Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.Allgemeine Zeitung 1. August 1914. [Spaltenumbruch]
der Natur und ist Natur. Man gibt sich keine Aufklärung mehr,warum das Bauernhaus malerisch ist, man freut sich nicht mehr über die bunten Farben, das ist nicht mehr grün und rot und weiß und blau, das ist nicht mehr eine Gegend im Gebirge, durch die wir wandern -- wir sind in der Natur und selbst ein Stück Natur. Wenn wir eines der nicht sehr zahlreichen und bekannten Bilder Und erst später erinnern wir uns an das Einzelschicksal des Deshalb interessiert sich das Publikum für Johann Sperl Wenige wissen, was Johann Sperl für ein prachtvoller, edler Feuilleton Großmutter! Skizze von W. Popper. Er rückte näher an ihren Schaukelstuhl heran und blickte "Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert, "Ah, siehst du doch auch manchmal in den Spiegel, Er hatte recht. Trotzdem sie die "gefährlichen dreißig" Die Rechte hob sich abwehrend bei den letzten Worten "Nun, so will ich dir denn aufrichtig gestehen, Wanda, "Da hast du wohl recht, ich bin auch "dieses Treibens "Wanda!" Er ergriff erschrocken ihre Hand, die eiskakt "Wozu denn? Wegen der paar Kirschlorbeertropfen, die "So werde ich dein Arzt sein, ich werde dir heilsamere "Weil ich eingesehen habe, daß ich nicht dazu berufen "Eigentlich hast du nicht unrecht, liebe Freundin, was soll "Weil ich mir den Rest von Menschenliebe und Selbst- "So bleibe denn in deiner Klause, aber lade ein paar "Diese Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an Franz schüttelte den Kopf. "Ich gebe den schwierigen Wanda schüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver- "So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel "Einem Dache, auf dem der Winterschnee liegt" -- sie "Ich weiß wohl, daß du in deiner ersten Ehe traurige "Geh, Franz," bat sie, "sprich nicht weiter. Ich möchte Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit- Allgemeine Zeitung 1. Auguſt 1914. [Spaltenumbruch]
der Natur und iſt Natur. Man gibt ſich keine Aufklärung mehr,warum das Bauernhaus maleriſch iſt, man freut ſich nicht mehr über die bunten Farben, das iſt nicht mehr grün und rot und weiß und blau, das iſt nicht mehr eine Gegend im Gebirge, durch die wir wandern — wir ſind in der Natur und ſelbſt ein Stück Natur. Wenn wir eines der nicht ſehr zahlreichen und bekannten Bilder Und erſt ſpäter erinnern wir uns an das Einzelſchickſal des Deshalb intereſſiert ſich das Publikum für Johann Sperl Wenige wiſſen, was Johann Sperl für ein prachtvoller, edler Feuilleton Großmutter! Skizze von W. Popper. Er rückte näher an ihren Schaukelſtuhl heran und blickte „Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert, „Ah, ſiehſt du doch auch manchmal in den Spiegel, Er hatte recht. Trotzdem ſie die „gefährlichen dreißig“ Die Rechte hob ſich abwehrend bei den letzten Worten „Nun, ſo will ich dir denn aufrichtig geſtehen, Wanda, „Da haſt du wohl recht, ich bin auch „dieſes Treibens „Wanda!“ Er ergriff erſchrocken ihre Hand, die eiskakt „Wozu denn? Wegen der paar Kirſchlorbeertropfen, die „So werde ich dein Arzt ſein, ich werde dir heilſamere „Weil ich eingeſehen habe, daß ich nicht dazu berufen „Eigentlich haſt du nicht unrecht, liebe Freundin, was ſoll „Weil ich mir den Reſt von Menſchenliebe und Selbſt- „So bleibe denn in deiner Klauſe, aber lade ein paar „Dieſe Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an Franz ſchüttelte den Kopf. „Ich gebe den ſchwierigen Wanda ſchüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver- „So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel „Einem Dache, auf dem der Winterſchnee liegt“ — ſie „Ich weiß wohl, daß du in deiner erſten Ehe traurige „Geh, Franz,“ bat ſie, „ſprich nicht weiter. Ich möchte Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit- <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p><pb facs="#f0010" n="496"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi> 1. Auguſt 1914.