Allgemeine Zeitung, Nr. 44, 31. Oktober 1914.Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914. [Spaltenumbruch]
gem Preise und gewissenhaft gebaut. Dann kam der Zeitpunkt,wo man darüber nachdenken mußte, wer das Institut beziehen sollte, und jetzt trat die bessarabische Sorglosigkeit in ihrem ganzen Glanze zutage: es gab gar keine Pensionäre für das Asyl, und die Adels- versammlung hätte auch gar nicht die Mittel gehabt, es zu unter- halten. Das Resultat ist, daß das Gebäude bis auf die Gegenwart leersteht. Seltsame Typen lernte Fürst Urussow in Kischinew unter dem Ueber die Soldaten der Garnison aber hat der Memoiren- Wie der Keim zu einem Judenmassaker gelegt wird und wie Die Untersuchung über den Vorfall wurde, nachdem durch Aus- Endlich noch eine Anekdote, die einen Abgrund naiver Barbarei Wenn das Wort, daß Gerechtigkeit das Fundament der Staaten Amerikaner über uns. Unter diesem Titel bespricht Professor Hofmiller im Oktoberheft "Wann werden wir wohl alle von der internationalen Kränk- Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914. [Spaltenumbruch]
gem Preiſe und gewiſſenhaft gebaut. Dann kam der Zeitpunkt,wo man darüber nachdenken mußte, wer das Inſtitut beziehen ſollte, und jetzt trat die beſſarabiſche Sorgloſigkeit in ihrem ganzen Glanze zutage: es gab gar keine Penſionäre für das Aſyl, und die Adels- verſammlung hätte auch gar nicht die Mittel gehabt, es zu unter- halten. Das Reſultat iſt, daß das Gebäude bis auf die Gegenwart leerſteht. Seltſame Typen lernte Fürſt Uruſſow in Kiſchinew unter dem Ueber die Soldaten der Garniſon aber hat der Memoiren- Wie der Keim zu einem Judenmaſſaker gelegt wird und wie Die Unterſuchung über den Vorfall wurde, nachdem durch Aus- Endlich noch eine Anekdote, die einen Abgrund naiver Barbarei Wenn das Wort, daß Gerechtigkeit das Fundament der Staaten Amerikaner über uns. Unter dieſem Titel beſpricht Profeſſor Hofmiller im Oktoberheft „Wann werden wir wohl alle von der internationalen Kränk- <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0006" n="638"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 31. Oktober 1914.</fw><lb/><cb/> gem Preiſe und gewiſſenhaft gebaut. Dann kam der Zeitpunkt,<lb/> wo man darüber nachdenken mußte, wer das Inſtitut beziehen ſollte,<lb/> und jetzt trat die beſſarabiſche Sorgloſigkeit in ihrem ganzen Glanze<lb/> zutage: es gab gar keine Penſionäre für das Aſyl, und die Adels-<lb/> verſammlung hätte auch gar nicht die Mittel gehabt, es zu unter-<lb/> halten. Das Reſultat iſt, daß das Gebäude bis auf die Gegenwart<lb/> leerſteht.</p><lb/> <p>Seltſame Typen lernte Fürſt Uruſſow in Kiſchinew unter dem<lb/> dortigen Militär kennen; wir wollen ihn von einem Original erzäh-<lb/> len laſſen: Leutnant K., ein Kind der Stadt, diente zu meiner Zeit<lb/> im Lſchen Dragonerregiment. Das ſchöne Aeußere des jungen<lb/> Offiziers prädeſtinierte ihn anſcheinend zu einem Sieger über<lb/> Weiberherzen, und ſeine reckenhafte Geſtalt ließ in ihm einen Freund<lb/> aller irdiſchen Genüſſe, einen Ritter von Tafel und Flaſche, ver-<lb/> muten. In