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Allgemeine Zeitung, Nr. 20, 23. Mai 1920.

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Allgemeine Zeitung 23. Mai 1920

drückte reußische Volksrat in Gera hatten ja selbst das
größte Interesse daran, sich bald wieder, wie nur recht und
billig, als alleinige Herren der Situation zu sehen. Eine
Störung dieser im Fluß begriffenen Entwicklung wurde
mit Recht unterlassen, auch gelegentliche radikale Kund-
gebungen und unfreundliche Parlamentsreden der reußischen
Staatsräte mit starken Spitzen gegen Reich, Reichsregie-
rung und Mehrheitssozialdemokratie wurden vernünftiger-
weise nicht tragisch genommen, sondern als Konzession an
die lokale Volksstimmung mit Stillschweigen übergangen.
Die erhoffte Wirkung trat ein, sehr bald schon konnte die
Wiederherstellung einer der Verfassung des Freistaates ent-
sprechenden Lage, wie sie vor dem Unternehmen der Kapp-
leute bestanden hatte, nach Berlin berichtet werden.

In einer Hinsicht allerdings mußte die Geraer Regie-
rung bei ihrem Bestreben, unkontrollierbare und wechselnde
radikale Nebeneinflüsse auszuschalten, der aufgepeitschten
Volksstimmung Rechnung tragen, indem sie die Aufnahme
dreier Mitglieder des Aktionsausschusses in ihr Staatsrats-
kollegium beschloß. Damit wurde einmal der Aktionsaus-
schuß seines verfassungswidrigen Charakters entkleidet,
vor allem aber erreicht, daß die leitenden Männer dieses
etwas wilden Gremiums sich in das amtliche Räderwerk
eingeschaltet sahen und aus verantwortungslosen, unkon-
trolliert herumkommandierenden revolutionären Tempel-
wächtern, die alle wirkliche Arbeit am Volke und für das
Volk nur hinderten, Mitarbeiter und Mitverantwortliche
wurden. Da die gleiche Maßnahme auch in Weimar und
anderen thüringischen Einzelstaaten getroffen werden mußte,
ist wohl eine gewisse Redikalisierung der thüringischen
Regierungen eingetreten, aber noch nicht eine Bolschewisie-
rung und Sowjetisierung, wie Aengstliche in Erfahrung ge-
bracht haben wollten. Eine solche wird auch voraussichtlich
nicht kommen. Es darf hier noch einmal gesagt werden,
daß in Thüringen wieder Ruhe und Ordnung herrschen,
seit die Beruhigungsunternehmungen der umherziehenden
Truppenkörper aufgehört haben und damit der Gereiztheit
der Arbeiter die Nahrung entzogen worden ist. Es ist drin-
gend zu wünschen, daß dieser Zustand keine neue Erschütte-
rung erfährt und das schöne, große Werk des neuen Bun-
desstaates oder, wie es ja jetzt nach der Reichsverfassung
heißt, des neuen "Landes" Gesamtthüringen in Ruhe und
Frieden vollendet werden kann als ein Baustein für eine
hoffentlich nicht zu ferne bessere Zukunft.

Aufbau.

(Schluß.)

