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Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.

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Allgemeine Zeitung 1. August 1914.
[Spaltenumbruch] der Natur und ist Natur. Man gibt sich keine Aufklärung mehr,
warum das Bauernhaus malerisch ist, man freut sich nicht mehr
über die bunten Farben, das ist nicht mehr grün und rot und
weiß und blau, das ist nicht mehr eine Gegend im Gebirge, durch
die wir wandern -- wir sind in der Natur und selbst ein Stück
Natur.

Wenn wir eines der nicht sehr zahlreichen und bekannten Bilder
von Johann Sperl sehen, etwa eine Wiese mit Mähern, einen
Bauernjäger, ein grünübersponnenes Bauernhaus, einen bunten
Blumengarten, ein Mädchen mit einer Ziege, oder zwei Männer
an einem mit Gestrüpp und Bäumen umstandenen Acker, über dem
weit drüben blaue Berge im Frühlicht schwingen, dann denken wir
nicht an irgendwelche Zusammenhänge, etwa eines Malers mit
irgendwelchen Schulen; wir sind in der Natur draußen, in den
Vorbergen, wir gehen in einer Landschaft, wir wandern durch
ein Dorf und sehen seine Bewohner! Ein Stück Leben in der
großen Natur, von der wir selbst ein Teil sind.

Und erst später erinnern wir uns an das Einzelschicksal des
einzelnen, erinnern uns an uns selbst, denken an eine Freundschaft,
an ein Erlebnis. Denken auch an das wundervolle Zusammen-
leben der Freunde Leibl und Sperl draußen in den einsamen ober-
bayerischen Gebirgsdörfern, als Bauern unter Bauern, in Polling,
Schondorf, Berbling und Kutterling am Fuße des Kaisergebirges.
Und je mehr uns an dem Menschen Sperl das Persönliche fesselt,
desto mehr bewundern wir seine Naturkraft, und wenn wir Ver-
gleiche ziehen zwischen ihm mit anderen, zwischen seiner Kunst
und der seines Freundes Leibl, und der seiner Zeitgenossen und
Kunstgefährten, so werden wir uns so recht bewußt, welchen hervor-
ragenden Rang er mit Leibl unter den Meistern der deutschen,
der oberbayerischen Landschaft und seiner Bewohner einnimmt. Und
wir wundern uns auch gar nicht mehr darüber, daß Sperl immer
noch nicht den Publikumserfolg hat, der ihm noch lange versagt
sein wird. Denn das Publikum sieht die Landschaft nicht, wie sie
ist, wie sie lebt, sondern es betrachtet sie mit den Augen, die Ein-
drücke suchen, kommt zu ihm mit dem Herzen, das ausruhen will
oder aufjauchzen, und mit den Sinnen, die nach einem bestimmten
Programm beschäftigt sein wollen. Und bei einem Naturausschnitt,
den ein Bild zeigt, werden Maßstäbe angelegt und Normen auf-
gestellt, Schulzusammenhänge konstruiert.

Deshalb interessiert sich das Publikum für Johann Sperl
höchstens, weil er Wilhelm Leibl zum Freund hatte; einige freuen
sich ihrer Kenntnis, daß er Schüler von Anschütz und Ramberg war,
an der Münchener Kunstgewerbeschule und später an der Münchener
Akademie studierte und unter ärmlichen Verhältnissen litt.

Wenige wissen, was Johann Sperl für ein prachtvoller, edler
Charakter, was er für ein aufrechter Mensch war. Der seine An-
sicht hatte und seine künstlerische Ueberzeugung und sein Eigen-
leben. Der aber ein Stück Natur war, wie ein Bauer, ein Baum,
ein Bauernhaus, ein Berg ein Teil der Natur ist, ohne Phrase
und ohne Eigenleben und Eigenwillen im großen Ganzen, im Kosmos.
Und darum sind die Werke seiner Hand auch ein Stück Natur. Un-
persönlich. Der empfindet die Natur in den Bildern von Sperl,
der die Natur draußen nicht als Eindruck empfindet -- sondern
als Ausdruck. Der sich in der Natur unpersönlich fühlen kann. Wie
Johann Sperl.

Feuilleton
Großmutter!
Skizze von W. Popper.

