Allgemeine Zeitung, Nr. 74, 14. März 1848.Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung [Spaltenumbruch]
Deutschland. * Bremen, 8 März. Was lange Jahre nicht vermochten, Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung [Spaltenumbruch]
Deutſchland. * Bremen, 8 März. Was lange Jahre nicht vermochten, <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0017"/> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <front> <titlePage type="heading"> <docTitle> <titlePart type="main"> <hi rendition="#b">Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung</hi> </titlePart> </docTitle> </titlePage> <docImprint> <docDate>vom 14 März 1848.</docDate> </docImprint> </front><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <body> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Deutſchland.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="4"> <dateline><hi rendition="#b">* Bremen,</hi> 8 März.</dateline> <p>Was lange Jahre nicht vermochten,<lb/> haben wenige Stunden bewirkt. <hi rendition="#g">Die Reform unſerer Verfaſ-<lb/> ſungiſt durch eine ebenſo friedliche als glückliche Revolution<lb/> bewerkſtelligt.</hi> In dieſem Augenblick ſchwimmt die ganze Stadt in<lb/> dem Lichtmeer einer improviſirten Illumination. Eine fröhliche Menge<lb/> durchzieht in ſchönſter Ordnung die Straßen. Bürger und Bürger-<lb/> ſoldaten mit Frauen und Kindern freuen ſich des unblutigen Sieges,<lb/> der ihnen und ihren Nachkommen ein neues politiſches Leben, eine neue<lb/> Aera ihres Freiſtaats verheißt. Doch ich will ordentlich erzählen wie<lb/> es bei uns hergegangen iſt. Die Schnelligkeit der Bewegung und ihres<lb/> Reſultats iſt für viele Leute überraſchend. Für uns iſt ſie es nicht.<lb/> Die Frucht war reif, es bedurfte nur eines Windſtoßes hier wie überall<lb/> in Deutſchland um ſie fallen zu machen. Die franzöſiſche Februarrevo-<lb/> lution hat dieſen äußern Anſtoß gegeben. Schon am Faſtnachtabend<lb/> den 6 d. M. zeigte ſich eine unruhige Bewegung in der Stadt. Und wie<lb/> bei dergleichen immer die trüben Elemente der Geſellſchafteinen Augenblick<lb/> als Blaſen obenauf kommen, ſo bildete auch bei uns ein ganz gewöhnlicher<lb/> Straßenkrawall, durch trunkene Arbeiter, fremde Handwerksburſche<lb/> und obligate Gaſſenbuben veranlaßt, ſeine ziel- und zweckloſe Thätigkeit<lb/> im Zerſtören einiger Thorſperrbuden, Verjagung der Sperrgeld-<lb/> einnehmer, Zerſchlagen der Laternen, Fenſtereinwerfen in öffentlichen<lb/> Gebäuden und Privathäuſern. Das Linienmilitär, hier als fremde ge-<lb/> worbene Truppe ohne Anſehen, mußte bald zurückgezogen und die Bür-<lb/> gerwehr aufgeboten werden, welche vereint mit der Cavallerie dem<lb/> nächtlichen Spektakel bald ein Ende machte. Am folgenden Tag (den<lb/> 7 März) war die Empörung aller Bürger über dieſe Auftritte allge-<lb/> mein. Ider fühlte dieſelben bei dem Ernſte der Zeit als eine Schande<lb/> für die Stadt, und mit und ohne Verabredung verband ſich alles der<lb/> Wiederholung ſolchen Unfugs energiſch entgegenzutreten. Bürgerwehr,<lb/> Schützengeſellſchaften und andere Vereine, namentlich der von <hi rendition="#aq">Dr.