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Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920.

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Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920


[Spaltenumbruch]

werben zu lassen und durch hartnäckiges Sprödetun der Welt
ihre ganze Unentbehrlichkeit zum Bewußtsein zu bringen.
Unter diesen Verhältnissen hat die Demokratie wirklich
keinen Anlaß und ihren Wählern gegenüber auch kein
Recht, sich das Gesetz des Handelns von der Sozialdemokratie
vorschreiben zu lassen, die zurzeit nichts anderes als eine
fragwürdige Prestigepolitik betreibt. Auch die demo-
kratischen Gruppen sind ja stark verärgert und insbesondere
die unterlegenen bisherigen Abgeordneten, die zurzeit eine
etwas vordringliche und unerfreuliche Rolle spielen, möchten
anscheinend vor allen Dingen beweisen, daß es ohne sie nicht
geht. Das ist aber keine Politik ernster Leute für ernste
Leute. Genau betrachtet, kann es ja auch niemanden
wundernehmen, daß die demokratischen Stimmen und Man-
date gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlung so
erheblich zurückgegangen sind. Daß die Demokratie damals
erheblich mehr Mandate errang als die Deutschnationalen
und die Deutsche Volkspartei zusammen, hatte doch seine
Ursache in den ganz besonderen Verhältnissen der damaligen
Zeit. Das deutsche Volk stand noch unter den frischen Ein-
wirkungen der Revolution und des völligen und unrühm-
lichen Zusammenbruches der alten Einrichtungen. Man
glaubte an eine neue Welt, man glaubte insbesondere auch
daran, daß ein offenes und rückhaltloses Bekenntnis zur
Demokratie und die damit verbundene Absage an Nationa-
lismus und Militarismus einen bestimmenden Einfluß
auf die Friedensbedingungen üben würde. Dieser Glaube
hat sich als trügerisch erwiesen. Die grausame Mißhand-
lung des deutschen Volkes durch den Friedensvertrag von
Versailles zusammen mit der Befestigung des Nationalis-
mus und Militarismus in Frankreich und anderen Staa-
ten hat natürlich die Gegenbewegung bei uns erheblich ge-
stärkt. So hat insbesondere die Deutsche Volkspartei ihre
bei den Wahlen zur Nationalversammlung noch ganz in den
Anfängen befindliche Organisation mächtig entwickeln kön-
nen und ist in der Lage gewesen, große Wählermassen in
sich aufzunehmen, die der Demokratie untreu wurden, weil
eben der demokratische Weltgedanke durch den Frieden von
Versailles aufs schwerste desavouiert worden ist. Ganz ab-
gesehen aber von dieser Weltentwicklung hat auch eine
innere Entwicklung unmöglich dazu beitragen können, die
Wähler bei der demokratischen Fahne zu halten. Jhre
eigentlichen Kerntruppen hat die Demokratie, wie früher
Fortschritt und Freisinn, schließlich doch in dem sogenannten
Mittelstand gefunden, bei den kleinen selbständigen Kauf-
leuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden usw. Gerade
diese Stände fühlen sich nun mißhandelt und sind es in ge-
wissem Sinne auch. Man hat alles für die Arbeiter und
Angestellten getan, aber auch diese bringen ihren Dank natür-
lich nicht der Demokratie, sondern der Sozialdemokratie dar,
die sie mit Recht als die eigentlich treibende Kraft ansehen.
Für den wirtschaftlich selbständigen Mittelstand hat die
Demokratie wenig oder nichts durchzusetzen vermocht. Man
denke ferner an das geradezu jammervolle Schicksal der
kleinen Rentner, die mit einem Schlage in das Proletariat
heruntergestoßen wurden, man denke an die Steuergesetz-
gebung, die der Demokratie namentlich auch die zahlungs-
fähigen Freunde von 1919 hat untreu werden lassen. So
ist es eine durchaus natürliche Entwicklung, was die erheb-
lichen Rückgänge der demokratischen Stimmen veranlaßt
haben, und kein noch so selbstbewußter Parteiführer braucht
deshalb den Beleidigten zu spielen. Jedenfalls aber heißt
es, die Zukunft der Demokratie vollends verderben, wenn
man sie jetzt im Fahrwasser der eigensinnigen sozialdemo-
kratischen Abstinenzpolitik halten will. Darüber wird man
sich auch im demokratischen Lager selbst nicht täuschen, und
so möchten wir die Absage von dieser Seite doch nicht als
endgültig ansehen.