Den wichtigsten Volksteil für den Aufbau bilden die
Arbeiter. Hier liegt das schwerste Problem. Sie wirken auf
die Teuerung ein nicht nur durch das an sich berechtigte
Streben nach Lohnverbesserung, sondern auch durch ihre ver-
hängnisvolle Politik. Sie stecken noch immer in den An-
schauungen, die erträglich waren, als unsere Wirtschaft noch
stark war, und unerträglich sind, nachdem sie so namenlos
schwach geworden ist. Es muß leider festgestellt werden, daß
der deutsche Arbeiter seine große Stunde noch nicht versteht.
Noch niemals waren ihm die Umstände zur Erlangung und
Befestigung einer würdigen Stellung im Volks- und Wirt-
schaftsleben so günstig wie jetzt. Früher konnten die Sozial-
demokraten sich als nicht vollberechtigt hinstellen, denn sie
hatten zwar dasselbe Stimmrecht wie die übrigen Klassen,
aber sie waren von der Regierung und Verwaltung aus-
geschlossen. Jetzt sind sie in der Regierung führend ver-
treten und jede Stelle steht ihnen offen. Ihre herrschende
Stellung ermöglicht es ihnen, ihre wirtschaftlichen Anschau-
ungen zur Ausführung zu bringen und ihre sonstigen Ideale
zu verwirklichen, soweit es eben möglich ist. Sie wollen
aber mehr; was sie früher als eine bittere und kränkende
Ungerechtigkeit nicht scharf genug verurteilen konnten, die
Klassenvorrechte, das fordern sie jetzt mit umgekehrten Rol-
len und suchen es mit Gewalt durchzusetzen. Denn der poli-

[Spaltenumbruch]

tische Generalstreik mit seinen Begleiterscheinungen ist Ver-
gewaltigung der Allgemeinheit. Es kommen aber noch
Folgeerscheinungen hinzu, die Saat des Fanatismus geht
anders auf, als man wollte. Noch radikalere Führer reißen
die Massen zu immer weitergehenden Forderungen und
immer schlimmeren Kampfmitteln fort. Der Bürgerkrieg ist
uns nicht mehr nur das drohende Gespenst, sondern er ist
uns schon schreckliche Wirklichkeit geworden. Recht und Bil-
ligkeit sind eben unbedingte Forderungen für ein gesundes
Zusammenleben. Daß die radikalen Sozialdemokraten zu
kurzsichtig sind, um dies zu erkennen, oder zu ungerecht,
um es zu betätigen, das wird die Arbeiter um die Früchte
der Revolution bringen. Unterdrückung und Schreckensherr
schaft können nur kurze Zeit dauern. Nachdem sie ihre ver-
heerende Wirkung getan haben, kommt mit mathematischer
Sicherheit die Reaktion und macht Kehraus. Ob sie so er-
leuchtet sein wird, die gesunden sozialen Fortschritte auf-
rechtzuerhalten, steht dahin.