Wirklichkeit war er von ganz anderer Art. K. bewohnte<lb/> zwei kleine Zimmer in einem beſcheidenen Bürgerhauſe; eines von<lb/> dieſen beiden Zimmern hatte er in eine Art Kapelle verwandelt. Ein<lb/> rieſiges Muttergottesbild mit einer ewigen Lampe, Bibel und Kreuz<lb/> ſchmückten das Heiligtum, in dem der Leutnant inbrünſtig betete<lb/> und ſich für Heldentaten rüſtete, die an jene Zeiten erinnerten, wo<lb/> die Ritter ſich zur höheren Ehre Gottes dem Kampfe mit den Un-<lb/> gläubigen weihten zum Triumph des Chriſtentums. Frühmorgens,<lb/> ſchon vor Tagesanbruch, ſattelte K. die Pferde und ritt mit ſeinem<lb/> Burſchen vor den ſtädtiſchen Schlagbaum zum Kampf mit den<lb/> Juden, die draußen trotz der ſtrengen Beſtimmung der ſtädtiſchen<lb/> Duma Korn von den Bauernwagen kauften, die aus den Dörfern<lb/> zum Markt wollten, wo der Getreidehandel unter ſtädtiſche Aufſicht<lb/> geſtellt war. Kühn ſtürzte ſich der unerſchrockene Paladin auf die<lb/> „ungeſetzlichen“ Aufkäufer, verſetzte den Ueberraſchten Hiebe und<lb/> trug ſtets den Sieg davon, jagte die ängſtlichen Juden in die Flucht<lb/> und geleitete die Fuhre auf den Markt. Bisweilen kam er aber zu<lb/> ſpät: die Weizenladungen waren ſchon gekauft und von den Juden<lb/> nach ihren Höfen geſchafft, aber auch in dieſem Falle fand K. ſich<lb/> mit dem Ausbeutungsſyſtem nicht ab; er jagte hinter den Getreide-<lb/> fuhren her, ſuchte das Haus des Käufers auf, brach in das Tor ein<lb/> und nahm das gekaufte Gut weg, wobei er an Käufer und Ver-<lb/> käufer freigebig Schläge und Schimpfworte austeilte. Dann zwang<lb/> er den Verkäufer, ſeine Ware zurückzunehmen und ſie auf den Markt<lb/> zu fahren.</p><lb/> <p>Ueber die Soldaten der Garniſon aber hat der Memoiren-<lb/> ſchreiber „faſt nichts zu erzählen, als daß bei der Rückkehr der<lb/> Truppen aus dem Lager in die Stadt Diebſtähle, Straßenſchläge-<lb/> reien und Unfug in den Nachtkneipen merklich zunahmen.“</p><lb/> <p>Wie der Keim zu einem Judenmaſſaker gelegt wird und wie<lb/> ein ſolcher „Pogrom“ bei gutem Willen der Behörde verhindert<lb/> werden kann, davon erzählt Uruſſow mehrere Beiſpiele. Wir teilen<lb/> hier ein beſonders bezeichnendes mit: Ein Chriſtenmädchen, das bei<lb/> einem in einer Apotheke angeſtellten Juden diente, wurde mit<lb/> Brandwunden am ganzen Körper im Krankenhauſe eingeliefert und<lb/> ſtarb bald darauf, faſt ohne das Bewußtſein wiedererlangt zu haben.<lb/> Der Bräutigam der Verſtorbenen drohte dem Apotheker und bezich-<lb/> tigte ihn der Schuld am Tode ſeiner Braut. Abends erzählte man<lb/> ſchon, der jüdiſche Wüſtling hätte die tugendhafte Chriſtin mit Petro-<lb/> leum übergoſſen und ſie verbrannt, weil ſie ſeinen Zärtlichkeiten<lb/> widerſtrebt hatte. Das verbrannte Mädchen wurde die Heldin des<lb/> Tages. Die Polizei erklärte, ſie könnte die entrüſtete rechtgläubige<lb/> Bevölkerung nicht mehr im Zaume halten, und man erwartete jeden<lb/> Augenblick den Ausbruch von Unruhen.