Vielleicht hat sich aber auch die Sozialdemokra-
tie
selbst noch nicht endgültig entschieden. Es besteht
immerhin ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der
Art, wie eine Beteiligung der Rechtsparteien an der Koa-
lition und die Fortführung der bisherigen Koalition
abgelehnt wird. Insbesondere weiß man nicht, wie lange

[Spaltenumbruch]

das "Gegenwärtig" dauern oder gelten wird. Nach dem
Ausscheiden der Unabhängigen aus jeder möglichen Kombi-
nation und nachdem eine förmliche Verbreiterung der bis-
herigen Koalition durch Zuzug von rechts her durch die
Haltung der Sozialdemokratie ermöglicht worden ist, schie-
nen die Voraussetzungen für eine wirkliche Mehrheits-
bildung überhaupt nicht mehr gegeben; es müßte denn sein,
daß die Christliche Volkspartei ihre Wahlparole verleugnet
und reumütig in die Hürden der Koalition zurückkehrt was
doch nicht anzunehmen ist. Kommt es aber nicht zu einer
wirklichen Mehrheitsbildung, so bleibt nur eine Minder-
heitsregierung, die dadurch möglich wird, daß ihr von rechts
oder von links her Schonung oder passive Unterstützung,
eine Art stiller Ceilhaberschaft zugesagt wird. Das ist
vielleicht denkbar von seiten der Sozialdemokratie,
wenn die Deutsche Volkspartei in die Koalition eintritt,
und es ist wohl denkbar von seiten der Deutschen Volks-
partei, wenn die Sozialdemokratie sich entschließt, in der
bisherigen Koalition zu verharren. Natürlich würde ein
solches Versprechen nur gegen Zugeständnisse gemacht wer-
den, d. h., also der stille Ceilhaber würde diese seine Ceil-
haberschaft von der Respektierung gewisser Grenzen ab-
hängig machen. Das wäre wenigstens eine notdürftige
Lösung und wenn man genauer hinsieht, so hat insbesondere
die Mehrheitssozialdemokratie allen Grund, sich einer
Lösung nicht unter allen Umständen entgegenzustemmen. Sie
hat eine große Anzahl der wichtigsten Verwaltungsposten
in Reich und Staat mit ihren Männern besetzt, die wahr-
scheinlich nur ungern in die reine Opposition sich zurück-
ziehen würden und wenn der bisherige Reichskanzler die
Parole ausgegeben hat, daß die sozialdemokratischen Beam-
ten solange wie nur irgend möglich auf ihren Posten ver-
harren müßten, gleichviel wie die Regierung schließlich aus-
sehen werde, so ist die Ausführung dieses Programmes
naturgemäß in der Hauptsache von dem guten Willen der
neuen Regierung abhängig, die es sich nicht gefallen lassen
wird, daß ihren Grundsätzen entgegengearbeitet werde. Das
ist eben der Fluch der Politisierung der Verwaltung, mit der
gerade die Sozialdemokratie einen unerfreulichen Anfang
gemacht hat.

Die letzte Lösung schließlich, die erörtert wird, ist das
reine Arbeitskabinett. Aber das wäre ein Ausweg für
einige Wochen, nicht für die Dauer. Hat man das Volk
mit so großer Energie politisiert, so kann man nicht die
Regierung entpolitisieren. Unter diesen Umständen sind
die Bemühungen des Zentrumsführers Crimborn vielleicht
doch nicht so aussichtslos, wie es beim ersten Blick erscheinen
wollte, und es wäre auch in der Cat ein geradezu beschämen-
des Armutszeugnis, wenn die großen Parteien der Mei-
nung sein sollten, sie dürften ihre Pflicht gegen das ge-
meinsame Daterland den schnöden Aermlichkeiten ihrer
Parteitaktik unterordnen. "Undemokratisch" und in ge-
wissem Sinne verfassungswidrig wäre es jedenfalls.



Das Ergebnis des 6. Juni in Bayern.
Daß sich Dunkel tragen lerne,
Brechen durchs Gewölk die Sterne.
Ibsen, Band II.

Am 6. Juni sind am politischen Himmel Bayerns
Sterne durchs Gewölk gebrochen. Gewiß, an dunklen
Wolken fehlt es auch jetzt noch nicht, aber es zeigen sich
immerhin Hoffnungssterne. Die Wahlen dieses ersten Juni-
Sonntages haben in Bayern einen Ausgang genommen, der
die ziemlich optimistischen Erwartungen, denen wir in der
Nummer 21 dieser Zeitschrift Raum gegeben haben, noch er-
heblich übertrifft. Vor allem in dem einen Punkte, der
den Wahlausfall in Bayern besonders kennzeichnet: das
ist die Catsache, daß er den Sozialismus in seiner
Gesamtheit in einer rückläufigen Bewe-
gung
zeigt. Rund ein Viertel seiner Stimmen aus der
ersten Revolutionswahl hat er eingebüßt. Das erlaubt den
Schluß, daß es bei der Mitläuferschaft der Sozialdemokratie,
welche der Strudel der Revolution in den reißenden Strom

Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920


[Spaltenumbruch]

werben zu laſſen und durch hartnäckiges Sprödetun der Welt
ihre ganze Unentbehrlichkeit zum Bewußtſein zu bringen.
Unter dieſen Verhältniſſen hat die Demokratie wirklich
keinen Anlaß und ihren Wählern gegenüber auch kein
Recht, ſich das Geſetz des Handelns von der Sozialdemokratie
vorſchreiben zu laſſen, die zurzeit nichts anderes als eine
fragwürdige Preſtigepolitik betreibt. Auch die demo-
kratiſchen Gruppen ſind ja ſtark verärgert und insbeſondere
die unterlegenen bisherigen Abgeordneten, die zurzeit eine
etwas vordringliche und unerfreuliche Rolle ſpielen, möchten
anſcheinend vor allen Dingen beweiſen, daß es ohne ſie nicht
geht. Das iſt aber keine Politik ernſter Leute für ernſte
Leute. Genau betrachtet, kann es ja auch niemanden
wundernehmen, daß die demokratiſchen Stimmen und Man-
date gegenüber den Wahlen zur Nationalverſammlung ſo
erheblich zurückgegangen ſind. Daß die Demokratie damals
erheblich mehr Mandate errang als die Deutſchnationalen
und die Deutſche Volkspartei zuſammen, hatte doch ſeine
Urſache in den ganz beſonderen Verhältniſſen der damaligen
Zeit. Das deutſche Volk ſtand noch unter den friſchen Ein-
wirkungen der Revolution und des völligen und unrühm-
lichen Zuſammenbruches der alten Einrichtungen. Man
glaubte an eine neue Welt, man glaubte insbeſondere auch
daran, daß ein offenes und rückhaltloſes Bekenntnis zur
Demokratie und die damit verbundene Abſage an Nationa-
lismus und Militarismus einen beſtimmenden Einfluß
auf die Friedensbedingungen üben würde. Dieſer Glaube
hat ſich als trügeriſch erwieſen. Die grauſame Mißhand-
lung des deutſchen Volkes durch den Friedensvertrag von
Verſailles zuſammen mit der Befeſtigung des Nationalis-
mus und Militarismus in Frankreich und anderen Staa-
ten hat natürlich die Gegenbewegung bei uns erheblich ge-
ſtärkt. So hat insbeſondere die Deutſche Volkspartei ihre
bei den Wahlen zur Nationalverſammlung noch ganz in den
Anfängen befindliche Organiſation mächtig entwickeln kön-
nen und iſt in der Lage geweſen, große Wählermaſſen in
ſich aufzunehmen, die der Demokratie untreu wurden, weil
eben der demokratiſche Weltgedanke durch den Frieden von
Verſailles aufs ſchwerſte desavouiert worden iſt. Ganz ab-
geſehen aber von dieſer Weltentwicklung hat auch eine
innere Entwicklung unmöglich dazu beitragen können, die
Wähler bei der demokratiſchen Fahne zu halten. Jhre
eigentlichen Kerntruppen hat die Demokratie, wie früher
Fortſchritt und Freiſinn, ſchließlich doch in dem ſogenannten
Mittelſtand gefunden, bei den kleinen ſelbſtändigen Kauf-
leuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden uſw. Gerade
dieſe Stände fühlen ſich nun mißhandelt und ſind es in ge-
wiſſem Sinne auch. Man hat alles für die Arbeiter und
Angeſtellten getan, aber auch dieſe bringen ihren Dank natür-
lich nicht der Demokratie, ſondern der Sozialdemokratie dar,
die ſie mit Recht als die eigentlich treibende Kraft anſehen.
Für den wirtſchaftlich ſelbſtändigen Mittelſtand hat die
Demokratie wenig oder nichts durchzuſetzen vermocht. Man
denke ferner an das geradezu jammervolle Schickſal der
kleinen Rentner, die mit einem Schlage in das Proletariat
heruntergeſtoßen wurden, man denke an die Steuergeſetz-
gebung, die der Demokratie namentlich auch die zahlungs-
fähigen Freunde von 1919 hat untreu werden laſſen. So
iſt es eine durchaus natürliche Entwicklung, was die erheb-
lichen Rückgänge der demokratiſchen Stimmen veranlaßt
haben, und kein noch ſo ſelbſtbewußter Parteiführer braucht
deshalb den Beleidigten zu ſpielen. Jedenfalls aber heißt
es, die Zukunft der Demokratie vollends verderben, wenn
man ſie jetzt im Fahrwaſſer der eigenſinnigen ſozialdemo-
kratiſchen Abſtinenzpolitik halten will. Darüber wird man
ſich auch im demokratiſchen Lager ſelbſt nicht täuſchen, und
ſo möchten wir die Abſage von dieſer Seite doch nicht als
endgültig anſehen.

Vielleicht hat ſich aber auch die Sozialdemokra-
tie
ſelbſt noch nicht endgültig entſchieden. Es beſteht
immerhin ein bemerkenswerter Unterſchied zwiſchen der
Art, wie eine Beteiligung der Rechtsparteien an der Koa-
lition und die Fortführung der bisherigen Koalition
abgelehnt wird. Insbeſondere weiß man nicht, wie lange

[Spaltenumbruch]

das „Gegenwärtig“ dauern oder gelten wird. Nach dem
Ausſcheiden der Unabhängigen aus jeder möglichen Kombi-
nation und nachdem eine förmliche Verbreiterung der bis-
herigen Koalition durch Zuzug von rechts her durch die
Haltung der Sozialdemokratie ermöglicht worden iſt, ſchie-
nen die Vorausſetzungen für eine wirkliche Mehrheits-
bildung überhaupt nicht mehr gegeben; es müßte denn ſein,
daß die Chriſtliche Volkspartei ihre Wahlparole verleugnet
und reumütig in die Hürden der Koalition zurückkehrt was
doch nicht anzunehmen iſt. Kommt es aber nicht zu einer
wirklichen Mehrheitsbildung, ſo bleibt nur eine Minder-
heitsregierung, die dadurch möglich wird, daß ihr von rechts
oder von links her Schonung oder paſſive Unterſtützung,
eine Art ſtiller Ceilhaberſchaft zugeſagt wird. Das iſt
vielleicht denkbar von ſeiten der Sozialdemokratie,
wenn die Deutſche Volkspartei in die Koalition eintritt,
und es iſt wohl denkbar von ſeiten der Deutſchen Volks-
partei, wenn die Sozialdemokratie ſich entſchließt, in der
bisherigen Koalition zu verharren. Natürlich würde ein
ſolches Verſprechen nur gegen Zugeſtändniſſe gemacht wer-
den, d. h., alſo der ſtille Ceilhaber würde dieſe ſeine Ceil-
haberſchaft von der Reſpektierung gewiſſer Grenzen ab-
hängig machen. Das wäre wenigſtens eine notdürftige
Löſung und wenn man genauer hinſieht, ſo hat insbeſondere
die Mehrheitsſozialdemokratie allen Grund, ſich einer
Löſung nicht unter allen Umſtänden entgegenzuſtemmen. Sie
hat eine große Anzahl der wichtigſten Verwaltungspoſten
in Reich und Staat mit ihren Männern beſetzt, die wahr-
ſcheinlich nur ungern in die reine Oppoſition ſich zurück-
ziehen würden und wenn der bisherige Reichskanzler die
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ten ſolange wie nur irgend möglich auf ihren Poſten ver-
harren müßten, gleichviel wie die Regierung ſchließlich aus-
ſehen werde, ſo iſt die Ausführung dieſes Programmes
naturgemäß in der Hauptſache von dem guten Willen der
neuen Regierung abhängig, die es ſich nicht gefallen laſſen
wird, daß ihren Grundſätzen entgegengearbeitet werde. Das
iſt eben der Fluch der Politiſierung der Verwaltung, mit der
gerade die Sozialdemokratie einen unerfreulichen Anfang
gemacht hat.

