Allgemeine Zeitung, Nr. 33, 15. August 1914.15. August 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
die Kreuzer "Augsburg" und Magdebuerg", ferner das Erscheinenunserer im Mittelmeer befindlichen Schiffe an der Küste von Algier und die Beschießung der französischen Truppenverladeplätze Phi- lippsville und Bone, zeigt so recht den offensiv-militärischen Geist, der unsere ganze Flotte beseelt. Der Feind im Osten. Auch an der russischen Grenze haben wir nur Erfolge zu ver- Die Russen haben ohne jeden Kampf beide Orte geräumt. Die strategische Bedeutung von Czenstochau, das Um den Zugang zur russischen Hauptstadt von der See- Drei im Grenzschutz bei Eydtkuhnen stehende Kompagnien, Die russischen Unwahrheiten nehmen ihren Fortgang. Sie Die russische Regierung veröffentlichte ein Orangebuch Diese Behauptung ist unwahr, Deutschland unterstützte im Ferner wird von der russischen Regierung behauptet, die Kläglich ist der Eindruck der Rechtfertigungsversuche des Krie- Der Zar empfing im Winterpalais in Gegenwart des Genera- In diesen bedeutungsvollen Tagen der Aufregung und der 15. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
die Kreuzer „Augsburg“ und Magdebuerg“, ferner das Erſcheinenunſerer im Mittelmeer befindlichen Schiffe an der Küſte von Algier und die Beſchießung der franzöſiſchen Truppenverladeplätze Phi- lippsville und Bône, zeigt ſo recht den offenſiv-militäriſchen Geiſt, der unſere ganze Flotte beſeelt. Der Feind im Oſten. Auch an der ruſſiſchen Grenze haben wir nur Erfolge zu ver- Die Ruſſen haben ohne jeden Kampf beide Orte geräumt. Die ſtrategiſche Bedeutung von Czenſtochau, das Um den Zugang zur ruſſiſchen Hauptſtadt von der See- Drei im Grenzſchutz bei Eydtkuhnen ſtehende Kompagnien, Die ruſſiſchen Unwahrheiten nehmen ihren Fortgang. Sie Die ruſſiſche Regierung veröffentlichte ein Orangebuch Dieſe Behauptung iſt unwahr, Deutſchland unterſtützte im Ferner wird von der ruſſiſchen Regierung behauptet, die Kläglich iſt der Eindruck der Rechtfertigungsverſuche des Krie- Der Zar empfing im Winterpalais in Gegenwart des Genera- In dieſen bedeutungsvollen Tagen der Aufregung und der <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <div type="jComment" n="3"> <div type="jArticle" n="4"> <p><pb facs="#f0005" n="511"/><fw place="top" type="header">15. 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15. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
die Kreuzer „Augsburg“ und Magdebuerg“, ferner das Erſcheinen
unſerer im Mittelmeer befindlichen Schiffe an der Küſte von Algier
und die Beſchießung der franzöſiſchen Truppenverladeplätze Phi-
lippsville und Bône, zeigt ſo recht den offenſiv-militäriſchen Geiſt,
der unſere ganze Flotte beſeelt.
Der Feind im Oſten.
Auch an der ruſſiſchen Grenze haben wir nur Erfolge zu ver-
zeichnen. Die deutſchen Truppen haben die beiden wichtigen Grenz-
orte Kaliſch und Czenſtochau genommen. Dieſe beiden Einnahmen
geben der Kreuzzeitung Gelegenheit, auf die Bedeutung der beiden
wichtigen Grenzorte hinzuweiſen:
Die Ruſſen haben ohne jeden Kampf beide Orte geräumt.