</hi> Karl<lb/> Andrée geſtiftete Arbeiterverein „Vorwärts“ der Cigarrenmacher, übernah-<lb/> men es die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die „Stumme von Portici“<lb/> war für den Abend des 7 angekündigt, und der Umſtand daß der Senat<lb/> einige Tage zuvor die Aufführung dieſer revolutionären Oper aus<lb/> Furcht vor Unruhen verboten hatte, veranlaßte eine Art Auflauf vor<lb/> dem Schauſpielhauſe. Der Pöbel drang in das Haus und nahm ohne<lb/> Zahlung die erſten Logen ein. Allein alsbald erſcheint eine Abtheilung<lb/> Bürgerwehr und mehrere hundert unbewaffnete Arbeiter, Mitglieder<lb/> des Vereins „Vorwärts“ mit weißen Armbinden, welche ſofort Ordnung<lb/> herſtellten, die Eindringlinge ohne Mühe verjagten und die Ordnung<lb/> ohne Militär und Polizei, die ſich nirgends zeigten, ſo vollkommen auf-<lb/> recht erhielten daß das Stück vollkommen ungeſtört bei vollem Hauſe<lb/> zu Ende geſpielt werden konnte. Auch vor dem Hauſe verlief ſich die<lb/> Maſſe bald. Ein gleicher Geiſt der Ordnung zeigte ſich überall. Als<lb/> die Bewohner eines vor der Neuſtadt gelegenen Stadttheils in die Stadt<lb/> eindrangen, wurden ſie von Arbeitern und Bürgern handgreiflich zu-<lb/> rückgewieſen, und wo Gaſſenjungen Geſchrei erhoben, ward dasſelbe<lb/> bald durch herbeieilende Bürger in Wehgeſchrei verwandelt. Eben<lb/> weil die Bürgerſchaft ernſte Schritte beabſichtigte, ward es <hi rendition="#g">Ehren-<lb/> ſache</hi> aller Verſtändigen und Wohldenkenden die Bewegung würdig<lb/> und von jedem Exceſſe rein zu erhalten. Auch die Preſſe ſprach<lb/> ſich in der Bremer Zeitung mit aller Entſchiedenheit in dieſem Sinne<lb/> aus. Ein Artikel der letztern, „Volk und Pöbel,“ welcher alle Verſtän-<lb/> digen zur Aufrechthaltung der Ordnung ermahnte, und jeden der in ſo<lb/> ernſter Zeit die große deutſche Bewegung auch nur durch müſſige Theil-<lb/> nahme gedankenloſer Neugier an Exceſſen des Muthwillens trübe, zum<lb/> Pöbel rechnete, ward an die Mitglieder des Arbeitervereins vertheilt und<lb/> machte den beſten Eindruck. Indeſſen waren bereits von der Bürgerſchaft<lb/> Schritte geſchehen um eine nachhaltige Verfaſſungsreform zu erwirken.<lb/> Ein im Januar geſtifteter „Bürgerverein“ zur Förderung ächten Bürger-<lb/> thums diente als Mittelpunkt. Eine Adreſſe an den Senat ward am<lb/> 7 berathen und beſchloſſen. Man erinnerte in derſelben daß ſeit 32 Jahren<lb/> vergeblich auf Erfüllung der Zuſage einer Verfaſſungsreform geharrt wor-<lb/> den ſey, welche den Freiſtaat zu einer Wahrheit mache. Man ſprach es<lb/> aus daß der Zuſtand des hieſigen Gemeinweſens an politiſchen Rechten ſei-<lb/> ner Mitglieder ſelbſt hinter abſoluten Staaten zurückgeblieben ſey. Eine<lb/><cb/> kleine Anzahl von Bürgern, vom Senate nach Gutdünken geladen, ver-<lb/> füge in Gemeinſchaft mit dem <hi rendition="#g">nur aus</hi> ihr und <hi rendition="#g">durch</hi> ſie gewählten Se-<lb/> nat in <hi rendition="#g">Geſetzgebung</hi> und <hi rendition="#g">Beſteurung</hi> über Perſonen und Eigen-<lb/> thum der Mitbürger, und das nicht <hi rendition="#g">öffentlich,</hi> ſondern <hi rendition="#g">geheim,</hi><lb/> hinter verſchloſſenen Thüren. Nicht die Verhandlungen und Protokolle,<lb/> ſondern nur die <hi rendition="#g">Reſultate</hi> würden veröffentlicht. Man ſtellte dem-<lb/> gemäß drei Forderungen: 1) <hi rendition="#g">Vertretung aller Staatsbürger<lb/> mit gleicher Wahlfähigkeit und Wahlberechtigung aller<lb/> Bürger.</hi> 2) <hi rendition="#g">Oeffentlichkeit der Conventsſitzungen und<lb/> vollſtändigen Druck der Verhandlungen mit Namens-<lb/> nennung der Redner.