Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 26. September 1914.Allgemeine Zeitung 26. September 1914. [Spaltenumbruch]
einen großes Aufsehen erregenden Artikel des englischen PolitikersPonsonby, der Mitglied des Unterhauses ist, zur Kenntnis zu nehmen, den die englische Zeitschrift "The Nation" veröffentlicht. Er ist eine schwere Anklage und besteht aus einer in Katechismus- form zusammengestellten Gegenüberstellung von dreizehn kurzen Fragen und Antworten. Ponsonby schreibt: "Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh-
Ein offener Brief. Der kaiserlich deutsche Gesandte a. D. Graf v. Leyden hat an Lieber Lascelles!1) Es ist erst zwei Jahre her, daß wir uns beide der Hoffnung Die Ereignisse verliefen schneller, wir besinden uns inmitten Wenn ich versuche, diesen Brief in Ihre Hände gelangen zu Erstens weil ich sogar jetzt noch annehme, daß für uns beide Zweitens weil Sie einer von den Engländern sind, die sich Auch gebe ich Ihnen wahrscheinlich keine unerwartete Kunde, Aber, das Volk dieses Landes ist nun einmal von der unaus- Während nun im Volke in solcher Weise argumentiert wird, Sie werfen Sir Edward Grey vor, in seinen letzten offiziellen Diese gebildeten Kreise sind endlich der Meinung, daß nur das Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen Was die Engländer getan haben, werden sie mit ihrem eigenen Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis Ihr ergebener Leyden.1) Sir Frank Lascelles, bis vor einigen Jahren britischer Botschafter in Berlin,
präsidierte im Jahre 1912 einer Konferenz, welche von englischer Seite zur Her- stellung besserer Beziehungen angeregt worden war. Allgemeine Zeitung 26. September 1914. [Spaltenumbruch]
einen großes Aufſehen erregenden Artikel des engliſchen PolitikersPonſonby, der Mitglied des Unterhauſes iſt, zur Kenntnis zu nehmen, den die engliſche Zeitſchrift „The Nation“ veröffentlicht. Er iſt eine ſchwere Anklage und beſteht aus einer in Katechismus- form zuſammengeſtellten Gegenüberſtellung von dreizehn kurzen Fragen und Antworten. Ponſonby ſchreibt: „Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh-
Ein offener Brief. Der kaiſerlich deutſche Geſandte a. D. Graf v. Leyden hat an Lieber Lascelles!1) Es iſt erſt zwei Jahre her, daß wir uns beide der Hoffnung Die Ereigniſſe verliefen ſchneller, wir beſinden uns inmitten Wenn ich verſuche, dieſen Brief in Ihre Hände gelangen zu Erſtens weil ich ſogar jetzt noch annehme, daß für uns beide Zweitens weil Sie einer von den Engländern ſind, die ſich Auch gebe ich Ihnen wahrſcheinlich keine unerwartete Kunde, Aber, das Volk dieſes Landes iſt nun einmal von der unaus- Während nun im Volke in ſolcher Weiſe argumentiert wird, Sie werfen Sir Edward Grey vor, in ſeinen letzten offiziellen Dieſe gebildeten Kreiſe ſind endlich der Meinung, daß nur das Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen Was die Engländer getan haben, werden ſie mit ihrem eigenen Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis Ihr ergebener Leyden.1) Sir Frank Lascelles, bis vor einigen Jahren britiſcher Botſchafter in Berlin,
