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Allgemeine Zeitung, Nr. 35, 4. Februar 1850.

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Montag.
Beilage zu Nr. 35 der Allg. Zeitung.
4 Februar 1850.


[Spaltenumbruch]

Uebersicht.
Wilhelm Martin Leberecht De Wette. -- Joseph v. Radowitz. --
Ein Besuch im orthopädischen Institut bei Hamburg. -- Die Woiwodina
und Croatien. -- Siebenbürgen. -- Zur franzöflschen historischen Litte-
ratur. -- Personalnachrichten.



Wilhelm Martin Leberecht de Wette.

* Bereits sind drei Vierteljahre verflossen seitdem die Erde die sterb-
liche Hülle des Mannes deckt der eine Zierde Basels, ein Ruhm der
deutschen Theologie, eine Säule der protestantischen Kirche war. Der
Tod dieses Mannes ist in diesen Blättern zwar angezeigt worden, aber
noch ist in denselben keine ausführlichere Erwähnung seines Lebens und
Wirkens geschehen. Und doch verdient de Wette dieselbe mehr als einer,
theils seiner theologischen Bedeutung, theils der Theilnahme wegen die
ihm das deutsche Volk jetzt gerade vor dreißig Jahren widmete. Die fol-
genden Zeilen, schon seit längerer Zeit geschrieben, sind weit entfernt
von dem Anspruch jene theologische Bedeutung darzulegen oder ein Ge-
sammtbild seines Wirkens zu geben. Nächstens wird eine Schrift die
Presse verlassen welche diesen Zweck vollkommen und trefflich erfüllt, und
nichts zu wünschen übrig lassen wird. Diese Zeilen wollen bloß den äu-
ßern Lebensgang de Wette's, an die Zeitereignisse anknüpfend, seinen
zahlreichen Freunden und Verehrern in Deutschland in Erinnerung brin-
gen, und hieran eine kurze Uebersicht über seine theologische Wirksamkeit
mehr vom litterarhistorischen Standpunkt aus anschließen. Es mögen
diesem Versuch die Worte zur Entschuldigung dienen die im Kirchenblatt
für die reformirte Schweiz bei Gelegenheit einer Recension der Schrift
des Hrn. Dr. Schenkel gesagt wurden: "Ein so reiches Leben, wie das
von de Wette, verdient wohl von verschiedenen Standpunkten aus aufge-
faßt und beleuchtet zu werden, und wie nach dem Tode Schleiermachers
eine ordentliche Schleiermacher-Litteratur entstanden ist, so dürfte, wenn
auch vielleicht in geringerem Umfang, auch hier ein Zusammentreffen
verschiedener Darstellungen auf dem einen Boden der Pietät gegen den
Verstorbenen stattfinden."