</fw><lb/><cb/> der Natur und iſt Natur. 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Ein Stück Leben in der<lb/> großen Natur, von der wir ſelbſt ein Teil ſind.</p><lb/> <p>Und erſt ſpäter erinnern wir uns an das Einzelſchickſal des<lb/> einzelnen, erinnern uns an uns ſelbſt, denken an eine Freundſchaft,<lb/> an ein Erlebnis. Denken auch an das wundervolle Zuſammen-<lb/> leben der Freunde Leibl und Sperl draußen in den einſamen ober-<lb/> bayeriſchen Gebirgsdörfern, als Bauern unter Bauern, in Polling,<lb/> Schondorf, Berbling und Kutterling am Fuße des Kaiſergebirges.<lb/> Und je mehr uns an dem Menſchen Sperl das Perſönliche feſſelt,<lb/> deſto mehr bewundern wir ſeine Naturkraft, und wenn wir Ver-<lb/> gleiche ziehen zwiſchen ihm mit anderen, zwiſchen ſeiner Kunſt<lb/> und der ſeines Freundes Leibl, und der ſeiner Zeitgenoſſen und<lb/> Kunſtgefährten, ſo werden wir uns ſo recht bewußt, welchen hervor-<lb/> ragenden Rang er mit Leibl unter den Meiſtern der deutſchen,<lb/> der oberbayeriſchen Landſchaft und ſeiner Bewohner einnimmt. 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Daran iſt nur dein Sybillenblick ſchuld, der einem<lb/> die geheimſten Gedanken auf die Lippen lockt!“</p><lb/> <p>„Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert,<lb/> habe ich dir beim erſten Blick von den Augen abgelefen;<lb/> übrigens ſagt mir’s mein Spiegel alle Tage.“</p><lb/> <cb/> <p>„Ah, ſiehſt du doch auch manchmal in den Spiegel,<lb/> Wanda? Nun da weißt du doch, daß du trotz des müden<lb/> Blickes noch immer verführeriſch genug ausſiehſt.“</p><lb/> <p>Er hatte recht. Trotzdem ſie die „gefährlichen dreißig“<lb/> längſt ſchon überſchritten, trotzdem der frühe Winterſchnee<lb/> auf ihrem Scheitel lag, war ſie mit ihrer ſchlanken Geſtalt,<lb/> ihrem feinen Profil, noch immer eine anmutige Frau; am<lb/> ſchönſten aber waren die, durch keinen Schmuck entſtellten<lb/> Hände, die auf den Armlehnen des Schaukelſtuhles ruhten.</p><lb/> <p>Die Rechte hob ſich abwehrend bei den letzten Worten<lb/> des Jugendfreundes. „Deine frühere Aufrichtigkeit war ent-<lb/> ſchieden ſchmeichelhafter, als dieſe banale Schmeichelei.“</p><lb/> <p>„Nun, ſo will ich dir denn aufrichtig geſtehen, Wanda,<lb/> daß ich dich nicht körperlich gealtert finde; es iſt eine gewiſſe<lb/> Seelenmüdigkeit, die ſich in deinen Zügen verrät —“</p><lb/> <p>„Da haſt du wohl recht, ich bin auch „dieſes Treibens<lb/> müde“ und beklage es nur, daß es noch nicht Schlafenszeit<lb/> iſt —“</p><lb/> <p>„Wanda!“ Er ergriff erſchrocken ihre Hand, die eiskakt<lb/> in der ſeinen lag. „Ich werde einen Arzt holen!“</p><lb/> <p>„Wozu denn? Wegen der paar Kirſchlorbeertropfen, die<lb/> er mir verſchreiben würde? Die nützen wir nichts.“</p><lb/> <p>„So werde ich dein Arzt ſein, ich werde dir heilſamere<lb/> Lorbeeren verordnen. Warum haſt du denn das Schriftſtellern<lb/> aufgegeben? Ich habe doch ganz hübſche Produkte deiner<lb/> Feder geleſen.“</p><lb/> <p>„Weil ich eingeſehen habe, daß ich nicht dazu berufen<lb/> bin, eine Lücke in der Literatur auszufüllen. Ich habe mich<lb/> von den Blättern, welche die Welt bedeuten, hinweggeſtohlen,<lb/> ohne daß man mich vermißte.