</hi> 3) <hi rendition="#g">Freiheit der Preſſe.</hi> Am Mor-<lb/> gen des 8 ward dieſe Adreſſe von einer Deputation aus zehn Männern<lb/> beſtehend, dem Senate überbracht, der ſich im alten Rathhauſe verſam-<lb/> melt hatte. Auf den Rath eines alten Bürgers, des Tiſchlermeiſters Wiſch-<lb/> mann, ſchloß ſich faſt die ganze Bürgerſchaft dem Zuge an, und harrte auf<lb/> dem Marktplatze vor dem Rathhauſe des Ausgangs. Ueber vier Stun-<lb/> den, von halb 12 bis 4 Uhr, dauerten die Verhandlungen, und wäh-<lb/> rend dieſer ganzen Zeit bewährte die aus vielen Tauſenden beſtehende<lb/> Bürgerverſammlung die ruhigſte und ernſteſte Haltung. Kein einziges<lb/> Geſchrei, kein Lärm, nicht einmal überlautes Geſpräch war während<lb/> des ſtundenlangen Harrens auf dem Platze zu vernehmen. Man ſah,<lb/> hier waren <hi rendition="#g">Männer</hi> verſammelt, <hi rendition="#g">welche wußten was ſie woll-<lb/> ten,</hi> Männer welche den Ernſt des Augenblicks empfanden und be-<lb/> griffen. Alle ungenügenden und halben Conceſſionen welche der Senat<lb/> anbot wurden ſofort von der Verſammlung der Bürger, denen die<lb/> Abgeordneten dieſelben mittheilten, verworfen. Im Gegentheil, es<lb/> wurden den drei Forderungen der Adreſſe Nachmittags um 2 Uhr<lb/> noch andere vier hinzugefügt, nämlich: 1) <hi rendition="#g">Oeffentlichkeit und<lb/> Mündlichkeit aller Gerichtsverhandlungen, namentlich<lb/> auch des Criminalgerichts.</hi> 2) <hi rendition="#g">Vollſtändige Trennung der<lb/> Juſtiz von der Verwaltung.</hi> 3) <hi rendition="#g">Geſchwornengerichte bei<lb/> politiſchen, criminellen und Preßvergehen</hi> (letzteres als<lb/> Ergänzung der vom Senat am Morgen desſelben Tages freiwillig<lb/> gewährten <hi rendition="#g">Preßfreiheit</hi>). 4) Hinwirkung des Senats mit allen<lb/> Kräften <hi rendition="#g">auf Herſtellung eines deutſchen Parlaments.</hi> Durch<lb/> die letztere Forderung wurde die bisher mehr <hi rendition="#g">locale</hi> Reformbewegung<lb/> zu einer <hi rendition="#g">nationalen</hi> erhoben. Als nach Ablauf von vier Stunden<lb/> noch immer keine befriedigende Antwort an die verſammelten Bürger<lb/> gelangte, ward es unter denſelben unruhig, und die Stimmung ſo be-<lb/> denklich daß ein Mitglied der Deputation, der Lehrer Feldmann, dem<lb/> Senat vorzuſtellen ſich erlaubte daß es Zeit ſey endlich eine runde<lb/> Antwort zu geben, und entweder <hi rendition="#g">alles</hi> oder <hi rendition="#g">nichts</hi> zu bewilligen.<lb/> Auf die Bemerkung daß der Senat ohne den ſogenannten <hi rendition="#g">Convent</hi><lb/> nichts derartiges entſcheiden könne, erfolgte die Erwiederung: der<lb/> Convent ſey nur der bisherige ungenügende Vertreter der Bürgerſchaft,<lb/> und ſeine Zuſtimmung ſey überflüſſig in einem Augenblicke wo faſt<lb/> die geſammte Bürgerſchaft <hi rendition="#aq">in corpore</hi> verſammelt ſey. Da endlich<lb/> erfolgte Nachmittags um 4 Uhr die entſcheidende Antwort: <cit><quote>„<hi rendition="#g">der Senat<lb/> genehmigt ſeinerſeits die ihm heute vorgetragenen Wün-<lb/> ſche der Bürgerſchaft alle, und wird zu ihrer ſofortigen<lb/> Ausführung die nöthigen Einleitungen treffen.