Die letzte Löſung ſchließlich, die erörtert wird, iſt das
reine Arbeitskabinett. Aber das wäre ein Ausweg für
einige Wochen, nicht für die Dauer. Hat man das Volk
mit ſo großer Energie politiſiert, ſo kann man nicht die
Regierung entpolitiſieren. Unter dieſen Umſtänden ſind
die Bemühungen des Zentrumsführers Crimborn vielleicht
doch nicht ſo ausſichtslos, wie es beim erſten Blick erſcheinen
wollte, und es wäre auch in der Cat ein geradezu beſchämen-
des Armutszeugnis, wenn die großen Parteien der Mei-
nung ſein ſollten, ſie dürften ihre Pflicht gegen das ge-
meinſame Daterland den ſchnöden Aermlichkeiten ihrer
Parteitaktik unterordnen. „Undemokratiſch“ und in ge-
wiſſem Sinne verfaſſungswidrig wäre es jedenfalls.



Das Ergebnis des 6. Juni in Bayern.
Daß ſich Dunkel tragen lerne,
Brechen durchs Gewölk die Sterne.
Ibſen, Band II.

Am 6. Juni ſind am politiſchen Himmel Bayerns
Sterne durchs Gewölk gebrochen. Gewiß, an dunklen
Wolken fehlt es auch jetzt noch nicht, aber es zeigen ſich
immerhin Hoffnungsſterne. Die Wahlen dieſes erſten Juni-
Sonntages haben in Bayern einen Ausgang genommen, der
die ziemlich optimiſtiſchen Erwartungen, denen wir in der
Nummer 21 dieſer Zeitſchrift Raum gegeben haben, noch er-
heblich übertrifft. Vor allem in dem einen Punkte, der
den Wahlausfall in Bayern beſonders kennzeichnet: das
iſt die Catſache, daß er den Sozialismus in ſeiner
Geſamtheit in einer rückläufigen Bewe-
gung
zeigt. Rund ein Viertel ſeiner Stimmen aus der
erſten Revolutionswahl hat er eingebüßt. Das erlaubt den
Schluß, daß es bei der Mitläuferſchaft der Sozialdemokratie,
welche der Strudel der Revolution in den reißenden Strom

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[226/0004] Allgemeine Zeitung 20. Juni 1920 werben zu laſſen und durch hartnäckiges Sprödetun der Welt ihre ganze Unentbehrlichkeit zum Bewußtſein zu bringen. Unter dieſen Verhältniſſen hat die Demokratie wirklich keinen Anlaß und ihren Wählern gegenüber auch kein Recht, ſich das Geſetz des Handelns von der Sozialdemokratie vorſchreiben zu laſſen, die zurzeit nichts anderes als eine fragwürdige Preſtigepolitik betreibt. Auch die demo- kratiſchen Gruppen ſind ja ſtark verärgert und insbeſondere die unterlegenen bisherigen Abgeordneten, die zurzeit eine etwas vordringliche und unerfreuliche Rolle ſpielen, möchten anſcheinend vor allen Dingen beweiſen, daß es ohne ſie nicht geht. Das iſt aber keine Politik ernſter Leute für ernſte Leute. Genau betrachtet, kann es ja auch niemanden wundernehmen, daß die demokratiſchen Stimmen und Man- date gegenüber den Wahlen zur Nationalverſammlung ſo erheblich zurückgegangen ſind. Daß die Demokratie damals erheblich mehr Mandate errang als die Deutſchnationalen und die Deutſche Volkspartei zuſammen, hatte doch ſeine Urſache in den ganz beſonderen Verhältniſſen der damaligen Zeit. Das deutſche Volk ſtand noch unter den friſchen Ein- wirkungen der Revolution und des völligen und unrühm- lichen Zuſammenbruches der alten Einrichtungen. Man glaubte an eine neue Welt, man glaubte insbeſondere auch daran, daß ein offenes und rückhaltloſes Bekenntnis zur Demokratie und die damit verbundene Abſage an Nationa- lismus und Militarismus einen beſtimmenden Einfluß auf die Friedensbedingungen üben würde. Dieſer Glaube hat ſich als trügeriſch erwieſen. Die grauſame Mißhand- lung des deutſchen Volkes durch den Friedensvertrag von Verſailles zuſammen mit der Befeſtigung des Nationalis- mus und Militarismus in Frankreich und anderen Staa- ten hat natürlich die Gegenbewegung bei uns erheblich ge- ſtärkt. So hat insbeſondere die Deutſche Volkspartei ihre bei den Wahlen zur Nationalverſammlung noch ganz in den Anfängen befindliche Organiſation mächtig entwickeln kön- nen und iſt in der Lage geweſen, große Wählermaſſen in ſich aufzunehmen, die der Demokratie untreu wurden, weil eben der demokratiſche Weltgedanke durch den Frieden von Verſailles aufs ſchwerſte desavouiert worden iſt. Ganz ab- geſehen aber von dieſer Weltentwicklung hat auch eine innere Entwicklung unmöglich dazu beitragen können, die Wähler bei der demokratiſchen Fahne zu halten. Jhre eigentlichen Kerntruppen hat die Demokratie, wie früher Fortſchritt und Freiſinn, ſchließlich doch in dem ſogenannten Mittelſtand gefunden, bei den kleinen ſelbſtändigen Kauf- leuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden uſw. Gerade dieſe Stände fühlen ſich nun mißhandelt und ſind es in ge- wiſſem Sinne auch. Man hat alles für die Arbeiter und Angeſtellten getan, aber auch dieſe bringen ihren Dank natür- lich nicht der Demokratie, ſondern der Sozialdemokratie dar, die ſie mit Recht als die eigentlich treibende Kraft anſehen. Für den wirtſchaftlich ſelbſtändigen Mittelſtand hat die Demokratie wenig oder nichts durchzuſetzen vermocht. Man denke ferner an das geradezu jammervolle Schickſal der kleinen Rentner, die mit einem Schlage in das Proletariat heruntergeſtoßen wurden, man denke an die Steuergeſetz- gebung, die der Demokratie namentlich auch die zahlungs- fähigen Freunde von 1919 hat untreu werden laſſen. So iſt es eine durchaus natürliche Entwicklung, was die erheb- lichen Rückgänge der demokratiſchen Stimmen veranlaßt haben, und kein noch ſo ſelbſtbewußter Parteiführer braucht deshalb den Beleidigten zu ſpielen. Jedenfalls aber heißt es, die Zukunft der Demokratie vollends verderben, wenn man ſie jetzt im Fahrwaſſer der eigenſinnigen ſozialdemo- kratiſchen Abſtinenzpolitik halten will. Darüber wird man ſich auch im demokratiſchen Lager ſelbſt nicht täuſchen, und ſo möchten wir die Abſage von dieſer Seite doch nicht als endgültig anſehen. Vielleicht hat ſich aber auch die Sozialdemokra- tie ſelbſt noch nicht endgültig entſchieden. Es beſteht immerhin ein bemerkenswerter Unterſchied zwiſchen der Art, wie eine