Dies muß bei Kaliſch deswegen beſonderes Erſtaunen her-
vorrufen, weil die Ruſſen erſt vor etwa 10 Jahren lediglich
aus ſtrategiſchen Gründen die Eiſenbahn Warſchau—Lodz—
Kaliſch gebaut haben. Dieſe Bahn vermittelt über Skalmier-
zyce—Oſtrowo einen Grenzübergang, der im Zuge der alten
Hauptverkehrsſtraße aus dem Innern Deutſchlands nach War-
ſchau in der Richtung Dresden—Sagan—Glogau—Kaliſch
verläuft. Dieſe alte Verkehrsſtraße hatte namentlich zu der-
jenigen Zeit eine ſehr große Bedeutung, als die Kurfürſten
von Sachſen Könige von Polen waren. Das Beſondere an
der Bahn Warſchau—Kaliſch iſt aber, daß dieſe die einzige
in Ruſſiſch-Polen an die preußiſche Grenze heranführende
Bahn iſt, die das breite ruſſiſche Gleis aufweiſt, während die
dort vorhandenen, der Warſchau-Wiener Eiſenbahngeſellſchaft
gehörenden Bahnen die weſteuropäiſche normale Spurweite
aufweiſen. Kaliſch war alſo der wichtige Punkt an der
Grenze, bis zu dem die ruſſiſchen Eiſenbahnwagen, die, wie
bekannt, erheblich breiter ſind, als die unſrigen, aus dem In-
nern Rußlands gelangen konnten, während dies beiſpielsweiſe
bei dem Grenzübergang Alexandrowo nicht möglich iſt, da die
Strecke Warſchau—Alexandrowo die europäiſche Spurweite
aufweiſt. An der Strecke Warſchau—Kaliſch liegt auch Lodz,
das polniſche Mancheſter, die größte Induſtrieſtadt Rußlands,
deren Bevölkerung von mehr als 600,000 Einwohnern wohl
zur Hälfte aus Deutſchen, jetzt zumeiſt Nachkommen von ein-
gewanderten Reichsdeutſchen, beſteht. Die koloſſale Induſtrie
dieſer Stadt, die vorwiegend eine Baumwollinduſtrie iſt, ver-
ſorgt den größten Teil des weiten ruſſiſchen Reiches mit ihren
Erzeugniſſen. Die meiſten deutſchen Einwohner von Lodz
ſtammen aus dem Königreich Sachſen. — Auch in Kaliſch hat
ſich in der letzten Zeit eine bedeutende Induſtrie entwickelt.
Dieſer Ort ſpielte einſt in der Zeit der turmhohen preußiſch-
ruſſiſchen Freundſchaft eine hervorragende Rolle. In Kaliſch
wurde am 28. Februar 1813 der preußiſch-ruſſiſche Bündnis-
vertrag von dem Könige Friedrich Wilhelm III. und dem
Kaiſer Alexander I. unterzeichnet, der die Vorausſetzung zu
der Erhebung Preußens gegen die franzöſiſche Fremdherr-
ſchaft bildete. In Kaliſch fand im Jahre 1831 die bekannte
Revue über die vereinigten preußiſchen und ruſſiſchen Trup-
pen vor dem Könige Friedrich Wilhelm III. und dem Zaren
Nikolaus I. ſtatt. Die preußiſchen und ruſſiſchen Truppen
hatten hier in der Stärke von etwa 160,000 Mann ein
Uebungslager bezogen. Die preußiſchen Soldaten, die an der
Kaliſcher Revue teilgenommen hatten, trugen als bleibende
Erinnerung daran eine ſchwarz-weiß-gelbe Schnur (in den
vereinigten preußiſchen und ruſſiſchen Farben) auf den Achſel-
klappen. In der Kriegsgeſchichte iſt Kaliſch beſonders noch
durch die Niederlage bekannt geworden, die dort Karl XII.
von Schweden im Nordiſchen Kriege am 29. Oktober 1706
gegenüber den vereinigten Ruſſen und Sachſen erlitten hatte.
Die ſtrategiſche Bedeutung von Czenſtochau, das
am Montag, wie bekannt, ebenfalls von den preußiſchen
Truppen beſetzt wurde, beſteht darin, daß hier die preußiſch-
ruſſiſche Eiſenbahn-Grenzübergangsſtrecke Herby—Czen-
ſtochau in die Warſchau-Wiener Bahn einmündet. In Czen-
ſtochau liegt auf der Jasna Gora das Nationalheiligtum der
Polen, das berühmte Wallfahrtskloſter mit dem wundertäti-
gen Muttergottesbilde, zu dem alljährlich Zehntauſende von
Polen aus Rußland, Preußen und Oeſterreich zu wallen
pflegen. Die Jasna Gora (der leuchtende Berg) war einſt
ſtark befeſtigt. Das Kloſter iſt aufgebaut wie eine Burg und
trägt auf ſeinen Außenmauern Kriegsembleme. Sogar der
Raum, in dem ſich das berühmte Muttergottesbild befindet,
weiſt an der Decke Schlachtenbilder auf. Vor einigen Jahren
erregten die Verbrechen des Mönches Maczoch, die dieſer in
dem Kloſter begangen hatte (Maczoch hatte u. a. in ſeiner
Zelle ſeinen eigenen Bruder ermordet) überall das größte
Aufſehen.
Um den Zugang zur ruſſiſchen Hauptſtadt von der See-
ſeite unmöglich zu machen, zerſtören die Ruſſen ihre eigenen
Werke. So haben ſie den finniſchen Meerbuſen Hangö
geſperrt. Aus Kopenhagen wird darüber dem Wolffſchen Tele-
graphenbureau gemeldet: Eine Meldung berichtet über die Zerſtö-
rung von Hangö, dem beſten Hafenplatz Finnlands am Eingang
zum finniſchen Meerbuſen, durch die Ruſſen. Die Ruſſen verſenk-
ten am Sonntag und Montag einen großen Dampfer im Hafen-
eingang und ebenſo alle Hafenkräne, ſprengten die Eiſenbahn-
werkſtätten und die Hafenmole in die Luft, ſteckten 30 Magazine
in Brand, zerſtörten die Eiſenbahnlinien und ſperrten die Einfahrt
in den finniſchen Meerbuſen und beſonders die Fahrrinne nach
Petersburg durch Minen. Die Einfahrt wird durch eine Torpedo-
bootsflotille bewacht.