</hi>“</quote></cit> Dieſe<lb/> Entſcheidung, in demſelben Augenblick durch die Preſſe veröffentlicht,<lb/> erregte allgemeine Freude. Aber auch dieſe Freude war würdig und<lb/> ohne alles Uebermaß des Jubels. Man ſah daß nur Erwartetes geſchehen,<lb/> daß nur Gerechtes erlangt war. Eine würdigere Haltung, eine männ-<lb/> lichere Durchführung der großen allgemeinen deutſchen Reformbewegung<lb/> hat bis jetzt kein Staat in Deutſchland aufzuweiſen. Die Bremer<lb/> Bürger <hi rendition="#g">verdienen</hi> freie Männer zu ſeyn, weil ſie ſich als ſolche, als<lb/> Männer gezeigt haben. Die Kaufmannſchaft und die höhern Stände<lb/> hatten ſich in unbegreiflicher Indifferenz von dieſer Bewegung zurück-<lb/> gehalten. Zu ſpät erkannten ſie ihren Irrthum, und ſuchten den<lb/> Fehler wieder gut zu machen. Eine Adreſſe an den Senat ward ent-<lb/> worfen und auf dem Muſeum unterzeichnet, in welcher man ausſprach:<lb/><hi rendition="#g">man theile die Wünſche der Bürgerſchaft,</hi> aber man fordere<lb/> den Senat auf nur in geſetzlichem Wege, d. h. mit Zuziehung des<lb/> Convents, vorzugehen. Es war zu ſpät, noch ehe die Adreſſe abge-<lb/> ſendet werden konnte, war die Entſcheidung bereits erfolgt, und die<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitungvom 14 März 1848.
Deutſchland.
* Bremen, 8 März.Was lange Jahre nicht vermochten,
haben wenige Stunden bewirkt. Die Reform unſerer Verfaſ-
ſungiſt durch eine ebenſo friedliche als glückliche Revolution
bewerkſtelligt. In dieſem Augenblick ſchwimmt die ganze Stadt in
dem Lichtmeer einer improviſirten Illumination. Eine fröhliche Menge
durchzieht in ſchönſter Ordnung die Straßen. Bürger und Bürger-
ſoldaten mit Frauen und Kindern freuen ſich des unblutigen Sieges,
der ihnen und ihren Nachkommen ein neues politiſches Leben, eine neue
Aera ihres Freiſtaats verheißt. Doch ich will ordentlich erzählen wie
es bei uns hergegangen iſt. Die Schnelligkeit der Bewegung und ihres
Reſultats iſt für viele Leute überraſchend. Für uns iſt ſie es nicht.
Die Frucht war reif, es bedurfte nur eines Windſtoßes hier wie überall
in Deutſchland um ſie fallen zu machen. Die franzöſiſche Februarrevo-
lution hat dieſen äußern Anſtoß gegeben. Schon am Faſtnachtabend
den 6 d. M. zeigte ſich eine unruhige Bewegung in der Stadt. Und wie
bei dergleichen immer die trüben Elemente der Geſellſchafteinen Augenblick
als Blaſen obenauf kommen, ſo bildete auch bei uns ein ganz gewöhnlicher
Straßenkrawall, durch trunkene Arbeiter, fremde Handwerksburſche
und obligate Gaſſenbuben veranlaßt, ſeine ziel- und zweckloſe Thätigkeit
im Zerſtören einiger Thorſperrbuden, Verjagung der Sperrgeld-
einnehmer, Zerſchlagen der Laternen, Fenſtereinwerfen in öffentlichen
Gebäuden und Privathäuſern. Das Linienmilitär, hier als fremde ge-
worbene Truppe ohne Anſehen, mußte bald zurückgezogen und die Bür-
gerwehr aufgeboten werden, welche vereint mit der Cavallerie dem
nächtlichen Spektakel bald ein Ende machte. Am folgenden Tag (den
7 März) war die Empörung aller Bürger über dieſe Auftritte allge-
mein. Ider fühlte dieſelben bei dem Ernſte der Zeit als eine Schande
für die Stadt, und mit und ohne Verabredung verband ſich alles der
Wiederholung ſolchen Unfugs energiſch entgegenzutreten. Bürgerwehr,
Schützengeſellſchaften und andere Vereine, namentlich der von Dr. Karl
Andrée geſtiftete Arbeiterverein „Vorwärts“ der Cigarrenmacher, übernah-
men es die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die „Stumme von Portici“