“</p><lb/> <p>„Eigentlich haſt du nicht unrecht, liebe Freundin, was ſoll<lb/> dir dieſe Welt im Kleinen, da dir doch die große Welt offen<lb/> ſteht? Warum aber haſt du dich in dieſe Einſiedlerklauſe<lb/> zurückgezogen, warum lebſt du nicht in der Geſellſchaft, die<lb/> dich mit offenen Armen aufnehmen würde?“</p><lb/> <p>„Weil ich mir den Reſt von Menſchenliebe und Selbſt-<lb/> achtung, der mir geblieben, retten will. ‚So oft ich unter<lb/> Menſchen war,‛ ſagt <hi rendition="#aq">Thomas a Kempis,</hi> ‚war ich weniger<lb/> Menſch, als ich heimkam.‛“</p><lb/> <p>„So bleibe denn in deiner Klauſe, aber lade ein paar<lb/> muntere Freunde ein, lerne die Tafelfreuden genießen und<lb/> würdigen.“</p><lb/> <p>„Dieſe Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an<lb/> Timon von Athen denken.“</p><lb/> <p>Franz ſchüttelte den Kopf. „Ich gebe den ſchwierigen<lb/> Fall nicht auf, Wanda: ich werde ein draſtiſches Mittel ver-<lb/> ſuchen. — Sieh mir nur in die Augen, du errätſt ja alle<lb/> meine Gedanken — nun weißt du, welches Mittel ich meine?“</p><lb/> <p>Wanda ſchüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver-<lb/> neinend.</p><lb/> <p>„So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel<lb/> zu verraten: An deiner Seite fühle ich mich wieder jung,<lb/> Wanda, und die alte Jugendliebe, die niemals erlöſchte,<lb/> flammt hell empor. Feuer aber ſteckt an und wenn ich bei<lb/> dir auch nur einen ſchwachen Funken erwecken könnte —“</p><lb/> <p>„Einem Dache, auf dem der Winterſchnee liegt“ — ſie<lb/> wies auf ihren Scheitel — „werden die Funken nicht mehr<lb/> gefährlich; übrigens kennſt du ja das Wort: “Gebrannte<lb/> Kinder —”</p><lb/> <p>„Ich weiß wohl, daß du in deiner erſten Ehe traurige<lb/> Erfahrungen gemacht haſt, aber es wäre ungerecht und deiner<lb/> unwürdig, allen Menſchen zu mißtrauen, weil wir uns in<lb/> einem getäuſcht haben; es wäre kleingläubig, allem Glück zu<lb/> entſagen, weil uns einmal —“</p><lb/> <p>„Geh, Franz,“ bat ſie, „ſprich nicht weiter. Ich möchte<lb/> den beſten Freund, den ich habe, nicht auch noch verlieren.<lb/> Das Leben — glaube mir, das Leben iſt —“</p><lb/> <p>Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit-<lb/> hüftige Spreewälderin, auf ihrem Arm ein ſchönes, etwa<lb/> anderthalbjähriges Kind haltend. Nun ſtellte ſie es nieder<lb/> und die Kleine lief trippelnd, mit ausgebreiteten Armen, auf<lb/> Wanda zu. „Großmutter!“ rief ſie. Da ſprang die „Lebens-<lb/> müde“ wie elektriſiert empor, hob das Kind auf und drückte<lb/> es an die Bruſt; dabei ward ein ſonderbarer Laut hörbar,<lb/> der halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Jauchzen klang.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [496/0010]
Allgemeine Zeitung 1. Auguſt 1914.
der Natur und iſt Natur. Man gibt ſich keine Aufklärung mehr,
warum das Bauernhaus maleriſch iſt, man freut ſich nicht mehr
über die bunten Farben, das iſt nicht mehr grün und rot und
weiß und blau, das iſt nicht mehr eine Gegend im Gebirge, durch
die wir wandern — wir ſind in der Natur und ſelbſt ein Stück
Natur.
Wenn wir eines der nicht ſehr zahlreichen und bekannten Bilder
von Johann Sperl ſehen, etwa eine Wieſe mit Mähern, einen
Bauernjäger, ein grünüberſponnenes Bauernhaus, einen bunten
Blumengarten, ein Mädchen mit einer Ziege, oder zwei Männer
an einem mit Geſtrüpp und Bäumen umſtandenen Acker, über dem
weit drüben blaue Berge im Frühlicht ſchwingen, dann denken wir
nicht an irgendwelche Zuſammenhänge, etwa eines Malers mit
irgendwelchen Schulen; wir ſind in der Natur draußen, in den
Vorbergen, wir gehen in einer Landſchaft, wir wandern durch
ein Dorf und ſehen ſeine Bewohner! Ein Stück Leben in der
großen Natur, von der wir ſelbſt ein Teil ſind.