Er rückte näher an ihren Schaukelstuhl heran und blickte
prüfend in ihr ernstes Gesicht. "Weißt du, Wanda, daß du
in diesen letzten zwei Jahren um ein Jahrzehnt älter gewor-
den bist? Einer andern Frau dürfte man das nicht sagen,
dir aber, die du so gar keinen Wert darauf legst -- übrigens
weiß ich ja selbst nicht, wie ich nur so unbesonnen laut denken
konnte! Daran ist nur dein Sybillenblick schuld, der einem
die geheimsten Gedanken auf die Lippen lockt!"

"Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert,
habe ich dir beim ersten Blick von den Augen abgelefen;
übrigens sagt mir's mein Spiegel alle Tage."

[Spaltenumbruch]

"Ah, siehst du doch auch manchmal in den Spiegel,
Wanda? Nun da weißt du doch, daß du trotz des müden
Blickes noch immer verführerisch genug aussiehst."

Er hatte recht. Trotzdem sie die "gefährlichen dreißig"
längst schon überschritten, trotzdem der frühe Winterschnee
auf ihrem Scheitel lag, war sie mit ihrer schlanken Gestalt,
ihrem feinen Profil, noch immer eine anmutige Frau; am
schönsten aber waren die, durch keinen Schmuck entstellten
Hände, die auf den Armlehnen des Schaukelstuhles ruhten.

Die Rechte hob sich abwehrend bei den letzten Worten
des Jugendfreundes. "Deine frühere Aufrichtigkeit war ent-
schieden schmeichelhafter, als diese banale Schmeichelei."

"Nun, so will ich dir denn aufrichtig gestehen, Wanda,
daß ich dich nicht körperlich gealtert finde; es ist eine gewisse
Seelenmüdigkeit, die sich in deinen Zügen verrät --"

"Da hast du wohl recht, ich bin auch "dieses Treibens
müde" und beklage es nur, daß es noch nicht Schlafenszeit
ist --"

"Wanda!" Er ergriff erschrocken ihre Hand, die eiskakt
in der seinen lag. "Ich werde einen Arzt holen!"

"Wozu denn? Wegen der paar Kirschlorbeertropfen, die
er mir verschreiben würde? Die nützen wir nichts."

"So werde ich dein Arzt sein, ich werde dir heilsamere
Lorbeeren verordnen. Warum hast du denn das Schriftstellern
aufgegeben? Ich habe doch ganz hübsche Produkte deiner
Feder gelesen."

"Weil ich eingesehen habe, daß ich nicht dazu berufen
bin, eine Lücke in der Literatur auszufüllen. Ich habe mich
von den Blättern, welche die Welt bedeuten, hinweggestohlen,
ohne daß man mich vermißte."

"Eigentlich hast du nicht unrecht, liebe Freundin, was soll
dir diese Welt im Kleinen, da dir doch die große Welt offen
steht? Warum aber hast du dich in diese Einsiedlerklause
zurückgezogen, warum lebst du nicht in der Gesellschaft, die
dich mit offenen Armen aufnehmen würde?"

"Weil ich mir den Rest von Menschenliebe und Selbst-
achtung, der mir geblieben, retten will. ,So oft ich unter
Menschen war,' sagt Thomas a Kempis, ,war ich weniger
Mensch, als ich heimkam.'"

"So bleibe denn in deiner Klause, aber lade ein paar
muntere Freunde ein, lerne die Tafelfreuden genießen und
würdigen."

"Diese Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an
Timon von Athen denken."

Franz schüttelte den Kopf. "Ich gebe den schwierigen
Fall nicht auf, Wanda: ich werde ein drastisches Mittel ver-
suchen. -- Sieh mir nur in die Augen, du errätst ja alle
meine Gedanken -- nun weißt du, welches Mittel ich meine?"

Wanda schüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver-
neinend.