war für den Abend des 7 angekündigt, und der Umſtand daß der Senat
einige Tage zuvor die Aufführung dieſer revolutionären Oper aus
Furcht vor Unruhen verboten hatte, veranlaßte eine Art Auflauf vor
dem Schauſpielhauſe. Der Pöbel drang in das Haus und nahm ohne
Zahlung die erſten Logen ein. Allein alsbald erſcheint eine Abtheilung
Bürgerwehr und mehrere hundert unbewaffnete Arbeiter, Mitglieder
des Vereins „Vorwärts“ mit weißen Armbinden, welche ſofort Ordnung
herſtellten, die Eindringlinge ohne Mühe verjagten und die Ordnung
ohne Militär und Polizei, die ſich nirgends zeigten, ſo vollkommen auf-
recht erhielten daß das Stück vollkommen ungeſtört bei vollem Hauſe
zu Ende geſpielt werden konnte. Auch vor dem Hauſe verlief ſich die
Maſſe bald. Ein gleicher Geiſt der Ordnung zeigte ſich überall. Als
die Bewohner eines vor der Neuſtadt gelegenen Stadttheils in die Stadt
eindrangen, wurden ſie von Arbeitern und Bürgern handgreiflich zu-
rückgewieſen, und wo Gaſſenjungen Geſchrei erhoben, ward dasſelbe
bald durch herbeieilende Bürger in Wehgeſchrei verwandelt. Eben
weil die Bürgerſchaft ernſte Schritte beabſichtigte, ward es Ehren-
ſache aller Verſtändigen und Wohldenkenden die Bewegung würdig
und von jedem Exceſſe rein zu erhalten. Auch die Preſſe ſprach
ſich in der Bremer Zeitung mit aller Entſchiedenheit in dieſem Sinne
aus. Ein Artikel der letztern, „Volk und Pöbel,“ welcher alle Verſtän-
digen zur Aufrechthaltung der Ordnung ermahnte, und jeden der in ſo
ernſter Zeit die große deutſche Bewegung auch nur durch müſſige Theil-
nahme gedankenloſer Neugier an Exceſſen des Muthwillens trübe, zum
Pöbel rechnete, ward an die Mitglieder des Arbeitervereins vertheilt und
machte den beſten Eindruck. Indeſſen waren bereits von der Bürgerſchaft
Schritte geſchehen um eine nachhaltige Verfaſſungsreform zu erwirken.
Ein im Januar geſtifteter „Bürgerverein“ zur Förderung ächten Bürger-
thums diente als Mittelpunkt. Eine Adreſſe an den Senat ward am
7 berathen und beſchloſſen. Man erinnerte in derſelben daß ſeit 32 Jahren
vergeblich auf Erfüllung der Zuſage einer Verfaſſungsreform geharrt wor-
den ſey, welche den Freiſtaat zu einer Wahrheit mache. Man ſprach es
aus daß der Zuſtand des hieſigen Gemeinweſens an politiſchen Rechten ſei-
ner Mitglieder ſelbſt hinter abſoluten Staaten zurückgeblieben ſey. Eine
kleine Anzahl von Bürgern, vom Senate nach Gutdünken geladen, ver-
füge in Gemeinſchaft mit dem nur aus ihr und durch ſie gewählten Se-
nat in Geſetzgebung und Beſteurung über Perſonen und Eigen-
thum der Mitbürger, und das nicht öffentlich, ſondern geheim,
hinter verſchloſſenen Thüren. Nicht die Verhandlungen und Protokolle,
ſondern nur die Reſultate würden veröffentlicht. Man ſtellte dem-
gemäß drei Forderungen: 1) Vertretung aller Staatsbürger
mit gleicher Wahlfähigkeit und Wahlberechtigung aller
Bürger. 2) Oeffentlichkeit der Conventsſitzungen und
vollſtändigen Druck der Verhandlungen mit Namens-
nennung der Redner. 3) Freiheit der Preſſe. Am Mor-
gen des 8 ward dieſe Adreſſe von einer Deputation aus zehn Männern
beſtehend, dem Senate überbracht, der ſich im alten Rathhauſe verſam-
melt hatte. Auf den Rath eines alten Bürgers, des Tiſchlermeiſters Wiſch-
mann, ſchloß ſich faſt die ganze Bürgerſchaft dem Zuge an, und harrte auf
dem Marktplatze vor dem Rathhauſe des Ausgangs. Ueber vier Stun-