</p><lb/> <p>Die Unterſuchung über den Vorfall wurde, nachdem durch Aus-<lb/> weiſung des Haupthetzers Ruhe geſchaffen war, ſorgfältig geführt<lb/> und mit allen Einzelheiten veröffentlicht. Es ſtellte ſich heraus, daß<lb/> der Apotheker den ganzen Tag außerhalb des Hauſes in ſeiner<lb/> Apotheke beſchäftigt geweſen war, während ſein Dienſtmädchen beim<lb/> Aufſetzen des Samowars die brennenden Kohlen aus einem Ballon<lb/> mit Petroleum begoſſen hatte; das Petroleum flammte auf, das<lb/> Feuer ſchoß in breitem Strom in das Gefäß, der Ballon explodierte,<lb/> und das Mädchen verbrannte natürlich.</p><lb/> <p>Endlich noch eine Anekdote, die einen Abgrund naiver Barbarei<lb/> aufdeckt. Uruſſow erzählt: <cit><quote>„Einer meiner nächſten Mitarbeiter in<lb/> Beſſarabien, der älteſte Rat der Gouvernementsverwaltung, von<lb/> R—n, ein Mann von ſehr gutmütigem Charakter, war vor zwanzig<lb/> Jahren aus einem Dragonerregiment zu dem Poſten eines Polizei-<lb/> meiſters in Ismail übergegangen und mußte eines Tages als Exe-<lb/> kutivbeamter der Hinrichtung eines jüdiſchen Verbrechers beiwohnen.<lb/> Der Verurteilte hing die beſtimmte Zahl von Minuten und wurde<lb/><cb/> dann vom Galgen heruntergenommen, worauf der Arzt ſeinen Tod<lb/> konſtatieren ſollte. Aber da zeigte ſich, daß man vergeſſen hatte,<lb/> den langen dichten Bart des Juden abzuſchneiden, und dank dieſem<lb/> Umſtande hatte die zugezogene Schlinge ihm wohl das Bewußtſein<lb/> geraubt, aber nicht den Tod herbeigeführt. „Stellen Sie ſich meine<lb/> Lage vor,“ erzählte R—n, „der Doktor ſagte mir, der Jude würde<lb/> in fünf Minuten wieder zu ſich kommen. Was war zu tun? Ihn<lb/> eine zweites Mal aufzuhängen, ging nicht gut an, und ich mußte<lb/> doch das Todesurteil vollſtrecken.“ — „Was haben Sie denn getan?“<lb/> fragte ich und erhielt die denkwürdige Antwort: „Ich habe ihn<lb/> ſchnell begraben laſſen, bevor er wieder zu ſich kam.“ — R—n gab<lb/> zu, er würde einen lebenden Chriſten niemals eingegraben haben;<lb/> der Fall mit dem eingegrabenen Juden beunruhigte ihn aber gar<lb/> nicht. Er war überzeugt, er habe ſcharfſinnig und findig gehandelt.“</quote></cit></p><lb/> <p>Wenn das Wort, daß Gerechtigkeit das Fundament der Staaten<lb/> ſei, heute noch gilt, dann darf man wahrlich Rußland als den Koloß<lb/> auf tönernen Füßen bezeichnen. Erſt muß dieſer Koloß zerſchlagen<lb/> werden, dann kann aus ſeinen Trümmern ein Reich erſtehen, das<lb/> nicht mehr als ein Alpdruck von Mittelalter und Aſiatentum auf<lb/> Europa laſtet, ſondern das ſeinen Untertanen die Segnungen der<lb/> Menſchlichkeit bietet und mit ſeinen Nachbarn in ehrlichem Frieden<lb/> an den gemeinſamen Aufgaben der weißen Raſſe arbeitet.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Amerikaner über uns.