Das äußere Leben de Wette's zerfällt offenbar in zwei Theile. Der
erste Theil umfaßt die Periode bis zu seiner Berufung nach Basel im
Jahr 1822. Diese Lebensumstände sind durch seine frühern Schicksale
längst öffentlich bekannt und gewissermaßen berühmt geworden. Er war
geboren den 12 Januar 1780, der Sohn eines Landgeistlichen, in dem
sachsen-weimarischen Dorf Ulla, und verdankte seine erste Bildung der
Schule zu Buttstädt und dem Gymnafium zu Weimar. Das weimarische
Gymnasium war damals mit trefflichen Lehrern versehen, von denen es
genügt Herder und Böttiger zu nennen. De Wette gedachte noch in
spätern Jahren dankbar der Verdienste dieser Männer. Der Vorsteher
des Gymnastums, der berühmte Archäologe Böttiger, empfahl ihn einem
französischen Emigranten, dem Parlamentsmitglied Mounier, welcher in
dem herzoglichen Lustschloß Belvedere eine Erziehungsanstalt gegründet
hatte. De Wette ertheilte nun sowohl diesem als seinem Sohne, der
später Pair von Frankreich wurde, Unterricht in mehreren Gegenständen,
und begleitete letztern auf einer Reise zu Verwandten nach Genf und
Grenoble. Nach seinem Vaterlande zurückgekehrt, bezog er 1799, aus-
gezeichnet durch philologische Kenntnisse und gediegene Vorbildung, die
Universität Jena, wo er sich dem Studium der Theologie widmete. Schon
hier war es die Interpretation der heiligen Schrift (worin er später so
Ausgezeichnetes leistete) die ihn vor den übrigen theologischen Discipli-
nen anzog und ihn zu dem Entschluß brachte, gegen den Wunsch seines
Vaters, sich der akademischen Laufbahn zu widmen. Es war damals
eine wirre Zeit in Deutschland, überall Krieg und Kriegsgeschrei, Jam-
mer und Elend. Doch ging in dieser Zeit der Noth die Wissenschaft nicht
unter; denn der durch äußere Umstände gedrückte Geist mußte etwas
höheres haben an dem er sich aufrichten konnte. Das war ja eben der
Grund warum das nach der Schlacht bei Jena so tief gedemüthigte
Preußen 1809 die Universität zu Berlin errichtete. Jungen Männern die
sich der akademischen Laufbahn widmeten, war daher auch nicht die Hoff-
nung benommen einen Wirkungskreis und eine äußere gesicherte Stel-
lung zu erlangen. Wie strebsam die deutsche Jugend überhaupt war, und
welch herrlicher Geist in ihr schlummerte, das haben denn auch die
Kriegsjahre von 1813 und 1814 hinreichend dargethan. De Wette trat
daher nach beendigten Universitätsstudien 1805 als Privatdocent an der
durch Männer wie Fichte, Schelling, Paulus, Griesbach, Schütz, Loder,
[Spaltenumbruch] Hufeland u. a. berühmt gewordenen Universität Jena auf. Seine Vor-
lesungen über die mosaischen Bücher waren bald sehr besucht, und er-
freuten sich des ungetheilten Beifalls seiner Zuhörer. Schon 1807 erhielt
er einen Ruf als außerordentlicher Professor der Philosophie nach Hei-
delberg, und rückte 1809 als ordentlicher Professor der Theologie in die
dortige theologische Facultät ein. Die alte Rupertina war durch den
Kurfürsten Karl Friedrich und seinen Staatsminister Freiherrn v. Edels-
heim auf einen Stand gesetzt worden auf dem sie mit den ersten Hoch-
schulen Deutschlands wetteifern konnte. In der Theologie waren Daub
und Schwarz, in der Jurisprudenz Thibaut, in der Philosophie Fries,
in der Philologie und Alterthumskunde Creuzer, Wilken, Böckh und
Heinrich Voß als Lehrer thätig. "Als unmittelbar nachher auch Ewald
von Bremen, besonders für praktische Theologie, hierherkam (sagt ein
Geschichtschreiber der Heidelberger Universität*), und noch vor seinem
Abgang nach Karlsruhe Marheinecke, sowie sväter de Wette mit jugend-
licher Frische als außerordentliche Professoren in Heidelberg theologische
Lehrstühle eingenommen hatten: da war diese protestantische Facultät die
einzige in Deutschland in welcher ein neues geistig frisches, theologisches
Leben in verschiedenen Richtungen sich bewegte, das leider nur zu frühe
seine jüngeren Boten, zu denen noch Neander getreten war, gen Berlin
sandte, um dort in Verbindung mit Schleiermacher die größte theologi-
sche Facultät der neuesten Zeit zu gründen."

In der That entzog Berlin Heidelberg seine besten Kräfte, und auch
de Wette folgte 1810 einem Ruf an diese neugestiftete Univerfität, wo er
seine alten Heidelberger Freunde, wie Marheinecke, Neander, Wilken,
Böckh etc., von denen einige noch als Zierden der ersten preußischen Hoch-
schule leben und wirken, andere bereits die irdische Laufbahn geschlossen
haben, wieder beisammen fand. Es versteht sich wohl von selbst daß de
Wette auch mit Schleiermacher, dem "Wiederhersteller der deutschen Theo-
logie" (nach seinem eigenen Ausdruck) in enge Berührung trat; schon
frühe, bekennt de Wette selbst, hatte ihn jener durch seine Reden über die
Religion in seine Bahn gezogen. Unter seinen übrigen Bekannten zu Ber-
lin möge der edle Reimer nicht vergessen werden, der sein treuer Freund
war, und der Verleger einer großen Zahl seiner bedeutendsten Werke ge-
worden ist. Wie sehr de Wette bei diesen Männern und bei seinen Colle-
gen überhaupt geschätzt und geliebt war, das bezeugt die Verwendung des
akademischen Senats in einem bald darauf eintretenden Fall, und die Ach-
tung und Theilnahme mit welcher dieselben auch späterhin immer noch
von ihrem frühern Mitarbeiter gesprochen haben. Eine schöne Anerken-
nung seiner Leistungen erhielt er in dem gleichen Jahr (1810) durch die
ungesuchte Uebersendung des theologischen Doctordiploms von der Uni-
verfttät zu Breslau. Mit Wort und Schrift beförderte nun der scharfe
Forscher in dieser neuen glänzenden Stellung die theologischen Wissen-
schaften acht Jahre lang, als plötzlich ein Ereigniß eintrat welches sehr
störend auf seine äußern Lebensschicksale wirkte. Er hatte nämlich im Jahr
1818 auf einer Reise im Fichtelgebirge die Bekanntschaft des Justizraths
Sand und der Familie desselben gemacht, und fand sich dadurch veranlaßt,
nachdem der Sohn Sand 1819 die bekannte schreckliche That verübt hatte,
der tiefgebeugten Mutrer einige tröstende Worte zu schreiben. Dieses auf
besondere Verhältnisse berechnete Privatschreiben wurde aber von der
durch die demagogischen Umtriebe jener Zeit wohl über Gebühr argwöh-
nisch gemachten preußischen Regierung so ausgebeutet daß sie, trotz allen
Rechtfertigungen von Seiten des Betreffenden, trotz dem dringenden Ver-
wenden des akademischen Senats, am 30 Aug. 1819 seine Entlassung von
der Lehrstelle zu Berlin verhängte. Die deutschen Regierungen haben im
Jahr 1848 schwer gebüßt was sie damals gefehlt haben. Fürwahr, wenn
damals nicht so viele gute Kräfte und edle Regungen unterdrückt wor-
den wären, Deutschland hätte sich heute manche bittere und traurige Er-
fahrung ersparen können!