präſidierte im Jahre 1912 einer Konferenz, welche von engliſcher Seite zur Her- ſtellung beſſerer Beziehungen angeregt worden war. <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div type="jArticle" n="4"> <p><pb facs="#f0004" n="578"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 26. September 1914.</fw><lb/><cb/> einen großes Aufſehen erregenden Artikel des engliſchen Politikers<lb/><hi rendition="#g">Ponſonby,</hi> der Mitglied des Unterhauſes iſt, zur Kenntnis zu<lb/> nehmen, den die engliſche Zeitſchrift „The Nation“ veröffentlicht.<lb/> Er iſt eine ſchwere Anklage und beſteht aus einer in Katechismus-<lb/> form zuſammengeſtellten Gegenüberſtellung von dreizehn kurzen<lb/> Fragen und Antworten. Ponſonby ſchreibt:</p><lb/> <p>„Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh-<lb/> ler begangen worden ſind, uns noch weiter in Schweigen hüllen<lb/> würden, ſo würden dieſe Fehler nie öffentlich feſtgeſtellt werden,<lb/> und die Hoffnung auf eine zukünftige Aufklärung wäre vernichtet.“<lb/> Er ſtellt dann folgende Fragen, durch deren Beantwortung er ſeine<lb/> und ſeiner Meinungsgenoſſen Anſchauungen klar und beſtimmt<lb/> ausdrückt:</p><lb/> <cit> <quote> <list> <item>1. Beweiſt nicht die in unſerem Weißbuch niedergelegte Korre-<lb/> ſpondenz über die Urſachen des Krieges klar, daß unſere ganze<lb/> frühere Politik uns ſtarke Verpflichtungen auferlegte und uns in<lb/> ein ſehr wirres Netz verwickelte, das wir uns ſelbſt geknüpft haben?<lb/> — Ja.</item><lb/> <item>2. Iſt es richtig oder auch nur vernünftig, hinter dem Rücken<lb/> einer Nation bindende Abmachungen mit einer anderen Nation zu<lb/> treffen? — Nein.</item><lb/> <item>3. Hat unſere Regierung ausdrücklich erklärt, daß wir im<lb/> Kriegsfall vollſtändig frei und ohne jede Verpflichtung wären? —<lb/> Ja.</item><lb/> <item>4. Hätten wir Frankreich den Krieg erklärt, wenn Frankreich<lb/> es notwendig gefunden hätte, aus Rückſicht auf ſeine Sicherheit ein<lb/> franzöſiſches Heer über die belgiſche Grenze zu ſchicken? — Nein.</item><lb/> <item>5. Hat Deutſchland von vornherein gewußt, daß wir verpflich-<lb/> tet waren, Frankreich zu unterſtützen, und hat Deutſchland den<lb/> Krieg mit uns gewollt? — Nein.</item><lb/> <item>6. Wäre nicht Deutſchlands Haltung ganz anders geweſen,<lb/> wenn wir von Anfang an unſere Abſichten offen und klar darge-<lb/> legt hätten? — Ja.</item><lb/> <item>7. Iſt es nicht in erſter Reihe ein Angriff der ſlawiſchen Raſſe,<lb/> alſo Rußlands, den Deutſchland fürchtete? — Ja.</item><lb/> <item>8. Bedeutet nicht unſere Unterſtützung Rußlands eine Kräfti-<lb/> gung der ruſſiſchen Autokratie und des Militarismus und damit<lb/> auch eine Störung der Entwicklung des ruſſiſchen Volkes? — Ja.</item><lb/> <item>9. Würde nicht Rußlands Kriegsglück weitere Ländererwer-<lb/> bungen Rußlands mit ſich bringen und wäre das nicht ein großes<lb/> Unglück? — Ja.</item><lb/> <item>10. Iſt es möglich oder wünſchenswert, daß das Deutſche Reich<lb/> vernichtet und ſein natürliches Aufblühen für immer gehemmt<lb/> wird? — Nein.</item><lb/> <item>11. Iſt es wahrſcheinlich, daß Deutſchland für die Zukunft ein<lb/> untätiger und untergeordneter Staat würde, wenn es all ſeine<lb/> Kolonien verlöre? — Nein.</item><lb/> <item>12. Herrſchte beim Ausbruch des Krieges in dem britiſchen<lb/> Volk irgendwelche feindliche Stimmung Deutſchland gegenüber?<lb/> — Nein.</item><lb/> <item>13. Haben wir Urſache zu der Annahme, daß das offizielle Eng-<lb/> land bereits ſeit längerer Zeit eine antideutſche Politik getrieben<lb/> hat? — Ja.