"So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel
zu verraten: An deiner Seite fühle ich mich wieder jung,
Wanda, und die alte Jugendliebe, die niemals erlöschte,
flammt hell empor. Feuer aber steckt an und wenn ich bei
dir auch nur einen schwachen Funken erwecken könnte --"

"Einem Dache, auf dem der Winterschnee liegt" -- sie
wies auf ihren Scheitel -- "werden die Funken nicht mehr
gefährlich; übrigens kennst du ja das Wort: "Gebrannte
Kinder --"

"Ich weiß wohl, daß du in deiner ersten Ehe traurige
Erfahrungen gemacht hast, aber es wäre ungerecht und deiner
unwürdig, allen Menschen zu mißtrauen, weil wir uns in
einem getäuscht haben; es wäre kleingläubig, allem Glück zu
entsagen, weil uns einmal --"

"Geh, Franz," bat sie, "sprich nicht weiter. Ich möchte
den besten Freund, den ich habe, nicht auch noch verlieren.
Das Leben -- glaube mir, das Leben ist --"

Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit-
hüftige Spreewälderin, auf ihrem Arm ein schönes, etwa
anderthalbjähriges Kind haltend. Nun stellte sie es nieder
und die Kleine lief trippelnd, mit ausgebreiteten Armen, auf
Wanda zu. "Großmutter!" rief sie. Da sprang die "Lebens-
müde" wie elektrisiert empor, hob das Kind auf und drückte
es an die Brust; dabei ward ein sonderbarer Laut hörbar,
der halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Jauchzen klang.

Allgemeine Zeitung 1. Auguſt 1914.
[Spaltenumbruch] der Natur und iſt Natur. Man gibt ſich keine Aufklärung mehr,
warum das Bauernhaus maleriſch iſt, man freut ſich nicht mehr
über die bunten Farben, das iſt nicht mehr grün und rot und
weiß und blau, das iſt nicht mehr eine Gegend im Gebirge, durch
die wir wandern — wir ſind in der Natur und ſelbſt ein Stück
Natur.

Wenn wir eines der nicht ſehr zahlreichen und bekannten Bilder
von Johann Sperl ſehen, etwa eine Wieſe mit Mähern, einen
Bauernjäger, ein grünüberſponnenes Bauernhaus, einen bunten
Blumengarten, ein Mädchen mit einer Ziege, oder zwei Männer
an einem mit Geſtrüpp und Bäumen umſtandenen Acker, über dem
weit drüben blaue Berge im Frühlicht ſchwingen, dann denken wir
nicht an irgendwelche Zuſammenhänge, etwa eines Malers mit
irgendwelchen Schulen; wir ſind in der Natur draußen, in den
Vorbergen, wir gehen in einer Landſchaft, wir wandern durch
ein Dorf und ſehen ſeine Bewohner! Ein Stück Leben in der
großen Natur, von der wir ſelbſt ein Teil ſind.

Und erſt ſpäter erinnern wir uns an das Einzelſchickſal des
einzelnen, erinnern uns an uns ſelbſt, denken an eine Freundſchaft,
an ein Erlebnis. Denken auch an das wundervolle Zuſammen-
leben der Freunde Leibl und Sperl draußen in den einſamen ober-
bayeriſchen Gebirgsdörfern, als Bauern unter Bauern, in Polling,
Schondorf, Berbling und Kutterling am Fuße des Kaiſergebirges.
Und je mehr uns an dem Menſchen Sperl das Perſönliche feſſelt,
deſto mehr bewundern wir ſeine Naturkraft, und wenn wir Ver-
gleiche ziehen zwiſchen ihm mit anderen, zwiſchen ſeiner Kunſt
und der ſeines Freundes Leibl, und der ſeiner Zeitgenoſſen und
Kunſtgefährten, ſo werden wir uns ſo recht bewußt, welchen hervor-
ragenden Rang er mit Leibl unter den Meiſtern der deutſchen,
der oberbayeriſchen Landſchaft und ſeiner Bewohner einnimmt. Und
wir wundern uns auch gar nicht mehr darüber, daß Sperl immer
noch nicht den Publikumserfolg hat, der ihm noch lange verſagt
ſein wird. Denn das Publikum ſieht die Landſchaft nicht, wie ſie
iſt, wie ſie lebt, ſondern es betrachtet ſie mit den Augen, die Ein-
drücke ſuchen, kommt zu ihm mit dem Herzen, das ausruhen will
oder aufjauchzen, und mit den Sinnen, die nach einem beſtimmten
Programm beſchäftigt ſein wollen. Und bei einem Naturausſchnitt,
den ein Bild zeigt, werden Maßſtäbe angelegt und Normen auf-
geſtellt, Schulzuſammenhänge konſtruiert.

Deshalb intereſſiert ſich das Publikum für Johann Sperl
höchſtens, weil er Wilhelm Leibl zum Freund hatte; einige freuen
ſich ihrer Kenntnis, daß er Schüler von Anſchütz und Ramberg war,
an der Münchener Kunſtgewerbeſchule und ſpäter an der Münchener
Akademie ſtudierte und unter ärmlichen Verhältniſſen litt.

Wenige wiſſen, was Johann Sperl für ein prachtvoller, edler
Charakter, was er für ein aufrechter Menſch war. Der ſeine An-
ſicht hatte und ſeine künſtleriſche Ueberzeugung und ſein Eigen-
leben. Der aber ein Stück Natur war, wie ein Bauer, ein Baum,
ein Bauernhaus, ein Berg ein Teil der Natur iſt, ohne Phraſe
und ohne Eigenleben und Eigenwillen im großen Ganzen, im Kosmos.
Und darum ſind die Werke ſeiner Hand auch ein Stück Natur. Un-
perſönlich. Der empfindet die Natur in den Bildern von Sperl,
der die Natur draußen nicht als Eindruck empfindet — ſondern
als Ausdruck. Der ſich in der Natur unperſönlich fühlen kann. Wie
Johann Sperl.

Feuilleton
Großmutter!
Skizze von W. Popper.

Er rückte näher an ihren Schaukelſtuhl heran und blickte
prüfend in ihr ernſtes Geſicht. „Weißt du, Wanda, daß du
in dieſen letzten zwei Jahren um ein Jahrzehnt älter gewor-
den biſt? Einer andern Frau dürfte man das nicht ſagen,
dir aber, die du ſo gar keinen Wert darauf legſt — übrigens
weiß ich ja ſelbſt nicht, wie ich nur ſo unbeſonnen laut denken
konnte! Daran iſt nur dein Sybillenblick ſchuld, der einem
die geheimſten Gedanken auf die Lippen lockt!“

„Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert,
habe ich dir beim erſten Blick von den Augen abgelefen;
übrigens ſagt mir’s mein Spiegel alle Tage.“

[Spaltenumbruch]

„Ah, ſiehſt du doch auch manchmal in den Spiegel,
Wanda? Nun da weißt du doch, daß du trotz des müden
Blickes noch immer verführeriſch genug ausſiehſt.“

Er hatte recht. Trotzdem ſie die „gefährlichen dreißig“
längſt ſchon überſchritten, trotzdem der frühe Winterſchnee
auf ihrem Scheitel lag, war ſie mit ihrer ſchlanken Geſtalt,
ihrem feinen Profil, noch immer eine anmutige Frau; am
ſchönſten aber waren die, durch keinen Schmuck entſtellten
Hände, die auf den Armlehnen des Schaukelſtuhles ruhten.

Die Rechte hob ſich abwehrend bei den letzten Worten
des Jugendfreundes. „Deine frühere Aufrichtigkeit war ent-
ſchieden ſchmeichelhafter, als dieſe banale Schmeichelei.“

„Nun, ſo will ich dir denn aufrichtig geſtehen, Wanda,
daß ich dich nicht körperlich gealtert finde; es iſt eine gewiſſe
Seelenmüdigkeit, die ſich in deinen Zügen verrät —“

„Da haſt du wohl recht, ich bin auch „dieſes Treibens
müde“ und beklage es nur, daß es noch nicht Schlafenszeit
iſt —“

„Wanda!“ Er ergriff erſchrocken ihre Hand, die eiskakt
in der ſeinen lag. „Ich werde einen Arzt holen!“

„Wozu denn? Wegen der paar Kirſchlorbeertropfen, die
er mir verſchreiben würde? Die nützen wir nichts.“

„So werde ich dein Arzt ſein, ich werde dir heilſamere
Lorbeeren verordnen. Warum haſt du denn das Schriftſtellern
aufgegeben? Ich habe doch ganz hübſche Produkte deiner
Feder geleſen.“

„Weil ich eingeſehen habe, daß ich nicht dazu berufen
bin, eine Lücke in der Literatur auszufüllen. Ich habe mich
von den Blättern, welche die Welt bedeuten, hinweggeſtohlen,
ohne daß man mich vermißte.“

„Eigentlich haſt du nicht unrecht, liebe Freundin, was ſoll
dir dieſe Welt im Kleinen, da dir doch die große Welt offen
ſteht? Warum aber haſt du dich in dieſe Einſiedlerklauſe
zurückgezogen, warum lebſt du nicht in der Geſellſchaft, die
dich mit offenen Armen aufnehmen würde?“

„Weil ich mir den Reſt von Menſchenliebe und Selbſt-
achtung, der mir geblieben, retten will. ‚So oft ich unter
Menſchen war,‛ ſagt Thomas a Kempis, ‚war ich weniger
Menſch, als ich heimkam.‛“

„So bleibe denn in deiner Klauſe, aber lade ein paar
muntere Freunde ein, lerne die Tafelfreuden genießen und
würdigen.“

„Dieſe Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an
Timon von Athen denken.“

Franz ſchüttelte den Kopf. „Ich gebe den ſchwierigen
Fall nicht auf, Wanda: ich werde ein draſtiſches Mittel ver-
ſuchen. — Sieh mir nur in die Augen, du errätſt ja alle
meine Gedanken — nun weißt du, welches Mittel ich meine?“

Wanda ſchüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver-
neinend.

„So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel
zu verraten: An deiner Seite fühle ich mich wieder jung,
Wanda, und die alte Jugendliebe, die niemals erlöſchte,
flammt hell empor. Feuer aber ſteckt an und wenn ich bei
dir auch nur einen ſchwachen Funken erwecken könnte —“

„Einem Dache, auf dem der Winterſchnee liegt“ — ſie
wies auf ihren Scheitel — „werden die Funken nicht mehr
gefährlich; übrigens kennſt du ja das Wort: “Gebrannte
Kinder —”

„Ich weiß wohl, daß du in deiner erſten Ehe traurige
Erfahrungen gemacht haſt, aber es wäre ungerecht und deiner
unwürdig, allen Menſchen zu mißtrauen, weil wir uns in
einem getäuſcht haben; es wäre kleingläubig, allem Glück zu
entſagen, weil uns einmal —“

„Geh, Franz,“ bat ſie, „ſprich nicht weiter. Ich möchte
den beſten Freund, den ich habe, nicht auch noch verlieren.
Das Leben — glaube mir, das Leben iſt —“

Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit-
hüftige Spreewälderin, auf ihrem Arm ein ſchönes, etwa
anderthalbjähriges Kind haltend. Nun ſtellte ſie es nieder
und die Kleine lief trippelnd, mit ausgebreiteten Armen, auf
Wanda zu. „Großmutter!“ rief ſie. Da ſprang die „Lebens-
müde“ wie elektriſiert empor, hob das Kind auf und drückte
es an die Bruſt; dabei ward ein ſonderbarer Laut hörbar,
der halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Jauchzen klang.

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[496/0010] Allgemeine Zeitung 1. Auguſt 1914. der Natur und iſt Natur. Man gibt ſich keine Aufklärung mehr, warum das Bauernhaus maleriſch iſt, man freut ſich nicht mehr über die bunten Farben, das iſt nicht mehr grün und rot und weiß und blau, das iſt nicht mehr eine Gegend im Gebirge, durch die wir wandern — wir ſind in der Natur und ſelbſt ein Stück Natur. Wenn wir eines der nicht ſehr zahlreichen und bekannten Bilder von Johann Sperl ſehen, etwa eine Wieſe mit Mähern, einen Bauernjäger, ein grünüberſponnenes Bauernhaus, einen bunten Blumengarten, ein Mädchen mit einer Ziege, oder zwei Männer an einem mit Geſtrüpp und Bäumen umſtandenen Acker, über dem weit drüben blaue Berge im Frühlicht ſchwingen, dann denken wir nicht an irgendwelche Zuſammenhänge, etwa eines Malers mit irgendwelchen Schulen; wir ſind in der Natur draußen, in den Vorbergen, wir gehen in einer Landſchaft, wir wandern durch ein Dorf und ſehen ſeine Bewohner! Ein Stück Leben in der großen Natur, von der wir ſelbſt ein Teil ſind. Und erſt ſpäter erinnern wir uns an das Einzelſchickſal des einzelnen, erinnern uns an uns ſelbſt, denken an eine Freundſchaft, an ein Erlebnis. Denken auch an das wundervolle Zuſammen- leben der Freunde Leibl und Sperl draußen in den einſamen ober- bayeriſchen Gebirgsdörfern, als Bauern unter Bauern, in Polling, Schondorf, Berbling und Kutterling am Fuße des Kaiſergebirges. Und je mehr uns an dem Menſchen Sperl das Perſönliche feſſelt, deſto mehr bewundern wir ſeine Naturkraft, und wenn wir Ver- gleiche ziehen zwiſchen ihm mit anderen, zwiſchen ſeiner Kunſt und der ſeines Freundes Leibl, und der ſeiner Zeitgenoſſen und Kunſtgefährten, ſo werden wir uns ſo recht bewußt, welchen hervor- ragenden Rang er mit Leibl unter den Meiſtern der deutſchen, der oberbayeriſchen Landſchaft und ſeiner Bewohner einnimmt. Und wir wundern uns auch gar nicht mehr darüber, daß Sperl immer noch nicht den Publikumserfolg hat, der ihm noch lange verſagt ſein wird. Denn das Publikum ſieht die Landſchaft nicht, wie ſie iſt, wie ſie lebt, ſondern es betrachtet ſie mit den Augen, die Ein- drücke ſuchen, kommt zu ihm mit dem Herzen, das ausruhen will oder aufjauchzen, und mit den Sinnen, die nach einem beſtimmten Programm beſchäftigt ſein wollen. Und bei einem Naturausſchnitt, den ein Bild zeigt, werden Maßſtäbe angelegt und Normen auf- geſtellt, Schulzuſammenhänge konſtruiert. Deshalb intereſſiert ſich das Publikum für Johann Sperl höchſtens, weil er Wilhelm Leibl zum Freund hatte; einige freuen ſich ihrer Kenntnis, daß er Schüler von Anſchütz und Ramberg war, an der Münchener Kunſtgewerbeſchule und ſpäter an der Münchener Akademie ſtudierte und unter ärmlichen Verhältniſſen litt. Wenige wiſſen, was Johann Sperl für ein prachtvoller, edler Charakter, was er für ein aufrechter Menſch war. Der ſeine An- ſicht hatte und ſeine künſtleriſche Ueberzeugung und ſein Eigen- leben. Der aber ein Stück Natur war, wie ein Bauer, ein Baum, ein Bauernhaus, ein Berg ein Teil der Natur iſt, ohne Phraſe und ohne Eigenleben und Eigenwillen im großen Ganzen, im Kosmos. Und darum ſind die Werke ſeiner Hand auch ein Stück Natur. Un- perſönlich. Der empfindet die Natur in den Bildern von Sperl, der die Natur draußen nicht als Eindruck empfindet — ſondern als Ausdruck. Der ſich in der Natur unperſönlich fühlen kann. Wie Johann Sperl. R. A. Linhof. Feuilleton Großmutter! Skizze von W. Popper. Er rückte näher an ihren Schaukelſtuhl heran und blickte prüfend in ihr ernſtes Geſicht. „Weißt du, Wanda, daß du in dieſen letzten zwei Jahren um ein Jahrzehnt älter gewor- den biſt? Einer andern Frau dürfte man das nicht ſagen, dir aber, die du ſo gar keinen Wert darauf legſt — übrigens weiß ich ja ſelbſt nicht, wie ich nur ſo unbeſonnen laut denken konnte! Daran iſt nur dein Sybillenblick ſchuld, der einem die geheimſten Gedanken auf die Lippen lockt!“ „Sei beruhigt, Franz; was deine Lippen ausgeplaudert, habe ich dir beim erſten Blick von den Augen abgelefen; übrigens ſagt mir’s mein Spiegel alle Tage.“ „Ah, ſiehſt du doch auch manchmal in den Spiegel, Wanda? Nun da weißt du doch, daß du trotz des müden Blickes noch immer verführeriſch genug ausſiehſt.“ Er hatte recht. Trotzdem ſie die „gefährlichen dreißig“ längſt ſchon überſchritten, trotzdem der frühe Winterſchnee auf ihrem Scheitel lag, war ſie mit ihrer ſchlanken Geſtalt, ihrem feinen Profil, noch immer eine anmutige Frau; am ſchönſten aber waren die, durch keinen Schmuck entſtellten Hände, die auf den Armlehnen des Schaukelſtuhles ruhten. Die Rechte hob ſich abwehrend bei den letzten Worten des Jugendfreundes. „Deine frühere Aufrichtigkeit war ent- ſchieden ſchmeichelhafter, als dieſe banale Schmeichelei.“ „Nun, ſo will ich dir denn aufrichtig geſtehen, Wanda, daß ich dich nicht körperlich gealtert finde; es iſt eine gewiſſe Seelenmüdigkeit, die ſich in deinen Zügen verrät —“ „Da haſt du wohl recht, ich bin auch „dieſes Treibens müde“ und beklage es nur, daß es noch nicht Schlafenszeit iſt —“ „Wanda!“ Er ergriff erſchrocken ihre Hand, die eiskakt in der ſeinen lag. „Ich werde einen Arzt holen!“ „Wozu denn? Wegen der paar Kirſchlorbeertropfen, die er mir verſchreiben würde? Die nützen wir nichts.“ „So werde ich dein Arzt ſein, ich werde dir heilſamere Lorbeeren verordnen. Warum haſt du denn das Schriftſtellern aufgegeben? Ich habe doch ganz hübſche Produkte deiner Feder geleſen.“ „Weil ich eingeſehen habe, daß ich nicht dazu berufen bin, eine Lücke in der Literatur auszufüllen. Ich habe mich von den Blättern, welche die Welt bedeuten, hinweggeſtohlen, ohne daß man mich vermißte.“ „Eigentlich haſt du nicht unrecht, liebe Freundin, was ſoll dir dieſe Welt im Kleinen, da dir doch die große Welt offen ſteht? Warum aber haſt du dich in dieſe Einſiedlerklauſe zurückgezogen, warum lebſt du nicht in der Geſellſchaft, die dich mit offenen Armen aufnehmen würde?“ „Weil ich mir den Reſt von Menſchenliebe und Selbſt- achtung, der mir geblieben, retten will. ‚So oft ich unter Menſchen war,‛ ſagt Thomas a Kempis, ‚war ich weniger Menſch, als ich heimkam.‛“ „So bleibe denn in deiner Klauſe, aber lade ein paar muntere Freunde ein, lerne die Tafelfreuden genießen und würdigen.“ „Dieſe Freunde wären mir verdächtig, ich müßte an Timon von Athen denken.“ Franz ſchüttelte den Kopf. „Ich gebe den ſchwierigen Fall nicht auf, Wanda: ich werde ein draſtiſches Mittel ver- ſuchen. — Sieh mir nur in die Augen, du errätſt ja alle meine Gedanken — nun weißt du, welches Mittel ich meine?“ Wanda ſchüttelte den Kopf, mehr abwehrend, als ver- neinend. „So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mein Mittel zu verraten: An deiner Seite fühle ich mich wieder jung, Wanda, und die alte Jugendliebe, die niemals erlöſchte, flammt hell empor. Feuer aber ſteckt an und wenn ich bei dir auch nur einen ſchwachen Funken erwecken könnte —“ „Einem Dache, auf dem der Winterſchnee liegt“ — ſie wies auf ihren Scheitel — „werden die Funken nicht mehr gefährlich; übrigens kennſt du ja das Wort: “Gebrannte Kinder —” „Ich weiß wohl, daß du in deiner erſten Ehe traurige Erfahrungen gemacht haſt, aber es wäre ungerecht und deiner unwürdig, allen Menſchen zu mißtrauen, weil wir uns in einem getäuſcht haben; es wäre kleingläubig, allem Glück zu entſagen, weil uns einmal —“ „Geh, Franz,“ bat ſie, „ſprich nicht weiter. Ich möchte den beſten Freund, den ich habe, nicht auch noch verlieren. Das Leben — glaube mir, das Leben iſt —“ Da ward die Tür geöffnet und herein trat eine breit- hüftige Spreewälderin, auf ihrem Arm ein ſchönes, etwa anderthalbjähriges Kind haltend. Nun ſtellte ſie es nieder und die Kleine lief trippelnd, mit ausgebreiteten Armen, auf Wanda zu. „Großmutter!“ rief ſie. Da ſprang die „Lebens- müde“ wie elektriſiert empor, hob das Kind auf und drückte es an die Bruſt; dabei ward ein ſonderbarer Laut hörbar, der halb wie ein Schluchzen, halb wie ein Jauchzen klang.

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914, S. 496. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine31_1914/10>, abgerufen am 21.11.2024.