Indessen nahm die öffentliche Meinung ungetheilt für de Wette Par-
tei. In Weimar, wohin er sich zurückgezogen hatte, empfing er vielfältige
Beweise davon; in allen Gegenden Deutschlands beklagte man das harte
Loos das ihn betroffen. De Wette selbst aber fuhr fort für die Wissen-
schaft thätig zu seyn. Außerdem betrat er jetzt auch an mehrern Orten
seines Vaterlandes die Kanzel, und erwarb sich auch hier durch die prak-
tische Ausübung seines Berufes die ungetheilteste Theilnahme aller derer
die ihn hörten. Dieß war denn auch die Veranlassung daß er von der Ge-
meinde der Katharinenkirche zu Braunschweig 1821 einstimmig zu ihrem
Prediger erwählt wurde. Allein so mächtig war damals das politische



*) W. Dittenberger: Die Universität Heidelberg im Jahr 1804. Ein Bei-
trag zu ihrer Geschichte. Heidelberg 1844. Seite 30.

Montag.
Beilage zu Nr. 35 der Allg. Zeitung.
4 Februar 1850.


[Spaltenumbruch]

Ueberſicht.
Wilhelm Martin Leberecht De Wette. — Joſeph v. Radowitz. —
Ein Beſuch im orthopädiſchen Inſtitut bei Hamburg. — Die Woiwodina
und Croatien. — Siebenbürgen. — Zur franzöflſchen hiſtoriſchen Litte-
ratur. — Perſonalnachrichten.



Wilhelm Martin Leberecht de Wette.

* Bereits ſind drei Vierteljahre verfloſſen ſeitdem die Erde die ſterb-
liche Hülle des Mannes deckt der eine Zierde Baſels, ein Ruhm der
deutſchen Theologie, eine Säule der proteſtantiſchen Kirche war. Der
Tod dieſes Mannes iſt in dieſen Blättern zwar angezeigt worden, aber
noch iſt in denſelben keine ausführlichere Erwähnung ſeines Lebens und
Wirkens geſchehen. Und doch verdient de Wette dieſelbe mehr als einer,
theils ſeiner theologiſchen Bedeutung, theils der Theilnahme wegen die
ihm das deutſche Volk jetzt gerade vor dreißig Jahren widmete. Die fol-
genden Zeilen, ſchon ſeit längerer Zeit geſchrieben, ſind weit entfernt
von dem Anſpruch jene theologiſche Bedeutung darzulegen oder ein Ge-
ſammtbild ſeines Wirkens zu geben. Nächſtens wird eine Schrift die
Preſſe verlaſſen welche dieſen Zweck vollkommen und trefflich erfüllt, und
nichts zu wünſchen übrig laſſen wird. Dieſe Zeilen wollen bloß den äu-
ßern Lebensgang de Wette’s, an die Zeitereigniſſe anknüpfend, ſeinen
zahlreichen Freunden und Verehrern in Deutſchland in Erinnerung brin-
gen, und hieran eine kurze Ueberſicht über ſeine theologiſche Wirkſamkeit
mehr vom litterarhiſtoriſchen Standpunkt aus anſchließen. Es mögen
dieſem Verſuch die Worte zur Entſchuldigung dienen die im Kirchenblatt
für die reformirte Schweiz bei Gelegenheit einer Recenſion der Schrift
des Hrn. Dr. Schenkel geſagt wurden: „Ein ſo reiches Leben, wie das
von de Wette, verdient wohl von verſchiedenen Standpunkten aus aufge-
faßt und beleuchtet zu werden, und wie nach dem Tode Schleiermachers
eine ordentliche Schleiermacher-Litteratur entſtanden iſt, ſo dürfte, wenn
auch vielleicht in geringerem Umfang, auch hier ein Zuſammentreffen
verſchiedener Darſtellungen auf dem einen Boden der Pietät gegen den
Verſtorbenen ſtattfinden.“

Das äußere Leben de Wette’s zerfällt offenbar in zwei Theile. Der
erſte Theil umfaßt die Periode bis zu ſeiner Berufung nach Baſel im
Jahr 1822. Dieſe Lebensumſtände ſind durch ſeine frühern Schickſale
längſt öffentlich bekannt und gewiſſermaßen berühmt geworden. Er war
geboren den 12 Januar 1780, der Sohn eines Landgeiſtlichen, in dem
ſachſen-weimariſchen Dorf Ulla, und verdankte ſeine erſte Bildung der
Schule zu Buttſtädt und dem Gymnafium zu Weimar. Das weimariſche
Gymnaſium war damals mit trefflichen Lehrern verſehen, von denen es
genügt Herder und Böttiger zu nennen. De Wette gedachte noch in
ſpätern Jahren dankbar der Verdienſte dieſer Männer. Der Vorſteher
des Gymnaſtums, der berühmte Archäologe Böttiger, empfahl ihn einem
franzöſiſchen Emigranten, dem Parlamentsmitglied Mounier, welcher in
dem herzoglichen Luſtſchloß Belvedere eine Erziehungsanſtalt gegründet
hatte. De Wette ertheilte nun ſowohl dieſem als ſeinem Sohne, der
ſpäter Pair von Frankreich wurde, Unterricht in mehreren Gegenſtänden,
und begleitete letztern auf einer Reiſe zu Verwandten nach Genf und
Grenoble. Nach ſeinem Vaterlande zurückgekehrt, bezog er 1799, aus-
gezeichnet durch philologiſche Kenntniſſe und gediegene Vorbildung, die
Univerſität Jena, wo er ſich dem Studium der Theologie widmete. Schon
hier war es die Interpretation der heiligen Schrift (worin er ſpäter ſo
Ausgezeichnetes leiſtete) die ihn vor den übrigen theologiſchen Discipli-
nen anzog und ihn zu dem Entſchluß brachte, gegen den Wunſch ſeines
Vaters, ſich der akademiſchen Laufbahn zu widmen. Es war damals
eine wirre Zeit in Deutſchland, überall Krieg und Kriegsgeſchrei, Jam-
mer und Elend. Doch ging in dieſer Zeit der Noth die Wiſſenſchaft nicht
unter; denn der durch äußere Umſtände gedrückte Geiſt mußte etwas
höheres haben an dem er ſich aufrichten konnte. Das war ja eben der
Grund warum das nach der Schlacht bei Jena ſo tief gedemüthigte
Preußen 1809 die Univerſität zu Berlin errichtete. Jungen Männern die
ſich der akademiſchen Laufbahn widmeten, war daher auch nicht die Hoff-
nung benommen einen Wirkungskreis und eine äußere geſicherte Stel-
lung zu erlangen. Wie ſtrebſam die deutſche Jugend überhaupt war, und
welch herrlicher Geiſt in ihr ſchlummerte, das haben denn auch die
Kriegsjahre von 1813 und 1814 hinreichend dargethan. De Wette trat
daher nach beendigten Univerſitätsſtudien 1805 als Privatdocent an der
durch Männer wie Fichte, Schelling, Paulus, Griesbach, Schütz, Loder,
[Spaltenumbruch] Hufeland u. a. berühmt gewordenen Univerſität Jena auf. Seine Vor-
leſungen über die moſaiſchen Bücher waren bald ſehr beſucht, und er-
freuten ſich des ungetheilten Beifalls ſeiner Zuhörer. Schon 1807 erhielt
er einen Ruf als außerordentlicher Profeſſor der Philoſophie nach Hei-
delberg, und rückte 1809 als ordentlicher Profeſſor der Theologie in die
dortige theologiſche Facultät ein. Die alte Rupertina war durch den
Kurfürſten Karl Friedrich und ſeinen Staatsminiſter Freiherrn v. Edels-
heim auf einen Stand geſetzt worden auf dem ſie mit den erſten Hoch-
ſchulen Deutſchlands wetteifern konnte. In der Theologie waren Daub
und Schwarz, in der Jurisprudenz Thibaut, in der Philoſophie Fries,
in der Philologie und Alterthumskunde Creuzer, Wilken, Böckh und
Heinrich Voß als Lehrer thätig. „Als unmittelbar nachher auch Ewald
von Bremen, beſonders für praktiſche Theologie, hierherkam (ſagt ein
Geſchichtſchreiber der Heidelberger Univerſität*), und noch vor ſeinem
Abgang nach Karlsruhe Marheinecke, ſowie ſväter de Wette mit jugend-
licher Friſche als außerordentliche Profeſſoren in Heidelberg theologiſche
Lehrſtühle eingenommen hatten: da war dieſe proteſtantiſche Facultät die
einzige in Deutſchland in welcher ein neues geiſtig friſches, theologiſches
Leben in verſchiedenen Richtungen ſich bewegte, das leider nur zu frühe
ſeine jüngeren Boten, zu denen noch Neander getreten war, gen Berlin
ſandte, um dort in Verbindung mit Schleiermacher die größte theologi-
ſche Facultät der neueſten Zeit zu gründen.“