</hi> </hi> </head><lb/> <p>Unter dieſem Titel beſpricht Profeſſor Hofmiller im Oktoberheft<lb/> der Süddeutſchen Monatshefte, welches ſich „Das neue Deutſch-<lb/> land“ nennt und wieder eine Reihe hervorragender Hiſtoriker ſich<lb/> über nationale Themata ausſprechen läßt, zwei amerikaniſche<lb/> Bücher, die ſich mit Deutſchland beſchäftigen. Aus dem einen von<lb/> Price Collier: „Deutſchland und die Deutſchen vom amerikaniſchen<lb/> Geſichtspunkt aus betrachtet“ (Braunſchweig, George Weſtermann)<lb/> zitiert Profeſſor Hofmiller eine Stelle, die für den Verfaſſer zu<lb/> charakteriſtiſch iſt und zu viele, nicht genug zu betonende Wahr-<lb/> heiten enthält, als daß wir der Verſuchung widerſtehen könnten,<lb/> ſie hieher zu ſetzen:</p><lb/> <cit> <quote>„Wann werden wir wohl alle von der internationalen Kränk-<lb/> lichkeit geneſen, die uns alle im Fieber erhält? Das ewige Gerede<lb/> oder Geſchreibſel über internationale Freundſchaften, über gleiche<lb/> Abſtammung und Raſſe, mit einem Wort: die ganze Vetternpropa-<lb/> ganda reizt nur noch mehr, ſtatt zu helfen. Ich reiſe nicht nach<lb/> Deutſchland, um zu entdecken wie amerikaniſch Deutſchland iſt, noch<lb/> nach England, um zu entdecken, wie amerikaniſch England iſt, ſon-<lb/> dern nach Deutſchland und England, um zu ſehen, wie deutſch und<lb/> wie engliſch die Länder ſind.... Wir ſind mit Friedensgeſprächen<lb/> überfüttert worden, bis wir alle gereizt geworden ſind. Ein Hun-<lb/> dertſtel von einer Unze von der Sorte von Friedenspulver, die wir<lb/> international verwenden, würde Zwiſt, Ungehorſam, häusliches Unheil<lb/> und Eheſcheidungen hervorrufen, würde es einer glücklichen Familie<lb/> in dieſem oder einem anderen Land verſchrieben. ... Wenn deut-<lb/> ſche Staatsmänner rund heraus erklären, daß ſie die Abrüſtungs-<lb/> frage nicht erörtern wollen, ſo ſagen ſie nichts weiter, als daß ſie<lb/> nicht zu Verrätern an ihrem Vaterland werden wollen. ... Wäh-<lb/> rend dieſer ganzen Zeit haben Staatsmänner hartnäckig behauptet,<lb/> es liege kein genügender Grund vor, weshalb Deutſchland und<lb/> England nicht gute Freunde ſein könnten. Männer verſchiedener<lb/> Berufe und Branchen aus beiden Ländern, die je nachdem gebrochen<lb/> Deutſch oder mangelhaft Engliſch ſprechen, überſchreiten die beider-<lb/> ſeitigen Grenzen und übereſſen ſich bei ſchwerfälligen Verſuchen<lb/> herzlich und anerkennend zu ſein. Mayors und Bürgermeiſter<lb/> tauſchen bei Schildkröte und Sherry oder Sauerkraut und Johannis-<lb/> berger Geſchichten aus, Scharen von Studenten beſuchen Oxford<lb/> oder Heidelberg, und alle ergehen ſich darin, einerſeits Goethe,<lb/> andrerſeits Shakeſpeare zu preiſen. ... Dieſes gezwungene und<lb/> ungeſchickte Hofieren durch Feſtmähler, Deputationen und Kon-<lb/> ſerenzen ſollten wir bleiben laſſen. ... Kann es etwas Rühr-<lb/> ſeligeres geben, als zu glauben, internationale Empfindlichkeit,<lb/> Handelskonkurrenz, Tarifdifferenzen, territoriale Meinungsver-<lb/> ſchiedenheiten könnten dadurch beſchwichtigt und ausgeglichen wer-<lb/> den, daß wir des langen und breiten erörtern, wie viel wir einan-<lb/> der in bezug auf Kulturfragen zu verdanken hätten? ... Das<lb/> ſind lauter Vorſpiegelungen, und wir wiſſen im Grunde unſeres<lb/> Herzens alle miteinander ganz genau, daß wir beim erſten Fallen<lb/> eines Schnupftuches mit ihnen kämpfen würden, wenn ſie unſere<lb/></quote> </cit> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [638/0006]
Allgemeine Zeitung 31. Oktober 1914.