den, von halb 12 bis 4 Uhr, dauerten die Verhandlungen, und wäh-
rend dieſer ganzen Zeit bewährte die aus vielen Tauſenden beſtehende
Bürgerverſammlung die ruhigſte und ernſteſte Haltung. Kein einziges
Geſchrei, kein Lärm, nicht einmal überlautes Geſpräch war während
des ſtundenlangen Harrens auf dem Platze zu vernehmen. Man ſah,
hier waren Männer verſammelt, welche wußten was ſie woll-
ten, Männer welche den Ernſt des Augenblicks empfanden und be-
griffen. Alle ungenügenden und halben Conceſſionen welche der Senat
anbot wurden ſofort von der Verſammlung der Bürger, denen die
Abgeordneten dieſelben mittheilten, verworfen. Im Gegentheil, es
wurden den drei Forderungen der Adreſſe Nachmittags um 2 Uhr
noch andere vier hinzugefügt, nämlich: 1) Oeffentlichkeit und
Mündlichkeit aller Gerichtsverhandlungen, namentlich
auch des Criminalgerichts. 2) Vollſtändige Trennung der
Juſtiz von der Verwaltung. 3) Geſchwornengerichte bei
politiſchen, criminellen und Preßvergehen (letzteres als
Ergänzung der vom Senat am Morgen desſelben Tages freiwillig
gewährten Preßfreiheit). 4) Hinwirkung des Senats mit allen
Kräften auf Herſtellung eines deutſchen Parlaments. Durch
die letztere Forderung wurde die bisher mehr locale Reformbewegung
zu einer nationalen erhoben. Als nach Ablauf von vier Stunden
noch immer keine befriedigende Antwort an die verſammelten Bürger
gelangte, ward es unter denſelben unruhig, und die Stimmung ſo be-
denklich daß ein Mitglied der Deputation, der Lehrer Feldmann, dem
Senat vorzuſtellen ſich erlaubte daß es Zeit ſey endlich eine runde
Antwort zu geben, und entweder alles oder nichts zu bewilligen.
Auf die Bemerkung daß der Senat ohne den ſogenannten Convent
nichts derartiges entſcheiden könne, erfolgte die Erwiederung: der
Convent ſey nur der bisherige ungenügende Vertreter der Bürgerſchaft,
und ſeine Zuſtimmung ſey überflüſſig in einem Augenblicke wo faſt
die geſammte Bürgerſchaft in corpore verſammelt ſey. Da endlich
erfolgte Nachmittags um 4 Uhr die entſcheidende Antwort: „der Senat
genehmigt ſeinerſeits die ihm heute vorgetragenen Wün-
ſche der Bürgerſchaft alle, und wird zu ihrer ſofortigen
Ausführung die nöthigen Einleitungen treffen.“ Dieſe
Entſcheidung, in demſelben Augenblick durch die Preſſe veröffentlicht,
erregte allgemeine Freude. Aber auch dieſe Freude war würdig und
ohne alles Uebermaß des Jubels. Man ſah daß nur Erwartetes geſchehen,
daß nur Gerechtes erlangt war. Eine würdigere Haltung, eine männ-
lichere Durchführung der großen allgemeinen deutſchen Reformbewegung
hat bis jetzt kein Staat in Deutſchland aufzuweiſen. Die Bremer
Bürger verdienen freie Männer zu ſeyn, weil ſie ſich als ſolche, als
Männer gezeigt haben. Die Kaufmannſchaft und die höhern Stände
hatten ſich in unbegreiflicher Indifferenz von dieſer Bewegung zurück-
gehalten. Zu ſpät erkannten ſie ihren Irrthum, und ſuchten den
Fehler wieder gut zu machen. Eine Adreſſe an den Senat ward ent-
worfen und auf dem Muſeum unterzeichnet, in welcher man ausſprach:
man theile die Wünſche der Bürgerſchaft, aber man fordere
den Senat auf nur in geſetzlichem Wege, d. h. mit Zuziehung des
Convents, vorzugehen. Es war zu ſpät, noch ehe die Adreſſe abge-
ſendet werden konnte, war die Entſcheidung bereits erfolgt, und die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-03-29T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |