Allgemeine Zeitung, Nr. 22, 6. Juni 1920.6. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch] Politik und Wirtschaft Die Gefährdung der Reichseinheit. Wenn irgend etwas sicher ist, so ist es das, daß uns Nun hat die Mehrheitssozialdemokratie in der National- Tatsächlich kann man in sehr weiten Kreisen hören, 6. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch] Politik und Wirtſchaft Die Gefährdung der Reichseinheit. Wenn irgend etwas ſicher iſt, ſo iſt es das, daß uns Nun hat die Mehrheitsſozialdemokratie in der National- Tatſächlich kann man in ſehr weiten Kreiſen hören, <TEI> <text> <body> <div type="jAnnouncements" n="1"> <div type="jAn" n="2"> <pb facs="#f0003" n="209"/> <fw place="top" type="header">6. 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Aber auch das gilt nur von der<lb/> Partei des katholiſchen Dolkes im weiteſten Sinne; der<lb/> Zentrumsturm als ſolcher iſt nicht nur in Bayern, ſondern<lb/> auch am Rhein erheblich bedroht und es geht nicht an, die<lb/> Abgeordneten, die hier wie dort als Katholiken gewählt<lb/> werden, ohne weiteres dem bisherigen Regierungsblock zu-<lb/> zurechnen. Daß ein nicht ganz unerheblicher Teil der Wähler,<lb/> die am 19. Januar 1919 demokratiſch gewählt haben, ſeit<lb/> einigen Wochen und Monaten nach rechts, zur Deutſchen<lb/> Volkspartei, abmarſchiert, iſt ebenfalls eine Tatſache, mit<lb/> der man ſich ſelbſt in demokratiſchen Kreiſen abfinden muß<lb/> und abfindet, und wenn auch die Bäume des Herrn Streſe-<lb/> mann weder jetzt noch ſpäter in den Himmel wachſen werden,<lb/> ſo ſpricht doch manches für einen Augenblickserfolg ſeiner<lb/> Beſtrebungen, der die Stabilität der Regierungspolitik wenig-<lb/> ſtens in den inneren Fragen bedroht; denn an den eher-<lb/> nen Geſetzen, durch die unſere auswärtige Politik beſtimmt<lb/> wird, läßt ſich weder durch Herrn Streſemann noch durch<lb/> ſonſt wen irgend etwas ändern. Der Verluſt, der der Deut-<lb/> ſchen Demokratiſchen Partei aus einem etwaigen Sieg der<lb/> Deutſchen Volkspartei erwachſen könnte, wird nun vielleicht<lb/> für die Partei als ſolche durch einen Zuwachs von links her<lb/> ausgeglichen, denn zu den Eigentümlichkeiten der Wahlen<lb/> zur verfaſſunggebenden Nationalverſammlung hat auch ge-<lb/> hört, daß die Werbekraft der ſiegreichen Jdeen des Sozialis-<lb/> mus weite Kreiſe der bürgerlichen Jntelligenz erfaßte. Dieſe<lb/> Werbekraft hat nun im Laufe des letzten Jahres ſehr er-<lb/> heblich nachgelaſſen. Von den Jdeen des Sozialismus iſt<lb/> faſt ſo wenig übriggeblieben wie von dem Jdealismus der<lb/> Sozialdemokratie; ſie iſt unter den namenloſen Schwierig-<lb/> keiten, mit denen ſie zu ringen hatte, ſchließlich der Gefahr<lb/> des Fortwurſtelns ganz und gar verfallen und es gibt heute<lb/> keine dankbarere Aufgabe für einen rechtsſtehenden Poli-<lb/> tiker als nachzuweiſen, daß der Sozialismus faſt auf allen<lb/> Gebieten Bankrott gemacht habe. Darin liegt zweifellos eine<lb/> ſtarke Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, aber bei ſolchen<lb/> Sentimentalitäten pflegt ſich nun einmal die Wählerſchaft<lb/> nicht aufzuhalten und es entſpricht ſchließlich auch einfach<lb/> dem phyſikaliſchen Geſetz, daß die Anziehungskraft, die die<lb/> Sozialdemokratie als ſtärkſte Partei bei den Wahlen zur<lb/> verfaſſunggebenden Nationalverſammlung zu üben ver-<lb/> mochte, außerordentlich ſtark nachgelaſſen hat und daß die<lb/> vorübergehend angezogenen Elemente jetzt wieder durch die<lb/> ſtärker gewordene Zentrifugalkraft in den Weltenraum hin-<lb/> ausgeſchleudert werden. Wenn demnach vielleicht bei der<lb/> Demokratie Gewinn und Verluſt ſich die Wage halten müſ-<lb/> ſen — wir glauben nicht, daß es ganz der Fall ſein wird —,<lb/> ſo iſt dagegen die Mehrheitsſozialdemokratie unzweifelhaft<lb/> von einem ganz gewaltigen Rückgang ihrer Wählerſtimmen<lb/> und Abgeordnetenmandate bedroht, denn wenn eine Abwan-<lb/> derung nach rechts nicht unwahrſcheinlich iſt, ſo iſt eine<lb/> ſolche nach links ganz gewiß unvermeidlich.</p><lb/> <p>Nun hat die Mehrheitsſozialdemokratie in der National-<lb/> verſammlung 165 Mitglieder gezählt, das Zentrum ein-<lb/> ſchließlich der Bayeriſchen Volkspartei 89 Mitglieder und<lb/> einen Hoſpitanten, die Deutſche Demokratiſche Partei 74 Mit-<lb/> glieder und einen Hoſpitanten; das macht zuſammen 330<lb/> Mitglieder der Koalitionsparteien; bei einer Geſamtzahl<lb/> von 423 Abgeordneten ſomit eine Mehrheit, die auch eine<lb/> ſtarke Abbröckelung erträgt und trotzdem noch ausreichen<lb/><cb/> kann. Aber die allgemeine Empfindung geht offenbar dahin,<lb/> daß das, was von dieſen drei Parteien mit der Neigung<lb/> zur Fortſetzung der Koalition wiederkehrt, dazu doch nicht<lb/> ausreichen werde, daß alſo eine Derſtärkung von rechts oder<lb/> links notwendig ſein wird, um eine tragfähige Regierungs-<lb/> koalition zu bilden. Dieſe Verſtärkung von rechts her, alſo<lb/> von der Deutſchen Volkspartei zu nehmen, hat Reichskanzler<lb/> Müller mit großer Entſchiedenheit abgelehnt. Und wenn<lb/> man die Bedeutung dieſer Abſage nicht überſchätzen darf, da<lb/> Müller wohl kaum im Namen und Auftrag der Regierung<lb/> oder auch nur ſeiner Partei geſprochen hat, ſo kann es doch<lb/> nicht ausbleiben, daß der Wahlkampf, wie er im ganzen<lb/> Reiche, inſonderheit aber in Bayern geführt wird, die Nei-<lb/> gung der Sozialdemokratie zum Paktieren mit bürgerlichen<lb/> Parteien nicht verſtärkt, ſondern eher abſchwächt, ſchon weil<lb/> der Wahlkampf als ſolcher alle Prinzipien ſchärfer aus-<lb/> arbeitet. Führt aber das Wahlergebnis vom 6. Juni die<lb/> Mehrheitsſozialdemokratie und die Unabhängigen enger zu-<lb/> ſammen, ſo werden die Schwierigkeiten der Regierungsbil-<lb/> dung erſt recht groß, es müßte denn ſein, daß aus den Wahl-<lb/> urnen eine rein ſozialiſtiſche Mehrheit emporſtiege. Daran<lb/> glaubt aber offenbar niemand. Und wenn ſich die Dinge<lb/> nun ſo geſtalten, daß der Reichstag im Verhältnis etwa<lb/> ebenſoviel Sozialiſten zählt wie die Nationalverſammlung,<lb/> aber mit ganz anderer Verteilung auf die beiden Gruppen,<lb/> ſo wird natürlich das Zuſammengehen der Sozialdemokratie<lb/> auch mit dem Zentrum und den Demokraten erheblich er-<lb/> ſchwert. Käme es aber trotzdem zuſtande, und zwar ohne<lb/> daß einem etwaigen Anteil der Unabhängigen an der Re-<lb/> gierung eine Erweiterung der Regierungskoalition nach<lb/> rechts gegenüberſtünde, ſo erhebt ſich die große Frage, wie<lb/> eine ſolche Verſchiebung der Regierung nach links auf die-<lb/> jenigen Teile des Reiches wirken würde, die ſchon bisher<lb/> den Verhältniſſen in Berlin und insbeſondere der ſogenannten<lb/> Nebenregierung der Gewerkſchaften mit wachſendem Miß-<lb/> trauen zugeſehen haben.</p><lb/> <p>Tatſächlich kann man in ſehr weiten Kreiſen hören,<lb/> daß man im Weſten und im Süden einen ſolchen weiteren<lb/> Ruck nach links einfach nicht mitmachen würde, und im Zu-<lb/> ſammenhange damit wird die Frage der Gefährdung der<lb/> Reichseinheit, die in engeren Kreiſen ſchon lange ventiliert<lb/> wird, allmählich immer lauter und rückhaltloſer erörtert.<lb/> Kein ernſthafter Menſch denkt allerdings daran, Bayern<lb/> oder die Rheinprovinz dauernd vom Reiche loszulöſen. Man<lb/> iſt ſich auch völlig klar darüber, daß ſpeziell Bayern ſchon<lb/> durch ſeinen Kohlenbedarf beim Reiche feſtgehalten würde,<lb/> ſelbſt wenn es ſonſt irgendwohin abfallen könnte und wollte.<lb/> Und den Gedanken, ſich den Kohlenbezug etwa auf dem<lb/> niederträchtigen und hochverräteriſchen Umweg über eine<lb/> franzöſiſche Beſetzung des Ruhrgebietes zu ſichern, weiſt ſelbſt<lb/> das ſkrupelloſeſte Weißblaue weit von ſich. Aber man ſpielt<lb/> allerdings mit dem Gedanken, daß eine <hi rendition="#g">zeitweilige</hi><lb/> Trennung von Berlin und Preußen auch der deutſchen Sache<lb/> mehr nützen könnte als ein Weitertrotten auf einem Wege,<lb/> von dem man glaubt, daß er ins Verderben führen müſſe.<lb/> Dabei hat man nicht allein die Erhaltung der bürgerlichen<lb/> und wirtſchaftlichen Ordnung, die Herſtellung oder wenig-<lb/> ſtens Anbahnung einer Art neuen notdürftigen Gleich-<lb/> gewichtes in den fürchterlich zerrütteten Staats- und Ge-<lb/> meindehaushalten, ſondern auch den Anſchluß von Tirol,<lb/> Salzburg uſw. im Auge. Wir halten dieſes Entwicklungs-<lb/> bild für ein Hirngeſpinſt, wir würden es aber auch für ein<lb/> ungeheures Unglück halten, wenn Bayern dieſe Wege gehen<lb/> wollte. Denn man ſieht wohl, wo die Wege ſich trennen, nicht<lb/> uber wo ſie wieder zuſammenführen. Man ſieht außerdem<lb/> den Triumph unſerer Feinde in dem Augenblick ſich vollen-<lb/> den, in dem die deutſche Einheit zuſammenbricht, und man<lb/> ſieht namenloſes Unheil über alle unſere neuerdings ſo ſchwer<lb/> exponierten Grenzländer hereinbrechen. Vor allem aber wäre<lb/> es geradezu verhängnisvoll, wenn der geiſtige und politiſche<lb/> Einfluß des deutſchen Südens auf das Reichsganze durch<lb/> dieſe Lostrennung ausgeſchaltet würde, wie die Abſchnürung<lb/> der von Norden her ins Bayerland führenden wirtſchaftlichen<lb/> Lebensader ſicherlich den Ruin auch für Bayern bedeuten<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [209/0003]
6. Juni 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Die Gefährdung der Reichseinheit.
Wenn irgend etwas ſicher iſt, ſo iſt es das, daß uns
die kommenden Reichstagswahlen aufs neue in ein Meer
von Unſicherheiten ſtürzen werden. Greift nicht ein Ma-
ſchinengott in letzter Stunde in die Wahlbewegung ein, ſo
wird das Ergebnis des 6. Juni eine erhebliche Schwächung
der bisherigen Regierungskoalition bedeuten. Das Zentrum
iſt ja ſeiner Mandate ſo gut wie ſicher und erweiſt ſich über-
haupt in bemerkenswertem Maße als der ruhende Pol in
der Erſcheinungen Flucht. Aber auch das gilt nur von der
Partei des katholiſchen Dolkes im weiteſten Sinne; der
Zentrumsturm als ſolcher iſt nicht nur in Bayern, ſondern
auch am Rhein erheblich bedroht und es geht nicht an, die
Abgeordneten, die hier wie dort als Katholiken gewählt
werden, ohne weiteres dem bisherigen Regierungsblock zu-
zurechnen. Daß ein nicht ganz unerheblicher Teil der Wähler,
die am 19. Januar 1919 demokratiſch gewählt haben, ſeit
einigen Wochen und Monaten nach rechts, zur Deutſchen
Volkspartei, abmarſchiert, iſt ebenfalls eine Tatſache, mit
der man ſich ſelbſt in demokratiſchen Kreiſen abfinden muß
und abfindet, und wenn auch die Bäume des Herrn Streſe-
mann weder jetzt noch ſpäter in den Himmel wachſen werden,
ſo ſpricht doch manches für einen Augenblickserfolg ſeiner
Beſtrebungen, der die Stabilität der Regierungspolitik wenig-
ſtens in den inneren Fragen bedroht; denn an den eher-
nen Geſetzen, durch die unſere auswärtige Politik beſtimmt
wird, läßt ſich weder durch Herrn Streſemann noch durch
ſonſt wen irgend etwas ändern. Der Verluſt, der der Deut-
ſchen Demokratiſchen Partei aus einem etwaigen Sieg der
Deutſchen Volkspartei erwachſen könnte, wird nun vielleicht
für die Partei als ſolche durch einen Zuwachs von links her
ausgeglichen, denn zu den Eigentümlichkeiten der Wahlen
zur verfaſſunggebenden Nationalverſammlung hat auch ge-
hört, daß die Werbekraft der ſiegreichen Jdeen des Sozialis-
mus weite Kreiſe der bürgerlichen Jntelligenz erfaßte. Dieſe
Werbekraft hat nun im Laufe des letzten Jahres ſehr er-
heblich nachgelaſſen. Von den Jdeen des Sozialismus iſt
faſt ſo wenig übriggeblieben wie von dem Jdealismus der
Sozialdemokratie; ſie iſt unter den namenloſen Schwierig-
keiten, mit denen ſie zu ringen hatte, ſchließlich der Gefahr
des Fortwurſtelns ganz und gar verfallen und es gibt heute
keine dankbarere Aufgabe für einen rechtsſtehenden Poli-
tiker als nachzuweiſen, daß der Sozialismus faſt auf allen
Gebieten Bankrott gemacht habe. Darin liegt zweifellos eine
ſtarke Ungerechtigkeit und Unbilligkeit, aber bei ſolchen
Sentimentalitäten pflegt ſich nun einmal die Wählerſchaft
nicht aufzuhalten und es entſpricht ſchließlich auch einfach
dem phyſikaliſchen Geſetz, daß die Anziehungskraft, die die
Sozialdemokratie als ſtärkſte Partei bei den Wahlen zur
verfaſſunggebenden Nationalverſammlung zu üben ver-
mochte, außerordentlich ſtark nachgelaſſen hat und daß die
vorübergehend angezogenen Elemente jetzt wieder durch die
ſtärker gewordene Zentrifugalkraft in den Weltenraum hin-
ausgeſchleudert werden. Wenn demnach vielleicht bei der
Demokratie Gewinn und Verluſt ſich die Wage halten müſ-
ſen — wir glauben nicht, daß es ganz der Fall ſein wird —,
ſo iſt dagegen die Mehrheitsſozialdemokratie unzweifelhaft
von einem ganz gewaltigen Rückgang ihrer Wählerſtimmen
und Abgeordnetenmandate bedroht, denn wenn eine Abwan-
derung nach rechts nicht unwahrſcheinlich iſt, ſo iſt eine
ſolche nach links ganz gewiß unvermeidlich.
Nun hat die Mehrheitsſozialdemokratie in der National-
verſammlung 165 Mitglieder gezählt, das Zentrum ein-
ſchließlich der Bayeriſchen Volkspartei 89 Mitglieder und
einen Hoſpitanten, die Deutſche Demokratiſche Partei 74 Mit-
glieder und einen Hoſpitanten; das macht zuſammen 330
Mitglieder der Koalitionsparteien; bei einer Geſamtzahl
von 423 Abgeordneten ſomit eine Mehrheit, die auch eine
ſtarke Abbröckelung erträgt und trotzdem noch ausreichen
kann. Aber die allgemeine Empfindung geht offenbar dahin,
daß das, was von dieſen drei Parteien mit der Neigung
zur Fortſetzung der Koalition wiederkehrt, dazu doch nicht
ausreichen werde, daß alſo eine Derſtärkung von rechts oder
links notwendig ſein wird, um eine tragfähige Regierungs-
koalition zu bilden. Dieſe Verſtärkung von rechts her, alſo
von der Deutſchen Volkspartei zu nehmen, hat Reichskanzler
Müller mit großer Entſchiedenheit abgelehnt. Und wenn
man die Bedeutung dieſer Abſage nicht überſchätzen darf, da
Müller wohl kaum im Namen und Auftrag der Regierung
oder auch nur ſeiner Partei geſprochen hat, ſo kann es doch
nicht ausbleiben, daß der Wahlkampf, wie er im ganzen
Reiche, inſonderheit aber in Bayern geführt wird, die Nei-
gung der Sozialdemokratie zum Paktieren mit bürgerlichen
Parteien nicht verſtärkt, ſondern eher abſchwächt, ſchon weil
der Wahlkampf als ſolcher alle Prinzipien ſchärfer aus-
arbeitet. Führt aber das Wahlergebnis vom 6. Juni die
Mehrheitsſozialdemokratie und die Unabhängigen enger zu-
ſammen, ſo werden die Schwierigkeiten der Regierungsbil-
dung erſt recht groß, es müßte denn ſein, daß aus den Wahl-
urnen eine rein ſozialiſtiſche Mehrheit emporſtiege. Daran
glaubt aber offenbar niemand. Und wenn ſich die Dinge
nun ſo geſtalten, daß der Reichstag im Verhältnis etwa
ebenſoviel Sozialiſten zählt wie die Nationalverſammlung,
aber mit ganz anderer Verteilung auf die beiden Gruppen,
ſo wird natürlich das Zuſammengehen der Sozialdemokratie
auch mit dem Zentrum und den Demokraten erheblich er-
ſchwert. Käme es aber trotzdem zuſtande, und zwar ohne
daß einem etwaigen Anteil der Unabhängigen an der Re-
gierung eine Erweiterung der Regierungskoalition nach
rechts gegenüberſtünde, ſo erhebt ſich die große Frage, wie
eine ſolche Verſchiebung der Regierung nach links auf die-
jenigen Teile des Reiches wirken würde, die ſchon bisher
den Verhältniſſen in Berlin und insbeſondere der ſogenannten
Nebenregierung der Gewerkſchaften mit wachſendem Miß-
trauen zugeſehen haben.
Tatſächlich kann man in ſehr weiten Kreiſen hören,
daß man im Weſten und im Süden einen ſolchen weiteren
Ruck nach links einfach nicht mitmachen würde, und im Zu-
ſammenhange damit wird die Frage der Gefährdung der
Reichseinheit, die in engeren Kreiſen ſchon lange ventiliert
wird, allmählich immer lauter und rückhaltloſer erörtert.
Kein ernſthafter Menſch denkt allerdings daran, Bayern
oder die Rheinprovinz dauernd vom Reiche loszulöſen. Man
iſt ſich auch völlig klar darüber, daß ſpeziell Bayern ſchon
durch ſeinen Kohlenbedarf beim Reiche feſtgehalten würde,
ſelbſt wenn es ſonſt irgendwohin abfallen könnte und wollte.
Und den Gedanken, ſich den Kohlenbezug etwa auf dem
niederträchtigen und hochverräteriſchen Umweg über eine
franzöſiſche Beſetzung des Ruhrgebietes zu ſichern, weiſt ſelbſt
das ſkrupelloſeſte Weißblaue weit von ſich. Aber man ſpielt
allerdings mit dem Gedanken, daß eine zeitweilige
Trennung von Berlin und Preußen auch der deutſchen Sache
mehr nützen könnte als ein Weitertrotten auf einem Wege,
von dem man glaubt, daß er ins Verderben führen müſſe.
Dabei hat man nicht allein die Erhaltung der bürgerlichen
und wirtſchaftlichen Ordnung, die Herſtellung oder wenig-
ſtens Anbahnung einer Art neuen notdürftigen Gleich-
gewichtes in den fürchterlich zerrütteten Staats- und Ge-
meindehaushalten, ſondern auch den Anſchluß von Tirol,
Salzburg uſw. im Auge. Wir halten dieſes Entwicklungs-
bild für ein Hirngeſpinſt, wir würden es aber auch für ein
ungeheures Unglück halten, wenn Bayern dieſe Wege gehen
wollte. Denn man ſieht wohl, wo die Wege ſich trennen, nicht
uber wo ſie wieder zuſammenführen. Man ſieht außerdem
den Triumph unſerer Feinde in dem Augenblick ſich vollen-
den, in dem die deutſche Einheit zuſammenbricht, und man
ſieht namenloſes Unheil über alle unſere neuerdings ſo ſchwer
exponierten Grenzländer hereinbrechen. Vor allem aber wäre
es geradezu verhängnisvoll, wenn der geiſtige und politiſche
Einfluß des deutſchen Südens auf das Reichsganze durch
dieſe Lostrennung ausgeſchaltet würde, wie die Abſchnürung
der von Norden her ins Bayerland führenden wirtſchaftlichen
Lebensader ſicherlich den Ruin auch für Bayern bedeuten
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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