Beteiligung der Rechtsparteien an der Koa- lition und die Fortführung der bisherigen Koalition abgelehnt wird. Insbeſondere weiß man nicht, wie lange das „Gegenwärtig“ dauern oder gelten wird. Nach dem Ausſcheiden der Unabhängigen aus jeder möglichen Kombi- nation und nachdem eine förmliche Verbreiterung der bis- herigen Koalition durch Zuzug von rechts her durch die Haltung der Sozialdemokratie ermöglicht worden iſt, ſchie- nen die Vorausſetzungen für eine wirkliche Mehrheits- bildung überhaupt nicht mehr gegeben; es müßte denn ſein, daß die Chriſtliche Volkspartei ihre Wahlparole verleugnet und reumütig in die Hürden der Koalition zurückkehrt was doch nicht anzunehmen iſt. Kommt es aber nicht zu einer wirklichen Mehrheitsbildung, ſo bleibt nur eine Minder- heitsregierung, die dadurch möglich wird, daß ihr von rechts oder von links her Schonung oder paſſive Unterſtützung, eine Art ſtiller Ceilhaberſchaft zugeſagt wird. Das iſt vielleicht denkbar von ſeiten der Sozialdemokratie, wenn die Deutſche Volkspartei in die Koalition eintritt, und es iſt wohl denkbar von ſeiten der Deutſchen Volks- partei, wenn die Sozialdemokratie ſich entſchließt, in der bisherigen Koalition zu verharren. Natürlich würde ein ſolches Verſprechen nur gegen Zugeſtändniſſe gemacht wer- den, d. h., alſo der ſtille Ceilhaber würde dieſe ſeine Ceil- haberſchaft von der Reſpektierung gewiſſer Grenzen ab- hängig machen. Das wäre wenigſtens eine notdürftige Löſung und wenn man genauer hinſieht, ſo hat insbeſondere die Mehrheitsſozialdemokratie allen Grund, ſich einer Löſung nicht unter allen Umſtänden entgegenzuſtemmen. Sie hat eine große Anzahl der wichtigſten Verwaltungspoſten in Reich und Staat mit ihren Männern beſetzt, die wahr- ſcheinlich nur ungern in die reine Oppoſition ſich zurück- ziehen würden und wenn der bisherige Reichskanzler die Parole ausgegeben hat, daß die ſozialdemokratiſchen Beam- ten ſolange wie nur irgend möglich auf ihren Poſten ver- harren müßten, gleichviel wie die Regierung ſchließlich aus- ſehen werde, ſo iſt die Ausführung dieſes Programmes naturgemäß in der Hauptſache von dem guten Willen der neuen Regierung abhängig, die es ſich nicht gefallen laſſen wird, daß ihren Grundſätzen entgegengearbeitet werde. Das iſt eben der Fluch der Politiſierung der Verwaltung, mit der gerade die Sozialdemokratie einen unerfreulichen Anfang gemacht hat. Die letzte Löſung ſchließlich, die erörtert wird, iſt das reine Arbeitskabinett. Aber das wäre ein Ausweg für einige Wochen, nicht für die Dauer. Hat man das Volk mit ſo großer Energie politiſiert, ſo kann man nicht die Regierung entpolitiſieren. Unter dieſen Umſtänden ſind die Bemühungen des Zentrumsführers Crimborn vielleicht doch nicht ſo ausſichtslos, wie es beim erſten Blick erſcheinen wollte, und es wäre auch in der Cat ein geradezu beſchämen- des Armutszeugnis, wenn die großen Parteien der Mei- nung ſein ſollten, ſie dürften ihre Pflicht gegen das ge- meinſame Daterland den ſchnöden Aermlichkeiten ihrer Parteitaktik unterordnen. „Undemokratiſch“ und in ge- wiſſem Sinne verfaſſungswidrig wäre es jedenfalls. HD. Das Ergebnis des 6. Juni in Bayern. Daß ſich Dunkel tragen lerne, Brechen durchs Gewölk die Sterne. Ibſen, Band II. Am 6. Juni ſind am politiſchen Himmel Bayerns Sterne durchs Gewölk gebrochen. Gewiß, an dunklen Wolken fehlt es auch jetzt noch nicht, aber es zeigen ſich immerhin Hoffnungsſterne. Die Wahlen dieſes erſten Juni- Sonntages haben in Bayern einen Ausgang genommen, der die ziemlich optimiſtiſchen Erwartungen, denen wir in der Nummer 21 dieſer Zeitſchrift Raum gegeben haben, noch er- heblich übertrifft. Vor allem in dem einen Punkte, der den Wahlausfall in Bayern beſonders kennzeichnet: das iſt die Catſache, daß er den Sozialismus in ſeiner Geſamtheit in einer rückläufigen Bewe- gung zeigt. Rund ein Viertel ſeiner Stimmen aus der erſten Revolutionswahl hat er eingebüßt. Das erlaubt den Schluß, daß es bei der Mitläuferſchaft der Sozialdemokratie, welche der Strudel der Revolution in den reißenden Strom

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine24_1920/4>, abgerufen am 25.11.2024.