In der That entzog Berlin Heidelberg ſeine beſten Kräfte, und auch
de Wette folgte 1810 einem Ruf an dieſe neugeſtiftete Univerfität, wo er
ſeine alten Heidelberger Freunde, wie Marheinecke, Neander, Wilken,
Böckh ꝛc., von denen einige noch als Zierden der erſten preußiſchen Hoch-
ſchule leben und wirken, andere bereits die irdiſche Laufbahn geſchloſſen
haben, wieder beiſammen fand. Es verſteht ſich wohl von ſelbſt daß de
Wette auch mit Schleiermacher, dem „Wiederherſteller der deutſchen Theo-
logie“ (nach ſeinem eigenen Ausdruck) in enge Berührung trat; ſchon
frühe, bekennt de Wette ſelbſt, hatte ihn jener durch ſeine Reden über die
Religion in ſeine Bahn gezogen. Unter ſeinen übrigen Bekannten zu Ber-
lin möge der edle Reimer nicht vergeſſen werden, der ſein treuer Freund
war, und der Verleger einer großen Zahl ſeiner bedeutendſten Werke ge-
worden iſt. Wie ſehr de Wette bei dieſen Männern und bei ſeinen Colle-
gen überhaupt geſchätzt und geliebt war, das bezeugt die Verwendung des
akademiſchen Senats in einem bald darauf eintretenden Fall, und die Ach-
tung und Theilnahme mit welcher dieſelben auch ſpäterhin immer noch
von ihrem frühern Mitarbeiter geſprochen haben. Eine ſchöne Anerken-
nung ſeiner Leiſtungen erhielt er in dem gleichen Jahr (1810) durch die
ungeſuchte Ueberſendung des theologiſchen Doctordiploms von der Uni-
verfttät zu Breslau. Mit Wort und Schrift beförderte nun der ſcharfe
Forſcher in dieſer neuen glänzenden Stellung die theologiſchen Wiſſen-
ſchaften acht Jahre lang, als plötzlich ein Ereigniß eintrat welches ſehr
ſtörend auf ſeine äußern Lebensſchickſale wirkte. Er hatte nämlich im Jahr
1818 auf einer Reiſe im Fichtelgebirge die Bekanntſchaft des Juſtizraths
Sand und der Familie desſelben gemacht, und fand ſich dadurch veranlaßt,
nachdem der Sohn Sand 1819 die bekannte ſchreckliche That verübt hatte,
der tiefgebeugten Mutrer einige tröſtende Worte zu ſchreiben. Dieſes auf
beſondere Verhältniſſe berechnete Privatſchreiben wurde aber von der
durch die demagogiſchen Umtriebe jener Zeit wohl über Gebühr argwöh-
niſch gemachten preußiſchen Regierung ſo ausgebeutet daß ſie, trotz allen
Rechtfertigungen von Seiten des Betreffenden, trotz dem dringenden Ver-
wenden des akademiſchen Senats, am 30 Aug. 1819 ſeine Entlaſſung von
der Lehrſtelle zu Berlin verhängte. Die deutſchen Regierungen haben im
Jahr 1848 ſchwer gebüßt was ſie damals gefehlt haben. Fürwahr, wenn
damals nicht ſo viele gute Kräfte und edle Regungen unterdrückt wor-
den wären, Deutſchland hätte ſich heute manche bittere und traurige Er-
fahrung erſparen können!