gem Preiſe und gewiſſenhaft gebaut. Dann kam der Zeitpunkt,
wo man darüber nachdenken mußte, wer das Inſtitut beziehen ſollte,
und jetzt trat die beſſarabiſche Sorgloſigkeit in ihrem ganzen Glanze
zutage: es gab gar keine Penſionäre für das Aſyl, und die Adels-
verſammlung hätte auch gar nicht die Mittel gehabt, es zu unter-
halten. Das Reſultat iſt, daß das Gebäude bis auf die Gegenwart
leerſteht.
Seltſame Typen lernte Fürſt Uruſſow in Kiſchinew unter dem
dortigen Militär kennen; wir wollen ihn von einem Original erzäh-
len laſſen: Leutnant K., ein Kind der Stadt, diente zu meiner Zeit
im Lſchen Dragonerregiment. Das ſchöne Aeußere des jungen
Offiziers prädeſtinierte ihn anſcheinend zu einem Sieger über
Weiberherzen, und ſeine reckenhafte Geſtalt ließ in ihm einen Freund
aller irdiſchen Genüſſe, einen Ritter von Tafel und Flaſche, ver-
muten. In Wirklichkeit war er von ganz anderer Art. K. bewohnte
zwei kleine Zimmer in einem beſcheidenen Bürgerhauſe; eines von
dieſen beiden Zimmern hatte er in eine Art Kapelle verwandelt. Ein
rieſiges Muttergottesbild mit einer ewigen Lampe, Bibel und Kreuz
ſchmückten das Heiligtum, in dem der Leutnant inbrünſtig betete
und ſich für Heldentaten rüſtete, die an jene Zeiten erinnerten, wo
die Ritter ſich zur höheren Ehre Gottes dem Kampfe mit den Un-
gläubigen weihten zum Triumph des Chriſtentums. Frühmorgens,
ſchon vor Tagesanbruch, ſattelte K. die Pferde und ritt mit ſeinem
Burſchen vor den ſtädtiſchen Schlagbaum zum Kampf mit den
Juden, die draußen trotz der ſtrengen Beſtimmung der ſtädtiſchen
Duma Korn von den Bauernwagen kauften, die aus den Dörfern
zum Markt wollten, wo der Getreidehandel unter ſtädtiſche Aufſicht
geſtellt war. Kühn ſtürzte ſich der unerſchrockene Paladin auf die
„ungeſetzlichen“ Aufkäufer, verſetzte den Ueberraſchten Hiebe und
trug ſtets den Sieg davon, jagte die ängſtlichen Juden in die Flucht
und geleitete die Fuhre auf den Markt. Bisweilen kam er aber zu
ſpät: die Weizenladungen waren ſchon gekauft und von den Juden
nach ihren Höfen geſchafft, aber auch in dieſem Falle fand K. ſich
mit dem Ausbeutungsſyſtem nicht ab; er jagte hinter den Getreide-
fuhren her, ſuchte das Haus des Käufers auf, brach in das Tor ein
und nahm das gekaufte Gut weg, wobei er an Käufer und Ver-
käufer freigebig Schläge und Schimpfworte austeilte. Dann zwang
er den Verkäufer, ſeine Ware zurückzunehmen und ſie auf den Markt
zu fahren.
Ueber die Soldaten der Garniſon aber hat der Memoiren-
ſchreiber „faſt nichts zu erzählen, als daß bei der Rückkehr der
Truppen aus dem Lager in die Stadt Diebſtähle, Straßenſchläge-
reien und Unfug in den Nachtkneipen merklich zunahmen.“
Wie der Keim zu einem Judenmaſſaker gelegt wird und wie
ein ſolcher „Pogrom“ bei gutem Willen der Behörde verhindert
werden kann, davon erzählt Uruſſow mehrere Beiſpiele. Wir teilen
hier ein beſonders bezeichnendes mit: Ein Chriſtenmädchen, das bei
einem in einer Apotheke angeſtellten Juden diente, wurde mit
Brandwunden am ganzen Körper im Krankenhauſe eingeliefert und
ſtarb bald darauf, faſt ohne das Bewußtſein wiedererlangt zu haben.