Aber nicht alle Arbeiter sind bereit, solcher Führung zu
folgen, nicht alle organisierten und nicht die große Masse
derjenigen, die sich vom politischen und wirtschaftlichen
Kampf zurückhält. Diese gilt es für den Aufbau zu ge-
winnen. Es ist gewiß schwer, aber doch nicht unmöglich, es
darf nicht unmöglich sein, wenn unserem Vaterland das
Letzte und Schwerste erspart bleiben soll. Wofür sie gewon-
nen werden sollen, das ist doch ihr eigenstes Interesse. Sie
müssen nur darüber aufgeklärt werden. Sie müssen vor
allem einsehen, daß der Klassenkampf überholt ist. Es heißt
jetzt nicht mehr: "Hie Arbeiter, hie Bürger!", sondern: "Hie
Umstürzler, hie Aufbauer!" Wer die Fackel des Bürger-
krieges ins Volk wirft, wer andere unterdrücken will, wer
verhindert, daß wir ruhig unserer Arbeit nachgehen können,
wer es uns unmöglich macht, uns wieder satt zu essen, das
ist der Feind, mag er von links oder rechts kommen, gegen
ihn müssen sich alle zusammenschließen, die heraus wollen
aus dem Elend, das uns umgibt, und dem noch größeren
Elend, das uns bedroht, mögen sie Arbeiter oder Bürger
sein. Diesen Gegensatz gibt es in Wirklichkeit gar nicht.
Der Arbeiter ist Bürger, und zwar -- jetzt wenigstens --
ein vollberechtigter Bürger. Er gehört auch gar nicht mehr
zu den wirtschaftlich schwächsten Bürgern. In diesen Kreis
sinkt er erst wieder hinab, wenn unsere Produktion so
ruiniert wird, daß sie keine anständigen Löhne mehr zahlen
kann. Sie kann sich aber nur erholen, wenn Ordnung und
Arbeitsamkeit im Lande herrschen. Die Arbeiter schneiden
sich also ins eigene Fleisch, wenn sie politischen Machtgelüsten
nachjagen und leichtfertig die Erzeugung und Verteilung
der Güter durch Massenstreiks stillstellen. Sie sägen den Ast
ab, auf dem sie sitzen. Für den Augenblick mag man durch
Ausstände mehr an sich reißen können, aber schließlich
kommt es doch darauf an, daß möglichst viel zur Verteilung
da ist. Hiernach ist also in erster Linie zu streben. Sollte
wieder eine Zeit kemmen, wo man den Arbeitern nicht
geben will, was das Arbeitserzeugnis hergeben kann, so ist
als äußerstes Mittel auch die gemeinschaftliche Arbeitsver-
weigerung berechtigt, also ein wirtschaftlicher Streik. Dieses
Recht kann und soll den Arbeitern nicht verkümmert wer-
den, doch sollte es nur unter Leitung einsichtiger Organi-
sationen ausgeübt werden. In unserer jetzigen Lage sollte
die Einsicht dahin führen, daß unsere Wirtschaft keine Er-
schütterungen ertragen kann und daß allseitige Bereitwillig-
keit besteht, den Arbeitern gerecht zu werden. Als politisches
Kampfmittel ist der Streik ein Unrecht an der Allgemein-
heit. In der Politik gibt es nur gleiches Recht für alle,
das durch den Stimmzettel ausgeübt wird. Dieser Grundsatz
schlägt zugunsten der Arbeiter aus, da sie die Massen stellen.
Politik und Wirtschaft berühren sich allerdings insofern, als
die Wirtschaftsformen durch die Rechtssätze über das Privat-
eigentum bestimmt werden. Wenn die Tütererzeugung da-
durch gehoben wird, daß das Privateigentum an den Produk-
tionsmitteln auf die Gesamtheit übertragen wird und somit
an die Stelle der kapitalistischen die soziale Wirtschaftsform
tritt, so mag es geschehen. Die Arbeiter müssen aber er-
kennen, daß sie hieran kein unmittelbares, sondern nur ein
mittelbares und bedingtes Interesse haben. Es ist hand-

Allgemeine Zeitung 23. Mai 1920

drückte reußiſche Volksrat in Gera hatten ja ſelbſt das
größte Intereſſe daran, ſich bald wieder, wie nur recht und
billig, als alleinige Herren der Situation zu ſehen. Eine
Störung dieſer im Fluß begriffenen Entwicklung wurde
mit Recht unterlaſſen, auch gelegentliche radikale Kund-
gebungen und unfreundliche Parlamentsreden der reußiſchen
Staatsräte mit ſtarken Spitzen gegen Reich, Reichsregie-
rung und Mehrheitsſozialdemokratie wurden vernünftiger-
weiſe nicht tragiſch genommen, ſondern als Konzeſſion an
die lokale Volksſtimmung mit Stillſchweigen übergangen.
Die erhoffte Wirkung trat ein, ſehr bald ſchon konnte die
Wiederherſtellung einer der Verfaſſung des Freiſtaates ent-
ſprechenden Lage, wie ſie vor dem Unternehmen der Kapp-
leute beſtanden hatte, nach Berlin berichtet werden.

In einer Hinſicht allerdings mußte die Geraer Regie-
rung bei ihrem Beſtreben, unkontrollierbare und wechſelnde
radikale Nebeneinflüſſe auszuſchalten, der aufgepeitſchten
Volksſtimmung Rechnung tragen, indem ſie die Aufnahme
dreier Mitglieder des Aktionsausſchuſſes in ihr Staatsrats-
kollegium beſchloß. Damit wurde einmal der Aktionsaus-
ſchuß ſeines verfaſſungswidrigen Charakters entkleidet,
vor allem aber erreicht, daß die leitenden Männer dieſes
etwas wilden Gremiums ſich in das amtliche Räderwerk
eingeſchaltet ſahen und aus verantwortungsloſen, unkon-
trolliert herumkommandierenden revolutionären Tempel-
wächtern, die alle wirkliche Arbeit am Volke und für das
Volk nur hinderten, Mitarbeiter und Mitverantwortliche
wurden. Da die gleiche Maßnahme auch in Weimar und
anderen thüringiſchen Einzelſtaaten getroffen werden mußte,
iſt wohl eine gewiſſe Redikaliſierung der thüringiſchen
Regierungen eingetreten, aber noch nicht eine Bolſchewiſie-
rung und Sowjetiſierung, wie Aengſtliche in Erfahrung ge-
bracht haben wollten. Eine ſolche wird auch vorausſichtlich
nicht kommen. Es darf hier noch einmal geſagt werden,
daß in Thüringen wieder Ruhe und Ordnung herrſchen,
ſeit die Beruhigungsunternehmungen der umherziehenden
Truppenkörper aufgehört haben und damit der Gereiztheit
der Arbeiter die Nahrung entzogen worden iſt. Es iſt drin-
gend zu wünſchen, daß dieſer Zuſtand keine neue Erſchütte-
rung erfährt und das ſchöne, große Werk des neuen Bun-
desſtaates oder, wie es ja jetzt nach der Reichsverfaſſung
heißt, des neuen „Landes“ Geſamtthüringen in Ruhe und
Frieden vollendet werden kann als ein Bauſtein für eine
hoffentlich nicht zu ferne beſſere Zukunft.

Aufbau.

(Schluß.)

Den wichtigſten Volksteil für den Aufbau bilden die
Arbeiter. Hier liegt das ſchwerſte Problem. Sie wirken auf
die Teuerung ein nicht nur durch das an ſich berechtigte
Streben nach Lohnverbeſſerung, ſondern auch durch ihre ver-
hängnisvolle Politik. Sie ſtecken noch immer in den An-
ſchauungen, die erträglich waren, als unſere Wirtſchaft noch
ſtark war, und unerträglich ſind, nachdem ſie ſo namenlos
ſchwach geworden iſt. Es muß leider feſtgeſtellt werden, daß
der deutſche Arbeiter ſeine große Stunde noch nicht verſteht.
Noch niemals waren ihm die Umſtände zur Erlangung und
Befeſtigung einer würdigen Stellung im Volks- und Wirt-
ſchaftsleben ſo günſtig wie jetzt. Früher konnten die Sozial-
demokraten ſich als nicht vollberechtigt hinſtellen, denn ſie
hatten zwar dasſelbe Stimmrecht wie die übrigen Klaſſen,
aber ſie waren von der Regierung und Verwaltung aus-
geſchloſſen. Jetzt ſind ſie in der Regierung führend ver-
treten und jede Stelle ſteht ihnen offen. Ihre herrſchende
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ungen zur Ausführung zu bringen und ihre ſonſtigen Ideale
zu verwirklichen, ſoweit es eben möglich iſt. Sie wollen
aber mehr; was ſie früher als eine bittere und kränkende
Ungerechtigkeit nicht ſcharf genug verurteilen konnten, die
Klaſſenvorrechte, das fordern ſie jetzt mit umgekehrten Rol-
len und ſuchen es mit Gewalt durchzuſetzen. Denn der poli-

[Spaltenumbruch]

tiſche Generalſtreik mit ſeinen Begleiterſcheinungen iſt Ver-
gewaltigung der Allgemeinheit. Es kommen aber noch
Folgeerſcheinungen hinzu, die Saat des Fanatismus geht
anders auf, als man wollte. Noch radikalere Führer reißen
die Maſſen zu immer weitergehenden Forderungen und
immer ſchlimmeren Kampfmitteln fort. Der Bürgerkrieg iſt
uns nicht mehr nur das drohende Geſpenſt, ſondern er iſt
uns ſchon ſchreckliche Wirklichkeit geworden. Recht und Bil-
ligkeit ſind eben unbedingte Forderungen für ein geſundes
Zuſammenleben. Daß die radikalen Sozialdemokraten zu
kurzſichtig ſind, um dies zu erkennen, oder zu ungerecht,
um es zu betätigen, das wird die Arbeiter um die Früchte
der Revolution bringen. Unterdrückung und Schreckensherr
ſchaft können nur kurze Zeit dauern. Nachdem ſie ihre ver-
heerende Wirkung getan haben, kommt mit mathematiſcher
Sicherheit die Reaktion und macht Kehraus. Ob ſie ſo er-
leuchtet ſein wird, die geſunden ſozialen Fortſchritte auf-
rechtzuerhalten, ſteht dahin.

Aber nicht alle Arbeiter ſind bereit, ſolcher Führung zu
folgen, nicht alle organiſierten und nicht die große Maſſe
derjenigen, die ſich vom politiſchen und wirtſchaftlichen
Kampf zurückhält. Dieſe gilt es für den Aufbau zu ge-
winnen. Es iſt gewiß ſchwer, aber doch nicht unmöglich, es
darf nicht unmöglich ſein, wenn unſerem Vaterland das
Letzte und Schwerſte erſpart bleiben ſoll. Wofür ſie gewon-
nen werden ſollen, das iſt doch ihr eigenſtes Intereſſe. Sie
müſſen nur darüber aufgeklärt werden. Sie müſſen vor
allem einſehen, daß der Klaſſenkampf überholt iſt. Es heißt
jetzt nicht mehr: „Hie Arbeiter, hie Bürger!“, ſondern: „Hie
Umſtürzler, hie Aufbauer!“ Wer die Fackel des Bürger-
krieges ins Volk wirft, wer andere unterdrücken will, wer
verhindert, daß wir ruhig unſerer Arbeit nachgehen können,
wer es uns unmöglich macht, uns wieder ſatt zu eſſen, das
iſt der Feind, mag er von links oder rechts kommen, gegen
ihn müſſen ſich alle zuſammenſchließen, die heraus wollen
aus dem Elend, das uns umgibt, und dem noch größeren
Elend, das uns bedroht, mögen ſie Arbeiter oder Bürger
ſein. Dieſen Gegenſatz gibt es in Wirklichkeit gar nicht.
Der Arbeiter iſt Bürger, und zwar — jetzt wenigſtens —
ein vollberechtigter Bürger. Er gehört auch gar nicht mehr
zu den wirtſchaftlich ſchwächſten Bürgern. In dieſen Kreis
ſinkt er erſt wieder hinab, wenn unſere Produktion ſo
ruiniert wird, daß ſie keine anſtändigen Löhne mehr zahlen
kann. Sie kann ſich aber nur erholen, wenn Ordnung und
Arbeitſamkeit im Lande herrſchen. Die Arbeiter ſchneiden
ſich alſo ins eigene Fleiſch, wenn ſie politiſchen Machtgelüſten
nachjagen und leichtfertig die Erzeugung und Verteilung
der Güter durch Maſſenſtreiks ſtillſtellen. Sie ſägen den Aſt
ab, auf dem ſie ſitzen. Für den Augenblick mag man durch
Ausſtände mehr an ſich reißen können, aber ſchließlich
kommt es doch darauf an, daß möglichſt viel zur Verteilung
da iſt. Hiernach iſt alſo in erſter Linie zu ſtreben. Sollte
wieder eine Zeit kemmen, wo man den Arbeitern nicht
geben will, was das Arbeitserzeugnis hergeben kann, ſo iſt
als äußerſtes Mittel auch die gemeinſchaftliche Arbeitsver-
weigerung berechtigt, alſo ein wirtſchaftlicher Streik. Dieſes
Recht kann und ſoll den Arbeitern nicht verkümmert wer-
den, doch ſollte es nur unter Leitung einſichtiger Organi-
ſationen ausgeübt werden. In unſerer jetzigen Lage ſollte
die Einſicht dahin führen, daß unſere Wirtſchaft keine Er-
ſchütterungen ertragen kann und daß allſeitige Bereitwillig-
keit beſteht, den Arbeitern gerecht zu werden. Als politiſches
Kampfmittel iſt der Streik ein Unrecht an der Allgemein-
heit. In der Politik gibt es nur gleiches Recht für alle,
das durch den Stimmzettel ausgeübt wird. Dieſer Grundſatz
ſchlägt zugunſten der Arbeiter aus, da ſie die Maſſen ſtellen.
Politik und Wirtſchaft berühren ſich allerdings inſofern, als
die Wirtſchaftsformen durch die Rechtsſätze über das Privat-
eigentum beſtimmt werden. Wenn die Tütererzeugung da-
durch gehoben wird, daß das Privateigentum an den Produk-
tionsmitteln auf die Geſamtheit übertragen wird und ſomit
an die Stelle der kapitaliſtiſchen die ſoziale Wirtſchaftsform
tritt, ſo mag es geſchehen. Die Arbeiter müſſen aber er-
kennen, daß ſie hieran kein unmittelbares, ſondern nur ein
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[190/0004] Allgemeine Zeitung 23. Mai 1920 drückte reußiſche Volksrat in Gera hatten ja ſelbſt das größte Intereſſe daran, ſich bald wieder, wie nur recht und billig, als alleinige Herren der Situation zu ſehen. Eine Störung dieſer im Fluß begriffenen Entwicklung wurde mit Recht unterlaſſen, auch gelegentliche radikale Kund- gebungen und unfreundliche Parlamentsreden der reußiſchen Staatsräte mit ſtarken Spitzen gegen Reich, Reichsregie- rung und Mehrheitsſozialdemokratie wurden vernünftiger- weiſe nicht tragiſch genommen, ſondern als Konzeſſion an die lokale Volksſtimmung mit Stillſchweigen übergangen. Die