Indeſſen nahm die öffentliche Meinung ungetheilt für de Wette Par-
tei. In Weimar, wohin er ſich zurückgezogen hatte, empfing er vielfältige
Beweiſe davon; in allen Gegenden Deutſchlands beklagte man das harte
Loos das ihn betroffen. De Wette ſelbſt aber fuhr fort für die Wiſſen-
ſchaft thätig zu ſeyn. Außerdem betrat er jetzt auch an mehrern Orten
ſeines Vaterlandes die Kanzel, und erwarb ſich auch hier durch die prak-
tiſche Ausübung ſeines Berufes die ungetheilteſte Theilnahme aller derer
die ihn hörten. Dieß war denn auch die Veranlaſſung daß er von der Ge-
meinde der Katharinenkirche zu Braunſchweig 1821 einſtimmig zu ihrem
Prediger erwählt wurde. Allein ſo mächtig war damals das politiſche



*) W. Dittenberger: Die Univerſität Heidelberg im Jahr 1804. Ein Bei-
trag zu ihrer Geſchichte. Heidelberg 1844. Seite 30.
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[0009] Montag. Beilage zu Nr. 35 der Allg. Zeitung. 4 Februar 1850. Ueberſicht. Wilhelm Martin Leberecht De Wette. — Joſeph v. Radowitz. — Ein Beſuch im orthopädiſchen Inſtitut bei Hamburg. — Die Woiwodina und Croatien. — Siebenbürgen. — Zur franzöflſchen hiſtoriſchen Litte- ratur. — Perſonalnachrichten. Wilhelm Martin Leberecht de Wette. * Bereits ſind drei Vierteljahre verfloſſen ſeitdem die Erde die ſterb- liche Hülle des Mannes deckt der eine Zierde Baſels, ein Ruhm der deutſchen Theologie, eine Säule der proteſtantiſchen Kirche war. Der Tod dieſes Mannes iſt in dieſen Blättern zwar angezeigt worden, aber noch iſt in denſelben keine ausführlichere Erwähnung ſeines Lebens und Wirkens geſchehen. Und doch verdient de Wette dieſelbe mehr als einer, theils ſeiner theologiſchen Bedeutung, theils der Theilnahme wegen die ihm das deutſche Volk jetzt gerade vor dreißig Jahren widmete. Die fol- genden Zeilen, ſchon ſeit längerer Zeit geſchrieben, ſind weit entfernt von dem Anſpruch jene theologiſche Bedeutung darzulegen oder ein Ge- ſammtbild ſeines Wirkens zu geben. Nächſtens wird eine Schrift die Preſſe verlaſſen welche dieſen Zweck vollkommen und trefflich erfüllt, und nichts zu wünſchen übrig laſſen wird. Dieſe Zeilen wollen bloß den äu- ßern Lebensgang de Wette’s, an die Zeitereigniſſe anknüpfend, ſeinen zahlreichen Freunden und Verehrern in Deutſchland in Erinnerung brin- gen, und hieran eine kurze Ueberſicht über ſeine theologiſche Wirkſamkeit mehr vom litterarhiſtoriſchen Standpunkt aus anſchließen. Es mögen dieſem Verſuch die Worte zur Entſchuldigung dienen die im Kirchenblatt für die reformirte Schweiz bei Gelegenheit einer Recenſion der Schrift des Hrn. Dr. Schenkel geſagt wurden: „Ein ſo reiches Leben, wie das von de Wette, verdient wohl von verſchiedenen Standpunkten aus aufge- faßt und beleuchtet zu werden, und wie nach dem Tode Schleiermachers eine ordentliche Schleiermacher-Litteratur entſtanden iſt, ſo dürfte, wenn auch vielleicht in geringerem Umfang, auch hier ein Zuſammentreffen verſchiedener Darſtellungen auf dem einen Boden der Pietät gegen den Verſtorbenen ſtattfinden.