Und erſt ſpäter erinnern wir uns an das Einzelſchickſal des
einzelnen, erinnern uns an uns ſelbſt, denken an eine Freundſchaft,
an ein Erlebnis. Denken auch an das wundervolle Zuſammen-
leben der Freunde Leibl und Sperl draußen in den einſamen ober-
bayeriſchen Gebirgsdörfern, als Bauern unter Bauern, in Polling,
Schondorf, Berbling und Kutterling am Fuße des Kaiſergebirges.
Und je mehr uns an dem Menſchen Sperl das Perſönliche feſſelt,
deſto mehr bewundern wir ſeine Naturkraft, und wenn wir Ver-
gleiche ziehen zwiſchen ihm mit anderen, zwiſchen ſeiner Kunſt
und der ſeines Freundes Leibl, und der ſeiner Zeitgenoſſen und
Kunſtgefährten, ſo werden wir uns ſo recht bewußt, welchen hervor-
ragenden Rang er mit Leibl unter den Meiſtern der deutſchen,
der oberbayeriſchen Landſchaft und ſeiner Bewohner einnimmt. Und
wir wundern uns auch gar nicht mehr darüber, daß Sperl immer
noch nicht den Publikumserfolg hat, der ihm noch lange verſagt
ſein wird. Denn das Publikum ſieht die Landſchaft nicht, wie ſie
iſt, wie ſie lebt, ſondern es betrachtet ſie mit den Augen, die Ein-
drücke ſuchen, kommt zu ihm mit dem Herzen, das ausruhen will
oder aufjauchzen, und mit den Sinnen, die nach einem beſtimmten
Programm beſchäftigt ſein wollen. Und bei einem Naturausſchnitt,
den ein Bild zeigt, werden Maßſtäbe angelegt und Normen auf-
geſtellt, Schulzuſammenhänge konſtruiert.
Deshalb intereſſiert ſich das Publikum für Johann Sperl
höchſtens, weil er Wilhelm Leibl zum Freund hatte; einige freuen
ſich ihrer Kenntnis, daß er Schüler von Anſchütz und Ramberg war,
an der Münchener Kunſtgewerbeſchule und ſpäter an der Münchener
Akademie ſtudierte und unter ärmlichen Verhältniſſen litt.
Wenige wiſſen, was Johann Sperl für ein prachtvoller, edler
Charakter, was er für ein aufrechter Menſch war. Der ſeine An-
ſicht hatte und ſeine künſtleriſche Ueberzeugung und ſein Eigen-
leben. Der aber ein Stück Natur war, wie ein Bauer, ein Baum,
ein Bauernhaus, ein Berg ein Teil der Natur iſt, ohne Phraſe
und ohne Eigenleben und Eigenwillen im großen Ganzen, im Kosmos.
Und darum ſind die Werke ſeiner Hand auch ein Stück Natur. Un-
perſönlich. Der empfindet die Natur in den Bildern von Sperl,
der die Natur draußen nicht als Eindruck empfindet — ſondern
als Ausdruck. Der ſich in der Natur unperſönlich fühlen kann. Wie
Johann Sperl.
R. A. Linhof.
Feuilleton
Großmutter!
Skizze von W. Popper.
Er rückte näher an ihren Schaukelſtuhl heran und blickte
prüfend in ihr ernſtes Geſicht. „Weißt du, Wanda, daß du
in dieſen letzten zwei Jahren um ein Jahrzehnt älter gewor-
den biſt? Einer andern Frau dürfte man das nicht ſagen,
dir aber, die du ſo gar keinen Wert darauf legſt — übrigens
weiß ich ja ſelbſt nicht, wie ich nur ſo unbeſonnen laut denken
konnte! Daran iſt nur dein Sybillenblick ſchuld, der einem
die geheimſten Gedanken auf die Lippen lockt!“
„Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert,
habe ich dir beim erſten Blick von den Augen abgelefen;
übrigens ſagt mir’s mein Spiegel alle Tage.“
„Ah, ſiehſt du doch auch manchmal in den Spiegel,
Wanda? Nun da weißt du doch, daß du trotz des müden
Blickes noch immer verführeriſch genug ausſiehſt.“
Er hatte recht. Trotzdem ſie die „gefährlichen dreißig“
längſt ſchon überſchritten, trotzdem der frühe Winterſchnee
auf ihrem Scheitel lag, war ſie mit ihrer ſchlanken Geſtalt,
ihrem feinen Profil, noch immer eine anmutige Frau; am
ſchönſten aber waren die, durch keinen Schmuck entſtellten
Hände, die auf den Armlehnen des Schaukelſtuhles ruhten.