Der Bräutigam der Verſtorbenen drohte dem Apotheker und bezich-
tigte ihn der Schuld am Tode ſeiner Braut. Abends erzählte man
ſchon, der jüdiſche Wüſtling hätte die tugendhafte Chriſtin mit Petro-
leum übergoſſen und ſie verbrannt, weil ſie ſeinen Zärtlichkeiten
widerſtrebt hatte. Das verbrannte Mädchen wurde die Heldin des
Tages. Die Polizei erklärte, ſie könnte die entrüſtete rechtgläubige
Bevölkerung nicht mehr im Zaume halten, und man erwartete jeden
Augenblick den Ausbruch von Unruhen.
Die Unterſuchung über den Vorfall wurde, nachdem durch Aus-
weiſung des Haupthetzers Ruhe geſchaffen war, ſorgfältig geführt
und mit allen Einzelheiten veröffentlicht. Es ſtellte ſich heraus, daß
der Apotheker den ganzen Tag außerhalb des Hauſes in ſeiner
Apotheke beſchäftigt geweſen war, während ſein Dienſtmädchen beim
Aufſetzen des Samowars die brennenden Kohlen aus einem Ballon
mit Petroleum begoſſen hatte; das Petroleum flammte auf, das
Feuer ſchoß in breitem Strom in das Gefäß, der Ballon explodierte,
und das Mädchen verbrannte natürlich.
Endlich noch eine Anekdote, die einen Abgrund naiver Barbarei
aufdeckt. Uruſſow erzählt: „Einer meiner nächſten Mitarbeiter in
Beſſarabien, der älteſte Rat der Gouvernementsverwaltung, von
R—n, ein Mann von ſehr gutmütigem Charakter, war vor zwanzig
Jahren aus einem Dragonerregiment zu dem Poſten eines Polizei-
meiſters in Ismail übergegangen und mußte eines Tages als Exe-
kutivbeamter der Hinrichtung eines jüdiſchen Verbrechers beiwohnen.
Der Verurteilte hing die beſtimmte Zahl von Minuten und wurde
dann vom Galgen heruntergenommen, worauf der Arzt ſeinen Tod
konſtatieren ſollte. Aber da zeigte ſich, daß man vergeſſen hatte,
den langen dichten Bart des Juden abzuſchneiden, und dank dieſem
Umſtande hatte die zugezogene Schlinge ihm wohl das Bewußtſein
geraubt, aber nicht den Tod herbeigeführt. „Stellen Sie ſich meine
Lage vor,“ erzählte R—n, „der Doktor ſagte mir, der Jude würde
in fünf Minuten wieder zu ſich kommen. Was war zu tun? Ihn
eine zweites Mal aufzuhängen, ging nicht gut an, und ich mußte
doch das Todesurteil vollſtrecken.“ — „Was haben Sie denn getan?“
fragte ich und erhielt die denkwürdige Antwort: „Ich habe ihn
ſchnell begraben laſſen, bevor er wieder zu ſich kam.“ — R—n gab
zu, er würde einen lebenden Chriſten niemals eingegraben haben;
der Fall mit dem eingegrabenen Juden beunruhigte ihn aber gar
nicht. Er war überzeugt, er habe ſcharfſinnig und findig gehandelt.“
Wenn das Wort, daß Gerechtigkeit das Fundament der Staaten
ſei, heute noch gilt, dann darf man wahrlich Rußland als den Koloß
auf tönernen Füßen bezeichnen. Erſt muß dieſer Koloß zerſchlagen
werden, dann kann aus ſeinen Trümmern ein Reich erſtehen, das
nicht mehr als ein Alpdruck von Mittelalter und Aſiatentum auf
Europa laſtet, ſondern das ſeinen Untertanen die Segnungen der
Menſchlichkeit bietet und mit ſeinen Nachbarn in ehrlichem Frieden
an den gemeinſamen Aufgaben der weißen Raſſe arbeitet.
