beſchaulicher Ruhe im Kaſten genoſſen zu haben
ſcheint, denn der Abſender hat ein Datum vor drei Tagen
hinten angeſetzt. Und der Inhalt der Karte lautet: „Her
Gaskomiſſär kumens gleich, ich hab die Maul- und Klauen-
[Spaltenumbruch] ſeuche, womit ich zeichne Georg Augenthaler, Einödbauer
im Hartberg.“

Beluſtigt legte Lina dieſe ergötzliche Karte ins Aus-
laufsfach.

So kommt der Schluß der Amtszeit, die ſechste
Stunde, heran, wovon ſich die Expeditorin durch einen
Blick auf ihre Taſchenuhr überzeugt. Schon will Lina
ſchließen, da werden ſchwere Tritte im Flur laut, und ein
Bauer flucht draußen. Es klopft, und auf das „Herein!“
geht die Thür auf, durch welche ein Bergbauer eine Ziege
ſchiebt.

Erſtaunt ruft das Fräulein: „Ja, was ſoll denn das
heißen? Hier iſcht doch kein Stall!“

„Iſcht da die Poſt?“

„Ja, hier iſcht die Poſtkanzlei. Was wollen Sie denn
mit der Geiß in der Poſt?“

„Frag nicht ſo dumm! Aufgeben will ich die Geiß und
per Poſt fortſchicken, weißt, dem Jackelbauern in St. Niko-
laus. Da haſt es und mach’s preſſant!“

Das Poſtfräulein iſt ſtarr vor Erſtaunen. Der Kaiſer-
lich Königlichen Poſt zuzumuthen, eine lebende Ziege zu
befördern, das iſt noch nicht vorgekommen. Endlich faßt
ſich die Expeditorin ſo weit, um dem Bauern begreiflich
machen zu können, daß die Poſt dergleichen überhaupt
nicht befördere.

„So, nicht? Das wär’ was ganz Neues. Zu was biſt
denn du da auf der Poſt?“

„Jedenfalls nicht zum Geißenhüten! Entfernen Sie ſich
mit Ihrer Ziege!“

„Ich rath dir im guten: gleich verſchickſt mir die Geiß!
Auf ein Sechſerl Trinkgeld ſoll’s mir nicht ankommen.“

„Ich muß laut Vorſchrift die Annahme verweigern.“

„Kreuzſakra! Mögen thuſt nicht und zu herriſch biſcht,
das Viech anzugreifen. Ich beſchwer’ mich! So eine herri-
ſche Trampin gehört nicht auf die Poſt!“ Wüthend ſchob
der Bauer ſeine Ziege aus der Kanzlei und ſchimpfte,
was das Zeug hielt.

Lina lächelte; der Dienſtanfang verſprach niedlich zu
werden.

Ein Stündchen widmete das Fräulein nun dem Aus-
kramen des Handgepäcks, dann ward es zum Abendeſſen
[Spaltenumbruch] gerufen. Die Poſtfräuleins haben nämlich in entlegenen
Orten meiſt Koſt und Quartier beim Inhaber der Poſt-
meiſterei und werden mit zehn bis fünfzehn Gulden baar
für den Poſtdienſt entſchädigt.

Daß Lina mit dem alten Knecht und den zwei Dirnen
am ſelben Tiſch eſſen mußte und die grobe Geſindekoſt vor-
geſetzt bekam, das war eine weitere Beigabe zu den An-
nehmlichkeiten im Leben eines Poſtfräuleins im Gebirg.

Der Abend aber gehörte Lina, und nach ſorgfältigem
Verſchluß der Kanzlei ward ein Spaziergang den See ent-
lang gemacht zur Erquickung der einſamen Seele.

(Fortſetzung folgt.)



G. Jean Jacques Rouſſeau’s Kinder.

Mrs. Mac-
donald, eine Schottin, hat ſich in den Kopf geſetzt, aus ihrem
verehrten Rouſſeau einen Heiligen zu machen. Das Unter-
faugen iſt ſchwierig. Und wenn es ihr auch gelänge, ihn
von gewiſſen kleinen Sünden rein zu waſchen, würde ſie da-
durch den Ruhm ſeines Namens weſentlich erhöhen? Wäre
es nicht ſchade, wenn ihm ſein Privatleben nicht den Stoff
zu ſeinen Confessions geliefert hätte? Mrs. Macdonald will
dem Leben ihres Rouſſeau durchaus dieſelbe Sittenſtrenge und
Reinheit andichten, wie ſie einem presbyterianiſchen ſchottiſchen
Paſtor zukommt. Sie beſchäftigt ſich in einem Artikel der
„Revue des Revues“ mit den fünf Kindern Jean Jacques’,
die er nach ſeinem eigenen Geſtändniſſe ins Findelhaus ge-
bracht hat, und ſtellt die Behauptung auf: Rouſſeau hat
überhaupt kein Kind gehabt. So hat alſo Therèſe Levaſſeur
fünfmal mit ihm Komödie geſpielt und ihn zum Vater ihrer
Kinder geſtempelt, deren Vater er in Wirklichkeit nicht war.
Das iſt höchſt unwahrſcheinlich: ſelbſt ein Genie kann nicht
bis zu dieſem Grade achtlos und zerſtreut ſein. Auch bringt
Mrs. Macdonald keine ſtichhaltigen Beweiſe bei, ſondern nur
unbeſtimmte Vermuthungen. Uebrigens wäre Rouſſeau’s ſitt-
liches Verſchulden damit gar nicht aus der Welt geſchafft
oder auch nur gemildert: der moraliſche Akt, der ſeine Schuld
bildet, bliebe beſtehen, nämlich die Unterbringung der Kinder
im Findelhaufe.



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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 87, 30. März 1900, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine87_1900/2>, abgerufen am 18.12.2024.