“ Das äußere Leben de Wette’s zerfällt offenbar in zwei Theile. Der erſte Theil umfaßt die Periode bis zu ſeiner Berufung nach Baſel im Jahr 1822. Dieſe Lebensumſtände ſind durch ſeine frühern Schickſale längſt öffentlich bekannt und gewiſſermaßen berühmt geworden. Er war geboren den 12 Januar 1780, der Sohn eines Landgeiſtlichen, in dem ſachſen-weimariſchen Dorf Ulla, und verdankte ſeine erſte Bildung der Schule zu Buttſtädt und dem Gymnafium zu Weimar. Das weimariſche Gymnaſium war damals mit trefflichen Lehrern verſehen, von denen es genügt Herder und Böttiger zu nennen. De Wette gedachte noch in ſpätern Jahren dankbar der Verdienſte dieſer Männer. Der Vorſteher des Gymnaſtums, der berühmte Archäologe Böttiger, empfahl ihn einem franzöſiſchen Emigranten, dem Parlamentsmitglied Mounier, welcher in dem herzoglichen Luſtſchloß Belvedere eine Erziehungsanſtalt gegründet hatte. De Wette ertheilte nun ſowohl dieſem als ſeinem Sohne, der ſpäter Pair von Frankreich wurde, Unterricht in mehreren Gegenſtänden, und begleitete letztern auf einer Reiſe zu Verwandten nach Genf und Grenoble. Nach ſeinem Vaterlande zurückgekehrt, bezog er 1799, aus- gezeichnet durch philologiſche Kenntniſſe und gediegene Vorbildung, die Univerſität Jena, wo er ſich dem Studium der Theologie widmete. Schon hier war es die Interpretation der heiligen Schrift (worin er ſpäter ſo Ausgezeichnetes leiſtete) die ihn vor den übrigen theologiſchen Discipli- nen anzog und ihn zu dem Entſchluß brachte, gegen den Wunſch ſeines Vaters, ſich der akademiſchen Laufbahn zu widmen. Es war damals eine wirre Zeit in Deutſchland, überall Krieg und Kriegsgeſchrei, Jam- mer und Elend. Doch ging in dieſer Zeit der Noth die Wiſſenſchaft nicht unter; denn der durch äußere Umſtände gedrückte Geiſt mußte etwas höheres haben an dem er ſich aufrichten konnte. Das war ja eben der Grund warum das nach der Schlacht bei Jena ſo tief gedemüthigte Preußen 1809 die Univerſität zu Berlin errichtete. Jungen Männern die ſich der akademiſchen Laufbahn widmeten, war daher auch nicht die Hoff- nung benommen einen Wirkungskreis und eine äußere geſicherte Stel- lung zu erlangen. Wie ſtrebſam die deutſche Jugend überhaupt war, und welch herrlicher Geiſt in ihr ſchlummerte, das haben denn auch die Kriegsjahre von 1813 und 1814 hinreichend dargethan. De Wette trat daher nach beendigten Univerſitätsſtudien 1805 als Privatdocent an der durch Männer wie Fichte, Schelling, Paulus, Griesbach, Schütz, Loder, Hufeland u. a. berühmt gewordenen Univerſität Jena auf. Seine Vor- leſungen über die moſaiſchen Bücher waren bald ſehr beſucht, und er- freuten ſich des ungetheilten Beifalls ſeiner Zuhörer. Schon 1807 erhielt er einen Ruf als außerordentlicher Profeſſor der Philoſophie nach Hei- delberg, und rückte 1809 als ordentlicher Profeſſor der Theologie in die dortige theologiſche Facultät ein. Die alte Rupertina war durch den Kurfürſten Karl Friedrich und ſeinen Staatsminiſter Freiherrn v. Edels- heim auf einen Stand geſetzt worden auf dem ſie mit den erſten Hoch- ſchulen Deutſchlands wetteifern konnte. In der Theologie waren Daub und Schwarz, in der Jurisprudenz Thibaut, in der Philoſophie Fries, in der Philologie und Alterthumskunde Creuzer, Wilken, Böckh und Heinrich Voß als Lehrer thätig. „Als unmittelbar nachher auch Ewald von Bremen, beſonders für praktiſche Theologie, hierherkam (ſagt ein Geſchichtſchreiber der Heidelberger Univerſität *), und noch vor ſeinem Abgang nach Karlsruhe Marheinecke, ſowie ſväter de Wette mit jugend- licher Friſche als außerordentliche Profeſſoren in Heidelberg theologiſche Lehrſtühle eingenommen hatten: da war dieſe proteſtantiſche Facultät die einzige in Deutſchland in welcher ein neues geiſtig friſches, theologiſches Leben in verſchiedenen Richtungen ſich bewegte, das leider nur zu frühe ſeine jüngeren Boten, zu denen noch Neander getreten war, gen Berlin ſandte, um dort in Verbindung mit Schleiermacher die größte theologi- ſche Facultät der neueſten Zeit zu gründen.