Amerikaner über uns.
Unter dieſem Titel beſpricht Profeſſor Hofmiller im Oktoberheft
der Süddeutſchen Monatshefte, welches ſich „Das neue Deutſch-
land“ nennt und wieder eine Reihe hervorragender Hiſtoriker ſich
über nationale Themata ausſprechen läßt, zwei amerikaniſche
Bücher, die ſich mit Deutſchland beſchäftigen. Aus dem einen von
Price Collier: „Deutſchland und die Deutſchen vom amerikaniſchen
Geſichtspunkt aus betrachtet“ (Braunſchweig, George Weſtermann)
zitiert Profeſſor Hofmiller eine Stelle, die für den Verfaſſer zu
charakteriſtiſch iſt und zu viele, nicht genug zu betonende Wahr-
heiten enthält, als daß wir der Verſuchung widerſtehen könnten,
ſie hieher zu ſetzen:
„Wann werden wir wohl alle von der internationalen Kränk-
lichkeit geneſen, die uns alle im Fieber erhält? Das ewige Gerede
oder Geſchreibſel über internationale Freundſchaften, über gleiche
Abſtammung und Raſſe, mit einem Wort: die ganze Vetternpropa-
ganda reizt nur noch mehr, ſtatt zu helfen. Ich reiſe nicht nach
Deutſchland, um zu entdecken wie amerikaniſch Deutſchland iſt, noch
nach England, um zu entdecken, wie amerikaniſch England iſt, ſon-
dern nach Deutſchland und England, um zu ſehen, wie deutſch und
wie engliſch die Länder ſind.... Wir ſind mit Friedensgeſprächen
überfüttert worden, bis wir alle gereizt geworden ſind. Ein Hun-
dertſtel von einer Unze von der Sorte von Friedenspulver, die wir
international verwenden, würde Zwiſt, Ungehorſam, häusliches Unheil
und Eheſcheidungen hervorrufen, würde es einer glücklichen Familie
in dieſem oder einem anderen Land verſchrieben. ... Wenn deut-
ſche Staatsmänner rund heraus erklären, daß ſie die Abrüſtungs-
frage nicht erörtern wollen, ſo ſagen ſie nichts weiter, als daß ſie
nicht zu Verrätern an ihrem Vaterland werden wollen. ... Wäh-
rend dieſer ganzen Zeit haben Staatsmänner hartnäckig behauptet,
es liege kein genügender Grund vor, weshalb Deutſchland und
England nicht gute Freunde ſein könnten. Männer verſchiedener
Berufe und Branchen aus beiden Ländern, die je nachdem gebrochen
Deutſch oder mangelhaft Engliſch ſprechen, überſchreiten die beider-
ſeitigen Grenzen und übereſſen ſich bei ſchwerfälligen Verſuchen
herzlich und anerkennend zu ſein. Mayors und Bürgermeiſter
tauſchen bei Schildkröte und Sherry oder Sauerkraut und Johannis-
berger Geſchichten aus, Scharen von Studenten beſuchen Oxford
oder Heidelberg, und alle ergehen ſich darin, einerſeits Goethe,
andrerſeits Shakeſpeare zu preiſen. ... Dieſes gezwungene und
ungeſchickte Hofieren durch Feſtmähler, Deputationen und Kon-
ſerenzen ſollten wir bleiben laſſen. ... Kann es etwas Rühr-
ſeligeres geben, als zu glauben, internationale Empfindlichkeit,
Handelskonkurrenz, Tarifdifferenzen, territoriale Meinungsver-
ſchiedenheiten könnten dadurch beſchwichtigt und ausgeglichen wer-
den, daß wir des langen und breiten erörtern, wie viel wir einan-
der in bezug auf Kulturfragen zu verdanken hätten? ... Das
ſind lauter Vorſpiegelungen, und wir wiſſen im Grunde unſeres
Herzens alle miteinander ganz genau, daß wir beim erſten Fallen
eines Schnupftuches mit ihnen kämpfen würden, wenn ſie unſere
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(2023-04-27T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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