</item> </list> </quote> </cit> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="letter" n="3"> <head> <hi rendition="#b">Ein offener Brief.</hi> </head><lb/> <argument> <p>Der kaiſerlich deutſche Geſandte a. D. Graf v. Leyden hat an<lb/> Sir Frank Lascelles einen Brief gerichtet, von dem er der Bayr.<lb/> Staatsztg. nachſtehende deutſche Ueberſetzung zur Verfügung ſtellt:</p> </argument><lb/> <opener> <dateline><hi rendition="#g">München,</hi> den 12. 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Eine merkwürdige Tatſache: als wir vor noch wenigen<lb/> Monaten zuſammen über die Ratſamkeit einer erneuten Verſamm-<lb/> lung dieſer Elemente berieten, kamen wir dahin überein, daß bei<lb/> der friedlichen Geſtaltung der Dinge ſolche Beſchlüſſe auf den Herbſt<lb/> zu vertagen wären.</p><lb/> <p>Die Ereigniſſe verliefen ſchneller, wir beſinden uns inmitten<lb/> eines ſelbſtmörderiſchen Krieges.</p><lb/> <p>Wenn ich verſuche, dieſen Brief in Ihre Hände gelangen zu<lb/> laſſen, ſo geſchieht dies aus zwei Gründen:</p><lb/> <p>Erſtens weil ich ſogar jetzt noch annehme, daß für uns beide<lb/> kein Grund beſteht, an unſerer gegenſeitigen Ehrlichkeit zu zweifeln.</p><lb/> <p>Zweitens weil Sie einer von den Engländern ſind, die ſich<lb/> eine gründliche Kenntnis deutſcher Zuſtände verſchafft und das Ver-<lb/> trauen unſerer regierenden Kreiſe genoſſen haben. Ich würde es<lb/> daher für eine Anmaßung meinerſeits halten, wollte ich es unter-<lb/> nehmen, Sie mit falſcher Information zu verſehen.</p><lb/> <p>Auch gebe ich Ihnen wahrſcheinlich keine unerwartete Kunde,<lb/> wenn ich Ihnen mitteile, daß England zurzeit die in Deutſchland<lb/> vorhaßteſte Nation iſt. Und dies bis zu einem ſolchen Grade, daß<lb/> viele zu vergeſſen ſcheinen, daß der verruchte Krieg, der um uns<lb/> raſt, ſeinen eigentlichen Urſprung aus panſlawiſtiſcher und ruſſiſcher<lb/> Herausforderung herleitet.</p><lb/> <p>Aber, das Volk dieſes Landes iſt nun einmal von der unaus-<lb/> löſchlichen und inſtinktiven Ueberzeugung erfaßt, daß England ſo-<lb/> wohl Rußland als Frankreich ſeit Jahren angeſtachelt habe, daß<lb/> England ſich von Motiven der Eiferſucht und des Neides leiten<lb/> laſſe und daß ſein Hauptzweck, indem es uns den Krieg erklärt<lb/> habe, unſere Vernichtung ſei, ſogar wenn dieſelbe nur unter Ein-<lb/> ſetzung einer Koſakenherrſchaft in Zentraleuropa zu erreichen ſein<lb/> ſollte.</p><lb/> <p>Während nun im Volke in ſolcher Weiſe argumentiert wird,<lb/> ſind die höher gebildeten Kreiſe der Ueberzeugung, daß nicht nur<lb/> die Verletzung der belgiſchen Neutralität durch Frankreich in Eng-<lb/> land kein Gefühl der Erbitterung ausgelöſt haben würde, ſondern<lb/> daß — Belgien beiſeite gelaſſen — die Neutralität von Großbritan-<lb/> nien ſelbſt unter keinen Umſtänden während des Verlaufes des<lb/> Krieges aufrecht erhalten worden wäre.</p><lb/> <p>Sie werfen Sir Edward Grey vor, in ſeinen letzten offiziellen<lb/> Mitteilungen kein Wort mehr von der ſchauderhaften Mordtat von<lb/> Serajewo oder von der ruſſiſchen Mobiliſierung erwähnt zu haben,<lb/> welch letztere uns einfach zum Kriege gezwungen hat, wollten wir<lb/> nicht mit offenen Augen in unſer Verderben rennen.