Die Rechte hob ſich abwehrend bei den letzten Worten
des Jugendfreundes. „Deine frühere Aufrichtigkeit war ent-
ſchieden ſchmeichelhafter, als dieſe banale Schmeichelei.“
„Nun, ſo will ich dir denn aufrichtig geſtehen, Wanda,
daß ich dich nicht körperlich gealtert finde; es iſt eine gewiſſe
Seelenmüdigkeit, die ſich in deinen Zügen verrät —“
„Da haſt du wohl recht, ich bin auch „dieſes Treibens
müde“ und beklage es nur, daß es noch nicht Schlafenszeit
iſt —“
„Wanda!“ Er ergriff erſchrocken ihre Hand, die eiskakt
in der ſeinen lag. „Ich werde einen Arzt holen!“
„Wozu denn? Wegen der paar Kirſchlorbeertropfen, die
er mir verſchreiben würde? Die nützen wir nichts.“
„So werde ich dein Arzt ſein, ich werde dir heilſamere
Lorbeeren verordnen. Warum haſt du denn das Schriftſtellern
aufgegeben? Ich habe doch ganz hübſche Produkte deiner
Feder geleſen.“
„Weil ich eingeſehen habe, daß ich nicht dazu berufen
bin, eine Lücke in der Literatur auszufüllen. Ich habe mich
von den Blättern, welche die Welt bedeuten, hinweggeſtohlen,
ohne daß man mich vermißte.“
„Eigentlich haſt du nicht unrecht, liebe Freundin, was ſoll
dir dieſe Welt im Kleinen, da dir doch die große Welt offen
ſteht? Warum aber haſt du dich in dieſe Einſiedlerklauſe
zurückgezogen, warum lebſt du nicht in der Geſellſchaft, die
dich mit offenen Armen aufnehmen würde?“
„Weil ich mir den Reſt von Menſchenliebe und Selbſt-
achtung, der mir geblieben, retten will. ‚So oft ich unter
Menſchen war,‛ ſagt Thomas a Kempis, ‚war ich weniger
Menſch, als ich heimkam.‛“
„So bleibe denn in deiner Klauſe, aber lade ein paar
muntere Freunde ein, lerne die Tafelfreuden genießen und
würdigen.“
„Dieſe Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an
Timon von Athen denken.“
Franz ſchüttelte den Kopf. „Ich gebe den ſchwierigen
Fall nicht auf, Wanda: ich werde ein draſtiſches Mittel ver-
ſuchen. — Sieh mir nur in die Augen, du errätſt ja alle
meine Gedanken — nun weißt du, welches Mittel ich meine?“
Wanda ſchüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver-
neinend.
„So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel
zu verraten: An deiner Seite fühle ich mich wieder jung,
Wanda, und die alte Jugendliebe, die niemals erlöſchte,
flammt hell empor. Feuer aber ſteckt an und wenn ich bei
dir auch nur einen ſchwachen Funken erwecken könnte —“
„Einem Dache, auf dem der Winterſchnee liegt“ — ſie
wies auf ihren Scheitel — „werden die Funken nicht mehr
gefährlich; übrigens kennſt du ja das Wort: “Gebrannte
Kinder —”
„Ich weiß wohl, daß du in deiner erſten Ehe traurige
Erfahrungen gemacht haſt, aber es wäre ungerecht und deiner
unwürdig, allen Menſchen zu mißtrauen, weil wir uns in
einem getäuſcht haben; es wäre kleingläubig, allem Glück zu
entſagen, weil uns einmal —“
„Geh, Franz,“ bat ſie, „ſprich nicht weiter. Ich möchte
den beſten Freund, den ich habe, nicht auch noch verlieren.
Das Leben — glaube mir, das Leben iſt —“
Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit-
hüftige Spreewälderin, auf ihrem Arm ein ſchönes, etwa
anderthalbjähriges Kind haltend. Nun ſtellte ſie es nieder
und die Kleine lief trippelnd, mit ausgebreiteten Armen, auf
Wanda zu. „Großmutter!“ rief ſie. Da ſprang die „Lebens-
müde“ wie elektriſiert empor, hob das Kind auf und drückte
es an die Bruſt; dabei ward ein ſonderbarer Laut hörbar,
der halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Jauchzen klang.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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