“ In der That entzog Berlin Heidelberg ſeine beſten Kräfte, und auch de Wette folgte 1810 einem Ruf an dieſe neugeſtiftete Univerfität, wo er ſeine alten Heidelberger Freunde, wie Marheinecke, Neander, Wilken, Böckh ꝛc., von denen einige noch als Zierden der erſten preußiſchen Hoch- ſchule leben und wirken, andere bereits die irdiſche Laufbahn geſchloſſen haben, wieder beiſammen fand. Es verſteht ſich wohl von ſelbſt daß de Wette auch mit Schleiermacher, dem „Wiederherſteller der deutſchen Theo- logie“ (nach ſeinem eigenen Ausdruck) in enge Berührung trat; ſchon frühe, bekennt de Wette ſelbſt, hatte ihn jener durch ſeine Reden über die Religion in ſeine Bahn gezogen. Unter ſeinen übrigen Bekannten zu Ber- lin möge der edle Reimer nicht vergeſſen werden, der ſein treuer Freund war, und der Verleger einer großen Zahl ſeiner bedeutendſten Werke ge- worden iſt. Wie ſehr de Wette bei dieſen Männern und bei ſeinen Colle- gen überhaupt geſchätzt und geliebt war, das bezeugt die Verwendung des akademiſchen Senats in einem bald darauf eintretenden Fall, und die Ach- tung und Theilnahme mit welcher dieſelben auch ſpäterhin immer noch von ihrem frühern Mitarbeiter geſprochen haben. Eine ſchöne Anerken- nung ſeiner Leiſtungen erhielt er in dem gleichen Jahr (1810) durch die ungeſuchte Ueberſendung des theologiſchen Doctordiploms von der Uni- verfttät zu Breslau. Mit Wort und Schrift beförderte nun der ſcharfe Forſcher in dieſer neuen glänzenden Stellung die theologiſchen Wiſſen- ſchaften acht Jahre lang, als plötzlich ein Ereigniß eintrat welches ſehr ſtörend auf ſeine äußern Lebensſchickſale wirkte. Er hatte nämlich im Jahr 1818 auf einer Reiſe im Fichtelgebirge die Bekanntſchaft des Juſtizraths Sand und der Familie desſelben gemacht, und fand ſich dadurch veranlaßt, nachdem der Sohn Sand 1819 die bekannte ſchreckliche That verübt hatte, der tiefgebeugten Mutrer einige tröſtende Worte zu ſchreiben. Dieſes auf beſondere Verhältniſſe berechnete Privatſchreiben wurde aber von der durch die demagogiſchen Umtriebe jener Zeit wohl über Gebühr argwöh- niſch gemachten preußiſchen Regierung ſo ausgebeutet daß ſie, trotz allen Rechtfertigungen von Seiten des Betreffenden, trotz dem dringenden Ver- wenden des akademiſchen Senats, am 30 Aug. 1819 ſeine Entlaſſung von der Lehrſtelle zu Berlin verhängte. Die deutſchen Regierungen haben im Jahr 1848 ſchwer gebüßt was ſie damals gefehlt haben. Fürwahr, wenn damals nicht ſo viele gute Kräfte und edle Regungen unterdrückt wor- den wären, Deutſchland hätte ſich heute manche bittere und traurige Er- fahrung erſparen können! Indeſſen nahm die öffentliche Meinung ungetheilt für de Wette Par- tei. In Weimar, wohin er ſich zurückgezogen hatte, empfing er vielfältige Beweiſe davon; in allen Gegenden Deutſchlands beklagte man das harte Loos das ihn betroffen. De Wette ſelbſt aber fuhr fort für die Wiſſen- ſchaft thätig zu ſeyn. Außerdem betrat er jetzt auch an mehrern Orten ſeines Vaterlandes die Kanzel, und erwarb ſich auch hier durch die prak- tiſche Ausübung ſeines Berufes die ungetheilteſte Theilnahme aller derer die ihn hörten. Dieß war denn auch die Veranlaſſung daß er von der Ge- meinde der Katharinenkirche zu Braunſchweig 1821 einſtimmig zu ihrem Prediger erwählt wurde. Allein ſo mächtig war damals das politiſche *) W. Dittenberger: Die Univerſität Heidelberg im Jahr 1804. Ein Bei- trag zu ihrer Geſchichte. Heidelberg 1844. Seite 30.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 35, 4. Februar 1850, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine35_1850/9>, abgerufen am 15.08.2024.