</p><lb/> <p>Dieſe gebildeten Kreiſe ſind endlich der Meinung, daß nur das<lb/> kriegeriſche Eingreifen Ihrer Regierung dem Kampf einen wirklich<lb/> europäiſchen Charakter verliehen habe, während wir auf unſerer<lb/> Seite ſeit Jahren gezwungen waren, die Eventualität des Zuſam-<lb/> menſtehens mit Oeſterreich-Ungarn im Kampfe mit Rußland und<lb/> Frankreich ins Auge zu faſſen.</p><lb/> <p>Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen<lb/> Worten die Gefühle der deutſchen Nation widergibt, welche geeinigt<lb/> ſteht wie ein Mann, zu den ſchwerſten Opfern bereit, zugleich von<lb/> Schmerz und innerer Empörung darüber bewegt iſt, daß ſie ſich von<lb/> denen verraten ſieht, die ſie, in einem gewiſſen Sinne wenigſtens,<lb/> leider wie ihr eigenes Fleiſch und Blut anzuſehen pflegte. Denn, was<lb/> immer unſere gelegentlichen Differenzen geweſen ſein mögen, die<lb/> Mehrzahl der Deutſchen hat ſich England nie als Rußlands Ge-<lb/> noſſen und Japans Spießgeſellen in ſolcher Uebeltat vorzuſtellen<lb/> vermocht.</p><lb/> <p>Was die Engländer getan haben, werden ſie mit ihrem eigenen<lb/> Gewiſſen oder mit dem zu vereinbaren haben, was ihre gegen-<lb/> wärtigen Staatsmänner in zyniſcher Weiſe als ihre „Intereſſen“<lb/> bezeichnen. Intereſſen, welche jedenfalls plötzlich in totalen Gegen-<lb/> ſatz zu den politiſchen Traditionen Ihres Landes geraten ſind. Wäh-<lb/> rend andrerſeits, wenn alle Bande gemeinſamer Kultur, Geſchichte<lb/> und Ziviliſation Erwägungen momentanen Vorteils geopfert wer-<lb/> den ſollen, das internationale Leben Europas zu einer Monſtroſität<lb/> verkehrt werden wird.</p><lb/> <p>Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis<lb/> ſprechen hören.</p><lb/> <closer rendition="#et"> <salute>Ihr ergebener</salute><lb/> <signed> <hi rendition="#g">Leyden.</hi> </signed> </closer><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [578/0004]
Allgemeine Zeitung 26. September 1914.
einen großes Aufſehen erregenden Artikel des engliſchen Politikers
Ponſonby, der Mitglied des Unterhauſes iſt, zur Kenntnis zu
nehmen, den die engliſche Zeitſchrift „The Nation“ veröffentlicht.
Er iſt eine ſchwere Anklage und beſteht aus einer in Katechismus-
form zuſammengeſtellten Gegenüberſtellung von dreizehn kurzen
Fragen und Antworten. Ponſonby ſchreibt:
„Wenn wir, die wir glauben, daß viele verhängnisvolle Feh-
ler begangen worden ſind, uns noch weiter in Schweigen hüllen
würden, ſo würden dieſe Fehler nie öffentlich feſtgeſtellt werden,
und die Hoffnung auf eine zukünftige Aufklärung wäre vernichtet.“
Er ſtellt dann folgende Fragen, durch deren Beantwortung er ſeine
und ſeiner Meinungsgenoſſen Anſchauungen klar und beſtimmt
ausdrückt:
1. Beweiſt nicht die in unſerem Weißbuch niedergelegte Korre-
ſpondenz über die Urſachen des Krieges klar, daß unſere ganze
frühere Politik uns ſtarke Verpflichtungen auferlegte und uns in
ein ſehr wirres Netz verwickelte, das wir uns ſelbſt geknüpft haben?
— Ja.
2. Iſt es richtig oder auch nur vernünftig, hinter dem Rücken
einer Nation bindende Abmachungen mit einer anderen Nation zu
treffen? — Nein.
3. Hat unſere Regierung ausdrücklich erklärt, daß wir im
Kriegsfall vollſtändig frei und ohne jede Verpflichtung wären? —
Ja.
4. Hätten wir Frankreich den Krieg erklärt, wenn Frankreich
es notwendig gefunden hätte, aus Rückſicht auf ſeine Sicherheit ein
franzöſiſches Heer über die belgiſche Grenze zu ſchicken? — Nein.
