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Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 13. Juni 1920.

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Allgemeine Zeitung 13. Juni 1920


[Spaltenumbruch] sein, um diese Aufgabe übermäßig zu erschweren. Zunächst
einmal steht fest, daß die Sozialdemokratie als Ganzes
keinen Stimmenzuwachs zu verzeichnen hat, sodann ist klar,
daß die Anabhängigen von allen Parteien die weitaus leich-
teste Propaganda gehabt haben und ihre Erfolge weder
ihren Persönlichkeiten noch ihren Grundsätzen verdanken,
sondern einzig und allein den Hindernissen, auf die die
Mehrheitssozialdemokratie als führende Regierungspartei
in der Derwirklichung der sozialdemokratischen Grund-
sätze stoßen mußte. Radikal sein erfordert von jeher den
allergeringsten Aufwand an Geist und Fähigkeiten und die
Unabhängigen hatten es ganz besonders bequem. Während
die Kommunisten schließlich doch mit neuen Problemen
rangen, brauchten sie nur die alten kritischen Walzen weiter
zu drehen und das in jahrzehntelanger Opposition bis zum
Ueberdruß aber auch mit einer gewissen technischen Doll-
endung zurechtgemachte Angriffsmaterial gegen die alten
Parteigenossen zu kehren, was ihm sogar einen gewissen
Firnis der Neuheit gab und die Arbeit noch weiter er-
leichterte. Denn gegen frühere Parteifreunde polemisiert
es sich noch am allerbequemsten, weil man ja so lange mit
ihnen hinter einem Ofen gesteckt hat und sie daher mit
allen ihren Schwächen kennt! Jn Wirklichkeit würde auch
eine "unabhängig" orientierte Regierung über die unend-
lichen Schwierigkeiten der politischen Praxis nicht hin-
wegkommen, auch sie müßte mit Wasser statt mit Schwefel-
säure kochen und das Ergebnis wäre nach kurzer Zeit, daß
die immer Enttäuschten, die ewig Unzufriedenen noch etwas
weiter links, also zu den Kommunisten abmarschierten, die
doch wirklich den sozialen Uebeln der Zeit eine Radikalkur,
wenn auch im Stile des Dr. Eisenbart, in Aussicht stellen.
An und für sich hätten also die Unabhängigen allen Anlaß,
ihrerseits dazu zu helfen, daß der Arbeiterschaft, deren
Massen sie zusammen mit der Mehrheitssozialdemokratie
vertreten, ihr Anteil am staatlichen Leben und der Regie-
rungsgewalt nicht unbillig verkümmert werde und dem-
gemäß die Mitwirkung an einer Regierung nicht zu ver-
sagen, selbst wenn diese etwa zugleich ihre Basis nach rechts
hin zu verbreitern suchte. Allerdings ist dabei nicht zu
verkennen, daß die Schwierigkeiten eines Regierungspro-
gramms, das von der Deutschen Volkspartei bis zu den Un-
abhängigen reichen sollte, ins Ungemessene wachsen, und
auch sonst werden die Unabhängigen voraussichtlich ihre
Rechnung doch am besten dabei finden, daß sie in der Op-
position bleiben und ihren Einfluß als Opposition zu üben
suchen.

In Braunschweig allerdings hat man das Problem der
Regierungsbildung in anderer Weise zu lösen gesucht. Dort
sind die Demokraten mit den beiden sozialistischen Gruppen
zusammengegangen und das könnte an und für sich auch im
Reiche geschehen. Aber wenn die Schwierigkeiten hier etwas
mders geartet sind, als bei einer reinen Arbeiterregierung,
wie sie oben besprochen worden ist, so sind sie darunter
nicht kleiner und wir halten diesen Ausweg nicht für gang-
bar. Ja, wenn Berlin das Reich wäre, dann möchte es
gehen, wenn auch schief. Aber ein großer Teil des Reiches
und insbesondere der deutsche Süden würde dabei nicht mit-
machen. Auch in Württemberg nicht, wo die Wahlen, und
zwar sowohl die Reichstagswahlen wie die Landtagswahlen,
noch am allermeisten im Sinne der bisherigen Koalition
ausgefallen sind. Dort hat es die Rechte bei den Reichstags-
wahlen auf 339,257 Stimmen gebracht, die Linke auf
181,831, das sind zusammen 521,088 Stimmen der bis-
herigen Opposition; dem stehen 610,002 Stimmen der bis-
herigen Regierungsparteien gegenüber (bei den Landtags-
wahlen sind die entsprechenden Zahlen 333,267 + 178,415 =
511,682 gegen 584,571). Demokraten, Sozialdemokraten und
Unabhängige zusammen haben in den Reichstagswahlen
doch nur etwa 386,000 Stimmen aufgebracht, während die
übrigen bürgerlichen Parteien weit über 600,000 Stimmen
haben. In Bayern aber wäre eine solche Politik natürlich
erst recht nicht möglich und wenn es an und für sich viel-
leicht nicht unbedingt notwendig ist, daß im Reich und in
den Ländern von genau denselben Parteien regiert werde,
[Spaltenumbruch] so würde doch bei dem jetzigen Stande der Zentralisation
und bei der Schärfe der vorhandenen Gegensätze ein un-
geheuerer Wirrwarr entstehen, wenn eine Partei wie das
Zentrum im Reich von der Regierung ausgeschlossen wäre.
Also auch in der Braunschweiger Kombination liegt in
Wahrheit eine Lösung nicht. Sie scheint übrigens nach den
neuesten Meldungen auch zahlenmäßig im Reiche noch
mäßig zu sein.

Eine weitere Möglichkeit ist natürlich die, daß die
Sozialdemokratie zusammen mit den Unabhängigen in die
Opposition geht. Das wäre zahlenmäßig überall denkbar,
aber es wäre verhängnisvoll, denn es bleibt nun einmal
dabei, daß der Aufbau unseres wirtschaftlichen und staat-
lichen Lebens ohne die Arbeiterschaft und durch eine Regie-
rung, von der die Arbeiterschaft ausgeschlossen wäre, mit
geradezu unabsehbaren Schwierigkeiten zu kämpfen haben
würde. Das aber können wir wirklich nicht mehr brauchen
und nicht mehr ertragen. Weil die Banknotenpresse uns eine
Art trügerischen Wohlstandes geschaffen hat, redet man sich
vielleicht da und dort ein, daß die Sache wohl so weiter-
gehen könne, wie sie bisher gegangen ist. Aber das wäre
eine verhängnisvolle Täuschung. Es geht wirklich nicht
mehr so weiter, und wenn das deutsche Dolk nicht endlich an
die Arbeit geht, sich nicht endlich klar darüber wird, daß
es auf Jahrzehnte hinaus gar keine andere Existenz führen
kann, als die des gewissenhaftesten Arbeitens und des
mannigfachsten Entbehrens, dann muß der große Zu-
sammenbruch unabwendbar kommen. Und er kann nur
vermieden werden, wenn es gelingt, dem deutschen Dolk
eine Regierung zu geben, in der die besonnene, maßvolle,
arbeitswillige Arbeiterschaft mit vollen Rechten vertreten
ist, die aber zugleich von rechts her etwas mehr von dem
Geiste der Zucht und der Ordnung empfängt, als wir bis-
her gehabt haben.




Die endgültige amtliche Ermittlung des Wahlergeb-
nisses wird noch einige Zeit auf sich warten lassen; aber
auch wenn dieses endgültige Ergebnis von dem vorläufig
ermittelten einigermaßen abweichen und so noch ein oder
das andere Mandat hinzukommen oder wegfallen sollte,
wird sich doch nichts mehr an der Catsache ändern, daß die
bisherigen Koalitionsparteien eine Mehr-
heit im neuen Reichstag nicht erreicht haben. Nach der
vorläufigen Ermittelung sind am 6. Juni insgesamt
25,719,067 Stimmen abgegeben worden. Das würde nach
den Grundsätzen des neuen Wahlrechts 428--429 Mandate
ergeben. Da aber die Reststimmen unter 30,000 unausge-
nützt bleiben, bei den Kommunisten sogar mehr als 300,000,
weil sie in den Kreiswahlen nur einen einzigen Kandidaten
durchgebracht haben und auch nach der Reichsliste nur noch
einen einzigen Sitz erhalten konnten, sind in Wahrheit nur
418 Abgeordnete gewählt. Dazu kommen die 42 Abgeord-
neen der Abstimmungsgebiete, die am 6. Juni nicht haben
wählen können. Das ergibt 460 Abgeordnete auf folgende
Liste:

Stimmen Abgeordnete
Sozialdemokraten 5,531,151 92 + 18 bisher 163
Zentrum 3,500,800 58 + 9 " 75
Demokraten 2,152,509 36 + 9 " 73


zusammen 11,184,560 222 311

demnach fehlen den bisherigen Koalitionsparteien an der
absoluten Mehrheit 9 Mandate und der Abmangel würde
noch größer sein, wenn nicht die aus der Nationalversamm-
lung in den Reichstag übergehenden Vertreter der Ab-
stimmungsgebiete die Reihen der bisherigen Regierungs-
parteien unverhältnismäßig verstärkten. Das ergibt eine
sehr schwierige Lage und Regierungsbildung.

Allgemeine Zeitung 13. Juni 1920


[Spaltenumbruch] ſein, um dieſe Aufgabe übermäßig zu erſchweren. Zunächſt
einmal ſteht feſt, daß die Sozialdemokratie als Ganzes
keinen Stimmenzuwachs zu verzeichnen hat, ſodann iſt klar,
daß die Anabhängigen von allen Parteien die weitaus leich-
teſte Propaganda gehabt haben und ihre Erfolge weder
ihren Perſönlichkeiten noch ihren Grundſätzen verdanken,
ſondern einzig und allein den Hinderniſſen, auf die die
Mehrheitsſozialdemokratie als führende Regierungspartei
in der Derwirklichung der ſozialdemokratiſchen Grund-
ſätze ſtoßen mußte. Radikal ſein erfordert von jeher den
allergeringſten Aufwand an Geiſt und Fähigkeiten und die
Unabhängigen hatten es ganz beſonders bequem. Während
die Kommuniſten ſchließlich doch mit neuen Problemen
rangen, brauchten ſie nur die alten kritiſchen Walzen weiter
zu drehen und das in jahrzehntelanger Oppoſition bis zum
Ueberdruß aber auch mit einer gewiſſen techniſchen Doll-
endung zurechtgemachte Angriffsmaterial gegen die alten
Parteigenoſſen zu kehren, was ihm ſogar einen gewiſſen
Firnis der Neuheit gab und die Arbeit noch weiter er-
leichterte. Denn gegen frühere Parteifreunde polemiſiert
es ſich noch am allerbequemſten, weil man ja ſo lange mit
ihnen hinter einem Ofen geſteckt hat und ſie daher mit
allen ihren Schwächen kennt! Jn Wirklichkeit würde auch
eine „unabhängig“ orientierte Regierung über die unend-
lichen Schwierigkeiten der politiſchen Praxis nicht hin-
wegkommen, auch ſie müßte mit Waſſer ſtatt mit Schwefel-
ſäure kochen und das Ergebnis wäre nach kurzer Zeit, daß
die immer Enttäuſchten, die ewig Unzufriedenen noch etwas
weiter links, alſo zu den Kommuniſten abmarſchierten, die
doch wirklich den ſozialen Uebeln der Zeit eine Radikalkur,
wenn auch im Stile des Dr. Eiſenbart, in Ausſicht ſtellen.
An und für ſich hätten alſo die Unabhängigen allen Anlaß,
ihrerſeits dazu zu helfen, daß der Arbeiterſchaft, deren
Maſſen ſie zuſammen mit der Mehrheitsſozialdemokratie
vertreten, ihr Anteil am ſtaatlichen Leben und der Regie-
rungsgewalt nicht unbillig verkümmert werde und dem-
gemäß die Mitwirkung an einer Regierung nicht zu ver-
ſagen, ſelbſt wenn dieſe etwa zugleich ihre Baſis nach rechts
hin zu verbreitern ſuchte. Allerdings iſt dabei nicht zu
verkennen, daß die Schwierigkeiten eines Regierungspro-
gramms, das von der Deutſchen Volkspartei bis zu den Un-
abhängigen reichen ſollte, ins Ungemeſſene wachſen, und
auch ſonſt werden die Unabhängigen vorausſichtlich ihre
Rechnung doch am beſten dabei finden, daß ſie in der Op-
poſition bleiben und ihren Einfluß als Oppoſition zu üben
ſuchen.