erhoffte Wirkung trat ein, ſehr bald ſchon konnte die Wiederherſtellung einer der Verfaſſung des Freiſtaates ent- ſprechenden Lage, wie ſie vor dem Unternehmen der Kapp- leute beſtanden hatte, nach Berlin berichtet werden. In einer Hinſicht allerdings mußte die Geraer Regie- rung bei ihrem Beſtreben, unkontrollierbare und wechſelnde radikale Nebeneinflüſſe auszuſchalten, der aufgepeitſchten Volksſtimmung Rechnung tragen, indem ſie die Aufnahme dreier Mitglieder des Aktionsausſchuſſes in ihr Staatsrats- kollegium beſchloß. Damit wurde einmal der Aktionsaus- ſchuß ſeines verfaſſungswidrigen Charakters entkleidet, vor allem aber erreicht, daß die leitenden Männer dieſes etwas wilden Gremiums ſich in das amtliche Räderwerk eingeſchaltet ſahen und aus verantwortungsloſen, unkon- trolliert herumkommandierenden revolutionären Tempel- wächtern, die alle wirkliche Arbeit am Volke und für das Volk nur hinderten, Mitarbeiter und Mitverantwortliche wurden. Da die gleiche Maßnahme auch in Weimar und anderen thüringiſchen Einzelſtaaten getroffen werden mußte, iſt wohl eine gewiſſe Redikaliſierung der thüringiſchen Regierungen eingetreten, aber noch nicht eine Bolſchewiſie- rung und Sowjetiſierung, wie Aengſtliche in Erfahrung ge- bracht haben wollten. Eine ſolche wird auch vorausſichtlich nicht kommen. Es darf hier noch einmal geſagt werden, daß in Thüringen wieder Ruhe und Ordnung herrſchen, ſeit die Beruhigungsunternehmungen der umherziehenden Truppenkörper aufgehört haben und damit der Gereiztheit der Arbeiter die Nahrung entzogen worden iſt. Es iſt drin- gend zu wünſchen, daß dieſer Zuſtand keine neue Erſchütte- rung erfährt und das ſchöne, große Werk des neuen Bun- desſtaates oder, wie es ja jetzt nach der Reichsverfaſſung heißt, des neuen „Landes“ Geſamtthüringen in Ruhe und Frieden vollendet werden kann als ein Bauſtein für eine hoffentlich nicht zu ferne beſſere Zukunft. Aufbau. Von Staatsminiſter Graepel in Oldenburg. (Schluß.) Den wichtigſten Volksteil für den Aufbau bilden die Arbeiter. Hier liegt das ſchwerſte Problem. Sie wirken auf die Teuerung ein nicht nur durch das an ſich berechtigte Streben nach Lohnverbeſſerung, ſondern auch durch ihre ver- hängnisvolle Politik. Sie ſtecken noch immer in den An- ſchauungen, die erträglich waren, als unſere Wirtſchaft noch ſtark war, und unerträglich ſind, nachdem ſie ſo namenlos ſchwach geworden iſt. Es muß leider feſtgeſtellt werden, daß der deutſche Arbeiter ſeine große Stunde noch nicht verſteht. Noch niemals waren ihm die Umſtände zur Erlangung und Befeſtigung einer würdigen Stellung im Volks- und Wirt- ſchaftsleben ſo günſtig wie jetzt. Früher konnten die Sozial- demokraten ſich als nicht vollberechtigt hinſtellen, denn ſie hatten zwar dasſelbe Stimmrecht wie die übrigen Klaſſen, aber ſie waren von der Regierung und Verwaltung aus- geſchloſſen. Jetzt ſind ſie in der Regierung führend ver- treten und jede Stelle ſteht ihnen offen. Ihre herrſchende Stellung ermöglicht es ihnen, ihre wirtſchaftlichen Anſchau- ungen zur Ausführung zu bringen und ihre ſonſtigen Ideale zu verwirklichen, ſoweit es eben möglich iſt. Sie wollen aber mehr; was ſie früher als eine bittere und kränkende Ungerechtigkeit nicht ſcharf genug verurteilen konnten, die Klaſſenvorrechte, das fordern ſie jetzt mit umgekehrten Rol- len und ſuchen es mit Gewalt durchzuſetzen. Denn der poli- tiſche Generalſtreik mit ſeinen Begleiterſcheinungen iſt Ver- gewaltigung der Allgemeinheit. Es kommen aber noch Folgeerſcheinungen hinzu, die Saat des Fanatismus geht anders auf, als man wollte. Noch radikalere Führer reißen die Maſſen zu immer weitergehenden Forderungen und immer ſchlimmeren Kampfmitteln fort. Der Bürgerkrieg iſt uns nicht mehr nur das drohende Geſpenſt, ſondern er iſt uns ſchon ſchreckliche Wirklichkeit geworden. Recht und Bil- ligkeit ſind eben unbedingte Forderungen für ein geſundes Zuſammenleben. Daß die radikalen Sozialdemokraten zu