5. Hat Deutſchland von vornherein gewußt, daß wir verpflich-
tet waren, Frankreich zu unterſtützen, und hat Deutſchland den
Krieg mit uns gewollt? — Nein.
6. Wäre nicht Deutſchlands Haltung ganz anders geweſen,
wenn wir von Anfang an unſere Abſichten offen und klar darge-
legt hätten? — Ja.
7. Iſt es nicht in erſter Reihe ein Angriff der ſlawiſchen Raſſe,
alſo Rußlands, den Deutſchland fürchtete? — Ja.
8. Bedeutet nicht unſere Unterſtützung Rußlands eine Kräfti-
gung der ruſſiſchen Autokratie und des Militarismus und damit
auch eine Störung der Entwicklung des ruſſiſchen Volkes? — Ja.
9. Würde nicht Rußlands Kriegsglück weitere Ländererwer-
bungen Rußlands mit ſich bringen und wäre das nicht ein großes
Unglück? — Ja.
10. Iſt es möglich oder wünſchenswert, daß das Deutſche Reich
vernichtet und ſein natürliches Aufblühen für immer gehemmt
wird? — Nein.
11. Iſt es wahrſcheinlich, daß Deutſchland für die Zukunft ein
untätiger und untergeordneter Staat würde, wenn es all ſeine
Kolonien verlöre? — Nein.
12. Herrſchte beim Ausbruch des Krieges in dem britiſchen
Volk irgendwelche feindliche Stimmung Deutſchland gegenüber?
— Nein.
13. Haben wir Urſache zu der Annahme, daß das offizielle Eng-
land bereits ſeit längerer Zeit eine antideutſche Politik getrieben
hat? — Ja.
Ein offener Brief.
Der kaiſerlich deutſche Geſandte a. D. Graf v. Leyden hat an
Sir Frank Lascelles einen Brief gerichtet, von dem er der Bayr.
Staatsztg. nachſtehende deutſche Ueberſetzung zur Verfügung ſtellt:
München, den 12. September 1914.
Lieber Lascelles! 1)
Es iſt erſt zwei Jahre her, daß wir uns beide der Hoffnung
hingaben, innerhalb der Grenzen unſerer perſönlichen Verantwort-
lichkeit es ermöglicht zu haben, zur Herſtellung beſſerer Beziehun-
gen zwiſchen unſeren Brüdern beizutragen. Wir hatten dabei die
Unterſtützung hervorragender Vertreter der wiſſenſchaftlichen, lite-
rariſchen, politiſchen und kommerziellen Kreiſe gefunden, alles Män-
ner von liberalen und ernſten Ueberzeugungen, Deutſche und Eng-
länder. Eine merkwürdige Tatſache: als wir vor noch wenigen
Monaten zuſammen über die Ratſamkeit einer erneuten Verſamm-
lung dieſer Elemente berieten, kamen wir dahin überein, daß bei
der friedlichen Geſtaltung der Dinge ſolche Beſchlüſſe auf den Herbſt
zu vertagen wären.
Die Ereigniſſe verliefen ſchneller, wir beſinden uns inmitten
eines ſelbſtmörderiſchen Krieges.
Wenn ich verſuche, dieſen Brief in Ihre Hände gelangen zu
laſſen, ſo geſchieht dies aus zwei Gründen:
Erſtens weil ich ſogar jetzt noch annehme, daß für uns beide
kein Grund beſteht, an unſerer gegenſeitigen Ehrlichkeit zu zweifeln.
Zweitens weil Sie einer von den Engländern ſind, die ſich
eine gründliche Kenntnis deutſcher Zuſtände verſchafft und das Ver-
trauen unſerer regierenden Kreiſe genoſſen haben. Ich würde es
daher für eine Anmaßung meinerſeits halten, wollte ich es unter-
nehmen, Sie mit falſcher Information zu verſehen.