In Braunſchweig allerdings hat man das Problem der
Regierungsbildung in anderer Weiſe zu löſen geſucht. Dort
ſind die Demokraten mit den beiden ſozialiſtiſchen Gruppen
zuſammengegangen und das könnte an und für ſich auch im
Reiche geſchehen. Aber wenn die Schwierigkeiten hier etwas
mders geartet ſind, als bei einer reinen Arbeiterregierung,
wie ſie oben beſprochen worden iſt, ſo ſind ſie darunter
nicht kleiner und wir halten dieſen Ausweg nicht für gang-
bar. Ja, wenn Berlin das Reich wäre, dann möchte es
gehen, wenn auch ſchief. Aber ein großer Teil des Reiches
und insbeſondere der deutſche Süden würde dabei nicht mit-
machen. Auch in Württemberg nicht, wo die Wahlen, und
zwar ſowohl die Reichstagswahlen wie die Landtagswahlen,
noch am allermeiſten im Sinne der bisherigen Koalition
ausgefallen ſind. Dort hat es die Rechte bei den Reichstags-
wahlen auf 339,257 Stimmen gebracht, die Linke auf
181,831, das ſind zuſammen 521,088 Stimmen der bis-
herigen Oppoſition; dem ſtehen 610,002 Stimmen der bis-
herigen Regierungsparteien gegenüber (bei den Landtags-
wahlen ſind die entſprechenden Zahlen 333,267 + 178,415 =
511,682 gegen 584,571). Demokraten, Sozialdemokraten und
Unabhängige zuſammen haben in den Reichstagswahlen
doch nur etwa 386,000 Stimmen aufgebracht, während die
übrigen bürgerlichen Parteien weit über 600,000 Stimmen
haben. In Bayern aber wäre eine ſolche Politik natürlich
erſt recht nicht möglich und wenn es an und für ſich viel-
leicht nicht unbedingt notwendig iſt, daß im Reich und in
den Ländern von genau denſelben Parteien regiert werde,
[Spaltenumbruch] ſo würde doch bei dem jetzigen Stande der Zentraliſation
und bei der Schärfe der vorhandenen Gegenſätze ein un-
geheuerer Wirrwarr entſtehen, wenn eine Partei wie das
Zentrum im Reich von der Regierung ausgeſchloſſen wäre.
Alſo auch in der Braunſchweiger Kombination liegt in
Wahrheit eine Löſung nicht. Sie ſcheint übrigens nach den
neueſten Meldungen auch zahlenmäßig im Reiche noch
mäßig zu ſein.

Eine weitere Möglichkeit iſt natürlich die, daß die
Sozialdemokratie zuſammen mit den Unabhängigen in die
Oppoſition geht. Das wäre zahlenmäßig überall denkbar,
aber es wäre verhängnisvoll, denn es bleibt nun einmal
dabei, daß der Aufbau unſeres wirtſchaftlichen und ſtaat-
lichen Lebens ohne die Arbeiterſchaft und durch eine Regie-
rung, von der die Arbeiterſchaft ausgeſchloſſen wäre, mit
geradezu unabſehbaren Schwierigkeiten zu kämpfen haben
würde. Das aber können wir wirklich nicht mehr brauchen
und nicht mehr ertragen. Weil die Banknotenpreſſe uns eine
Art trügeriſchen Wohlſtandes geſchaffen hat, redet man ſich
vielleicht da und dort ein, daß die Sache wohl ſo weiter-
gehen könne, wie ſie bisher gegangen iſt. Aber das wäre
eine verhängnisvolle Täuſchung. Es geht wirklich nicht
mehr ſo weiter, und wenn das deutſche Dolk nicht endlich an
die Arbeit geht, ſich nicht endlich klar darüber wird, daß
es auf Jahrzehnte hinaus gar keine andere Exiſtenz führen
kann, als die des gewiſſenhafteſten Arbeitens und des
mannigfachſten Entbehrens, dann muß der große Zu-
ſammenbruch unabwendbar kommen. Und er kann nur
vermieden werden, wenn es gelingt, dem deutſchen Dolk
eine Regierung zu geben, in der die beſonnene, maßvolle,
arbeitswillige Arbeiterſchaft mit vollen Rechten vertreten
iſt, die aber zugleich von rechts her etwas mehr von dem
Geiſte der Zucht und der Ordnung empfängt, als wir bis-
her gehabt haben.




Die endgültige amtliche Ermittlung des Wahlergeb-
niſſes wird noch einige Zeit auf ſich warten laſſen; aber
auch wenn dieſes endgültige Ergebnis von dem vorläufig
ermittelten einigermaßen abweichen und ſo noch ein oder
das andere Mandat hinzukommen oder wegfallen ſollte,
wird ſich doch nichts mehr an der Catſache ändern, daß die
bisherigen Koalitionsparteien eine Mehr-
heit im neuen Reichstag nicht erreicht haben. Nach der
vorläufigen Ermittelung ſind am 6. Juni insgeſamt
25,719,067 Stimmen abgegeben worden. Das würde nach
den Grundſätzen des neuen Wahlrechts 428—429 Mandate
ergeben. Da aber die Reſtſtimmen unter 30,000 unausge-
nützt bleiben, bei den Kommuniſten ſogar mehr als 300,000,
weil ſie in den Kreiswahlen nur einen einzigen Kandidaten
durchgebracht haben und auch nach der Reichsliſte nur noch
einen einzigen Sitz erhalten konnten, ſind in Wahrheit nur
418 Abgeordnete gewählt. Dazu kommen die 42 Abgeord-
neen der Abſtimmungsgebiete, die am 6. Juni nicht haben
wählen können. Das ergibt 460 Abgeordnete auf folgende
Liſte:

Stimmen Abgeordnete
Sozialdemokraten 5,531,151 92 + 18 bisher 163
Zentrum 3,500,800 58 + 9 „ 75
Demokraten 2,152,509 36 + 9 „ 73


zuſammen 11,184,560 222 311

demnach fehlen den bisherigen Koalitionsparteien an der
abſoluten Mehrheit 9 Mandate und der Abmangel würde
noch größer ſein, wenn nicht die aus der Nationalverſamm-
lung in den Reichstag übergehenden Vertreter der Ab-
ſtimmungsgebiete die Reihen der bisherigen Regierungs-
parteien unverhältnismäßig verſtärkten. Das ergibt eine
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[218/0004] Allgemeine Zeitung 13. Juni 1920 ſein, um dieſe Aufgabe übermäßig zu erſchweren. Zunächſt einmal ſteht feſt, daß die Sozialdemokratie als Ganzes keinen Stimmenzuwachs zu verzeichnen hat, ſodann iſt klar, daß die Anabhängigen von allen Parteien die weitaus leich- teſte Propaganda gehabt haben und ihre Erfolge weder ihren Perſönlichkeiten noch ihren Grundſätzen verdanken, ſondern einzig und allein den Hinderniſſen, auf die die Mehrheitsſozialdemokratie als führende Regierungspartei in der Derwirklichung der ſozialdemokratiſchen Grund- ſätze ſtoßen mußte. Radikal ſein erfordert von jeher den allergeringſten Aufwand an Geiſt und Fähigkeiten und die Unabhängigen hatten es ganz beſonders bequem. Während die Kommuniſten ſchließlich doch mit neuen Problemen rangen, brauchten ſie nur die alten kritiſchen Walzen weiter zu drehen und das in jahrzehntelanger Oppoſition bis zum Ueberdruß aber auch mit einer gewiſſen techniſchen Doll- endung zurechtgemachte Angriffsmaterial gegen die alten Parteigenoſſen zu kehren, was ihm ſogar einen gewiſſen Firnis der Neuheit gab und die Arbeit noch weiter er- leichterte. Denn gegen frühere Parteifreunde polemiſiert es ſich noch am allerbequemſten, weil man ja ſo lange mit ihnen hinter einem Ofen geſteckt hat und ſie daher mit allen ihren Schwächen kennt! Jn Wirklichkeit würde auch eine „unabhängig“ orientierte Regierung über die unend- lichen Schwierigkeiten der politiſchen Praxis nicht hin- wegkommen, auch ſie müßte mit Waſſer ſtatt mit Schwefel- ſäure kochen und das Ergebnis wäre nach kurzer Zeit, daß die immer Enttäuſchten, die ewig Unzufriedenen noch etwas weiter links, alſo zu den Kommuniſten abmarſchierten, die doch wirklich den ſozialen Uebeln der Zeit eine Radikalkur, wenn auch im Stile des Dr. Eiſenbart, in Ausſicht ſtellen. An und für ſich hätten alſo die Unabhängigen allen Anlaß, ihrerſeits dazu zu helfen, daß der Arbeiterſchaft, deren Maſſen ſie zuſammen mit der Mehrheitsſozialdemokratie vertreten, ihr Anteil am ſtaatlichen Leben und der Regie- rungsgewalt nicht unbillig verkümmert werde und dem- gemäß die Mitwirkung an einer Regierung nicht zu ver- ſagen, ſelbſt wenn dieſe etwa zugleich ihre Baſis nach rechts hin zu verbreitern ſuchte. Allerdings iſt dabei nicht zu verkennen, daß die Schwierigkeiten eines Regierungspro- gramms, das von der Deutſchen Volkspartei bis zu den Un- abhängigen reichen ſollte, ins Ungemeſſene wachſen, und auch ſonſt werden die Unabhängigen vorausſichtlich ihre Rechnung doch am beſten dabei finden, daß ſie in der Op- poſition bleiben und ihren Einfluß als Oppoſition zu üben ſuchen. In Braunſchweig allerdings hat man das Problem der Regierungsbildung in anderer Weiſe zu löſen geſucht. Dort ſind die Demokraten mit den beiden ſozialiſtiſchen Gruppen zuſammengegangen und das könnte an und für ſich auch im Reiche geſchehen. Aber wenn die Schwierigkeiten hier etwas mders geartet ſind, als bei einer reinen Arbeiterregierung, wie ſie oben beſprochen worden iſt, ſo ſind ſie darunter nicht kleiner und wir halten dieſen Ausweg nicht für gang- bar. Ja, wenn Berlin das Reich wäre, dann möchte es gehen, wenn auch ſchief. Aber ein großer Teil des Reiches und insbeſondere der deutſche Süden würde dabei nicht mit- machen. Auch in Württemberg nicht, wo die Wahlen, und zwar ſowohl die Reichstagswahlen wie die Landtagswahlen, noch am allermeiſten im Sinne der bisherigen Koalition ausgefallen ſind. Dort hat es die Rechte bei den Reichstags- wahlen auf 339,257 Stimmen gebracht, die Linke auf 181,831, das ſind zuſammen 521,088 Stimmen der bis- herigen Oppoſition; dem ſtehen 610,002 Stimmen der bis- herigen Regierungsparteien gegenüber (bei den Landtags- wahlen ſind die entſprechenden Zahlen 333,267 + 178,415 = 511,682 gegen 584,571). Demokraten, Sozialdemokraten und Unabhängige zuſammen haben in den Reichstagswahlen doch nur etwa 386,000 Stimmen aufgebracht, während die übrigen bürgerlichen Parteien weit über 600,000 Stimmen haben. In Bayern aber wäre eine ſolche Politik natürlich erſt recht nicht möglich und wenn es an und für ſich viel- leicht nicht unbedingt notwendig iſt, daß im Reich und in den Ländern von genau denſelben Parteien regiert werde, ſo würde doch bei dem jetzigen Stande der Zentraliſation und bei der Schärfe der vorhandenen Gegenſätze ein un- geheuerer Wirrwarr entſtehen, wenn eine Partei wie das Zentrum im Reich von der Regierung ausgeſchloſſen wäre. Alſo auch in der Braunſchweiger Kombination liegt in Wahrheit eine Löſung nicht. Sie ſcheint übrigens nach den neueſten Meldungen auch zahlenmäßig im Reiche noch mäßig zu ſein. Eine weitere Möglichkeit iſt natürlich die, daß die Sozialdemokratie zuſammen mit den Unabhängigen in die Oppoſition geht. Das wäre zahlenmäßig überall denkbar, aber es wäre verhängnisvoll, denn es bleibt nun einmal dabei, daß der Aufbau unſeres wirtſchaftlichen und ſtaat- lichen Lebens ohne die Arbeiterſchaft und durch eine Regie- rung, von der die Arbeiterſchaft ausgeſchloſſen wäre, mit geradezu unabſehbaren Schwierigkeiten zu kämpfen haben würde. Das aber können wir wirklich nicht mehr brauchen und nicht mehr ertragen. Weil die Banknotenpreſſe uns eine Art trügeriſchen Wohlſtandes geſchaffen hat, redet man ſich vielleicht da und dort ein, daß die Sache wohl ſo weiter- gehen könne, wie ſie bisher gegangen iſt. Aber das wäre eine verhängnisvolle Täuſchung. Es geht wirklich nicht mehr ſo weiter, und wenn das deutſche Dolk nicht endlich an die Arbeit geht, ſich nicht endlich klar darüber wird, daß es auf Jahrzehnte hinaus gar keine andere Exiſtenz führen kann, als die des gewiſſenhafteſten Arbeitens und des mannigfachſten Entbehrens, dann muß der große Zu- ſammenbruch unabwendbar kommen. Und er kann nur vermieden werden, wenn es gelingt, dem deutſchen Dolk eine Regierung zu geben, in der die beſonnene, maßvolle, arbeitswillige Arbeiterſchaft mit vollen Rechten vertreten iſt, die aber zugleich von rechts her etwas mehr von dem Geiſte der Zucht und der Ordnung empfängt, als wir bis- her gehabt haben. Die endgültige amtliche Ermittlung des Wahlergeb- niſſes wird noch einige Zeit auf ſich warten laſſen; aber auch wenn dieſes endgültige Ergebnis von dem vorläufig ermittelten einigermaßen abweichen und ſo noch ein oder das andere Mandat hinzukommen oder wegfallen ſollte, wird ſich doch nichts mehr an der Catſache ändern, daß die bisherigen Koalitionsparteien eine Mehr- heit im neuen Reichstag nicht erreicht haben. Nach der vorläufigen Ermittelung ſind am 6. Juni insgeſamt 25,719,067 Stimmen abgegeben worden. Das würde nach den Grundſätzen des neuen Wahlrechts 428—429 Mandate ergeben. Da aber die Reſtſtimmen unter 30,000 unausge- nützt bleiben, bei den Kommuniſten ſogar mehr als 300,000, weil ſie in den Kreiswahlen nur einen einzigen Kandidaten durchgebracht haben und auch nach der Reichsliſte nur noch einen einzigen Sitz erhalten konnten, ſind in Wahrheit nur 418 Abgeordnete gewählt. Dazu kommen die 42 Abgeord- neen der Abſtimmungsgebiete, die am 6. Juni nicht haben wählen können. Das ergibt 460 Abgeordnete auf folgende Liſte: Stimmen Abgeordnete Sozialdemokraten 5,531,151 92 + 18 bisher 163 Zentrum 3,500,800 58 + 9 „ 75 Demokraten 2,152,509 36 + 9 „ 73 zuſammen 11,184,560 222 311 demnach fehlen den bisherigen Koalitionsparteien an der abſoluten Mehrheit 9 Mandate und der Abmangel würde noch größer ſein, wenn nicht die aus der Nationalverſamm- lung in den Reichstag übergehenden Vertreter der Ab- ſtimmungsgebiete die Reihen der bisherigen Regierungs- parteien unverhältnismäßig verſtärkten. Das ergibt eine ſehr ſchwierige Lage und Regierungsbildung. HD.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 23, 13. Juni 1920, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine23_1920/4>, abgerufen am 25.11.2024.