kurzſichtig ſind, um dies zu erkennen, oder zu ungerecht, um es zu betätigen, das wird die Arbeiter um die Früchte der Revolution bringen. Unterdrückung und Schreckensherr ſchaft können nur kurze Zeit dauern. Nachdem ſie ihre ver- heerende Wirkung getan haben, kommt mit mathematiſcher Sicherheit die Reaktion und macht Kehraus. Ob ſie ſo er- leuchtet ſein wird, die geſunden ſozialen Fortſchritte auf- rechtzuerhalten, ſteht dahin. Aber nicht alle Arbeiter ſind bereit, ſolcher Führung zu folgen, nicht alle organiſierten und nicht die große Maſſe derjenigen, die ſich vom politiſchen und wirtſchaftlichen Kampf zurückhält. Dieſe gilt es für den Aufbau zu ge- winnen. Es iſt gewiß ſchwer, aber doch nicht unmöglich, es darf nicht unmöglich ſein, wenn unſerem Vaterland das Letzte und Schwerſte erſpart bleiben ſoll. Wofür ſie gewon- nen werden ſollen, das iſt doch ihr eigenſtes Intereſſe. Sie müſſen nur darüber aufgeklärt werden. Sie müſſen vor allem einſehen, daß der Klaſſenkampf überholt iſt. Es heißt jetzt nicht mehr: „Hie Arbeiter, hie Bürger!“, ſondern: „Hie Umſtürzler, hie Aufbauer!“ Wer die Fackel des Bürger- krieges ins Volk wirft, wer andere unterdrücken will, wer verhindert, daß wir ruhig unſerer Arbeit nachgehen können, wer es uns unmöglich macht, uns wieder ſatt zu eſſen, das iſt der Feind, mag er von links oder rechts kommen, gegen ihn müſſen ſich alle zuſammenſchließen, die heraus wollen aus dem Elend, das uns umgibt, und dem noch größeren Elend, das uns bedroht, mögen ſie Arbeiter oder Bürger ſein. Dieſen Gegenſatz gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Der Arbeiter iſt Bürger, und zwar — jetzt wenigſtens — ein vollberechtigter Bürger. Er gehört auch gar nicht mehr zu den wirtſchaftlich ſchwächſten Bürgern. In dieſen Kreis ſinkt er erſt wieder hinab, wenn unſere Produktion ſo ruiniert wird, daß ſie keine anſtändigen Löhne mehr zahlen kann. Sie kann ſich aber nur erholen, wenn Ordnung und Arbeitſamkeit im Lande herrſchen. Die Arbeiter ſchneiden ſich alſo ins eigene Fleiſch, wenn ſie politiſchen Machtgelüſten nachjagen und leichtfertig die Erzeugung und Verteilung der Güter durch Maſſenſtreiks ſtillſtellen. Sie ſägen den Aſt ab, auf dem ſie ſitzen. Für den Augenblick mag man durch Ausſtände mehr an ſich reißen können, aber ſchließlich kommt es doch darauf an, daß möglichſt viel zur Verteilung da iſt. Hiernach iſt alſo in erſter Linie zu ſtreben. Sollte wieder eine Zeit kemmen, wo man den Arbeitern nicht geben will, was das Arbeitserzeugnis hergeben kann, ſo iſt als äußerſtes Mittel auch die gemeinſchaftliche Arbeitsver- weigerung berechtigt, alſo ein wirtſchaftlicher Streik. Dieſes Recht kann und ſoll den Arbeitern nicht verkümmert wer- den, doch ſollte es nur unter Leitung einſichtiger Organi- ſationen ausgeübt werden. In unſerer jetzigen Lage ſollte die Einſicht dahin führen, daß unſere Wirtſchaft keine Er- ſchütterungen ertragen kann und daß allſeitige Bereitwillig- keit beſteht, den Arbeitern gerecht zu werden. Als politiſches Kampfmittel iſt der Streik ein Unrecht an der Allgemein- heit. In der Politik gibt es nur gleiches Recht für alle, das durch den Stimmzettel ausgeübt wird. Dieſer Grundſatz ſchlägt zugunſten der Arbeiter aus, da ſie die Maſſen ſtellen. Politik und Wirtſchaft berühren ſich allerdings inſofern, als die Wirtſchaftsformen durch die Rechtsſätze über das Privat- eigentum beſtimmt werden. Wenn die Tütererzeugung da- durch gehoben wird, daß das Privateigentum an den Produk- tionsmitteln auf die Geſamtheit übertragen wird und ſomit an die Stelle der kapitaliſtiſchen die ſoziale Wirtſchaftsform tritt, ſo mag es geſchehen. Die Arbeiter müſſen aber er- kennen, daß ſie hieran kein unmittelbares, ſondern nur ein mittelbares und bedingtes Intereſſe haben. Es iſt hand-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 20, 23. Mai 1920, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine20_1920/4>, abgerufen am 24.11.2024.