Auch gebe ich Ihnen wahrſcheinlich keine unerwartete Kunde,
wenn ich Ihnen mitteile, daß England zurzeit die in Deutſchland
vorhaßteſte Nation iſt. Und dies bis zu einem ſolchen Grade, daß
viele zu vergeſſen ſcheinen, daß der verruchte Krieg, der um uns
raſt, ſeinen eigentlichen Urſprung aus panſlawiſtiſcher und ruſſiſcher
Herausforderung herleitet.
Aber, das Volk dieſes Landes iſt nun einmal von der unaus-
löſchlichen und inſtinktiven Ueberzeugung erfaßt, daß England ſo-
wohl Rußland als Frankreich ſeit Jahren angeſtachelt habe, daß
England ſich von Motiven der Eiferſucht und des Neides leiten
laſſe und daß ſein Hauptzweck, indem es uns den Krieg erklärt
habe, unſere Vernichtung ſei, ſogar wenn dieſelbe nur unter Ein-
ſetzung einer Koſakenherrſchaft in Zentraleuropa zu erreichen ſein
ſollte.
Während nun im Volke in ſolcher Weiſe argumentiert wird,
ſind die höher gebildeten Kreiſe der Ueberzeugung, daß nicht nur
die Verletzung der belgiſchen Neutralität durch Frankreich in Eng-
land kein Gefühl der Erbitterung ausgelöſt haben würde, ſondern
daß — Belgien beiſeite gelaſſen — die Neutralität von Großbritan-
nien ſelbſt unter keinen Umſtänden während des Verlaufes des
Krieges aufrecht erhalten worden wäre.
Sie werfen Sir Edward Grey vor, in ſeinen letzten offiziellen
Mitteilungen kein Wort mehr von der ſchauderhaften Mordtat von
Serajewo oder von der ruſſiſchen Mobiliſierung erwähnt zu haben,
welch letztere uns einfach zum Kriege gezwungen hat, wollten wir
nicht mit offenen Augen in unſer Verderben rennen.
Dieſe gebildeten Kreiſe ſind endlich der Meinung, daß nur das
kriegeriſche Eingreifen Ihrer Regierung dem Kampf einen wirklich
europäiſchen Charakter verliehen habe, während wir auf unſerer
Seite ſeit Jahren gezwungen waren, die Eventualität des Zuſam-
menſtehens mit Oeſterreich-Ungarn im Kampfe mit Rußland und
Frankreich ins Auge zu faſſen.
Ich glaube Ihnen garantieren zu können, daß dies in wenigen
Worten die Gefühle der deutſchen Nation widergibt, welche geeinigt
ſteht wie ein Mann, zu den ſchwerſten Opfern bereit, zugleich von
Schmerz und innerer Empörung darüber bewegt iſt, daß ſie ſich von
denen verraten ſieht, die ſie, in einem gewiſſen Sinne wenigſtens,
leider wie ihr eigenes Fleiſch und Blut anzuſehen pflegte. Denn, was
immer unſere gelegentlichen Differenzen geweſen ſein mögen, die
Mehrzahl der Deutſchen hat ſich England nie als Rußlands Ge-
noſſen und Japans Spießgeſellen in ſolcher Uebeltat vorzuſtellen
vermocht.
Was die Engländer getan haben, werden ſie mit ihrem eigenen
Gewiſſen oder mit dem zu vereinbaren haben, was ihre gegen-
wärtigen Staatsmänner in zyniſcher Weiſe als ihre „Intereſſen“
bezeichnen. Intereſſen, welche jedenfalls plötzlich in totalen Gegen-
ſatz zu den politiſchen Traditionen Ihres Landes geraten ſind. Wäh-
rend andrerſeits, wenn alle Bande gemeinſamer Kultur, Geſchichte
und Ziviliſation Erwägungen momentanen Vorteils geopfert wer-
den ſollen, das internationale Leben Europas zu einer Monſtroſität
verkehrt werden wird.
Ich möchte die Schatten Lord Salisburys und Disraelis
ſprechen hören.
Ihr ergebener
Leyden.
1) Sir Frank Lascelles, bis vor einigen Jahren britiſcher Botſchafter in Berlin,
präſidierte im Jahre 1912 einer Konferenz, welche von engliſcher Seite zur Her-
ſtellung beſſerer Beziehungen angeregt worden war.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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