Drei im Grenzſchutz bei Eydtkuhnen ſtehende Kompagnien,
unterſtützt durch heraneilende Feldartillerie, haben die über Romei-
ken auf Schleuben vorgehenden — drei ruſſiſchen Kavalleriedivi-
ſionen (!) über die Grenze zurückgeworfen.
Die ruſſiſchen Unwahrheiten nehmen ihren Fortgang. Sie
treten für jedermann ſichtlich hervor in dem Orangebuch, über das
das Wolf’ſche Telegraphenbureau nachſtehende Depeſche verbreitet:
Die ruſſiſche Regierung veröffentlichte ein Orangebuch
über die diplomatiſchen Verhandlungen vor dem Kriegsaus-
bruch und ſtellt darin die Behauptung auf, Deutſchland hätte
den letzten Vermittlungsvorſchlag Greys abgelehnt.
Dieſe Behauptung iſt unwahr, Deutſchland unterſtützte im
Gegenteil dieſen letzten Vorſchlag Greys, Oeſterreich möchte
nach der Beſetzung Belgrads und ſerbiſchen Territoriums in
Verhandlungen eintreten, in Wien nachdrücklich. Die hiermit
angeſtrebte Vermittlung wurde aber durch die ruſſiſche Mobili-
ſierung illuſoriſch gemacht.
Ferner wird von der ruſſiſchen Regierung behauptet, die
deutſche Regierung ordnete, während die Verhandlungen in
vollem Gange waren, die Mobiliſierung an, ſtellte ein Ultima-
tum und erklärte den Krieg. — Dieſe Darſtellung iſt falſch. Die
ruſſiſche Regierung ſtellt die Tatſachen direkt auf den Kopf.
Noch am Donnerstag, 30. Juli, wurde dem ruſſiſchen Miniſter
des Aeußern vom kaiſerlichen Botſchafter eröffnet, daß die
Vermittlungsaktion der kaiſerlichen Regierung fortgeſetzt wird
und daß eine Antwort auf den letzten vom Berliner Kabinett
in Wien getanen Schritt noch ausſtehe. Die am nächſten
Morgen bekannt gewordene Mobilmachung der ganzen ruſſi-
ſchen Armee und Flotte mußte unter dieſen Umſtänden in
Deutſchland um ſo mehr als eine Provokation wirken, als vom
ruſſiſchen Generalſtabschef wenige Tage vorher dem deutſchen
Militärattaché verſichert wurde, daß im Falle eines Ueber-
ſchreitens der ſerbiſchen Grenze durch die Oeſterreicher nur die
ruſſiſchen Militärbezirke an der öſterreichiſchen Grenze, nicht
aber an der deutſchen Grenze mobil gemacht würden.
Kläglich iſt der Eindruck der Rechtfertigungsverſuche des Krie-
ges, den der Zar in einer Anſprache, ſowie ſein Miniſter des
Aeußern in der Reichsduma unternommen haben. Wenn dieſe
Reden etwas weiter zurückliegen, dürfen ſie doch heute noch kultu-
relles Intereſſe beanſpruchen.
Der Zar empfing im Winterpalais in Gegenwart des Genera-
liſſimus, Großfürſten Nikolaus Nikolajewitſch, und ſämtlicher Mini-
ſter die Mitglieder der Reichsduma und des Reichsrates in feier-
licher Audienz und hielt dabei folgende Anſprache:
In dieſen bedeutungsvollen Tagen der Aufregung und der
Unruhe, welche Rußland durchmacht, entbiete ich Euch meinen Gruß.
Das Deutſche Reich und darauf Oeſterreich-Ungarn haben Rußland
den Krieg erklärt. Der ungeheure Aufſchwung patriotiſcher Ge-
fühle, der Liebe und der Treue für den Thron, der wie ein Sturm-
wind durch unſer ganzes Land ging, iſt mir wie Euch eine Bürg-
ſchaft. Ich hoffe, daß das große Rußland den Krieg, den ihm der
Herr ſchickt, zu einem glücklichen Ende führen wird. Aus dieſem
einmütigen Sturm von Liebe und Eifer, ſelbſt das Leben zu opfern,
ſchöpfe ich meine Kraft, um der Zukunft mit Ruhe und Feſtigkeit
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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