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Allgemeine Zeitung, Nr. 20, 23. Mai 1920.

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23. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtschaft
Neuthüringen.

I.

Das schöne mitteldeutsche Land zwischen Werra und
Elster schickt sich an, aus dem geographischen Begriff Thü-
ringen ein politischer, aus einer Landschaft ein Staat, aus
einer bunten Ländervielheit eine Einheit zu werden. Was
die deutsche Revolution versäumt hat: die kulturhistorisch
verdienstvollen, aber politisch auf die Dauer unmöglichen
Splitterstaaten unseres geschlagenen Vaterlandes mit ra-
schem, schmerzlosem Zugriff zu einem geschlossenen Block zu-
sammenzuschweißen, der vielleicht eine schnellere Ueberwin-
dung von Kriegs- und Nachkriegsnöten versprochen hätte,
Thüringen will es im kleinen auf eigene Faust nachholen.
Einen rühmlichen Vorstoß in dieser Richtung haben schon
um die Mitte des vorigen Jahres die beiden reußischen
Freistaaten gemacht, indem sie sich zu einem Volksstaate
Reuß mit der Hauptstadt Gera zusammenschlossen. Hier
schien ein Kristallisationspunkt gegeben, der zunächst auf
das durch Gemeinsamkeit vieler Interessen mit Reuß eng-
verbundene Altenburg eine starke Anziehungskraft ausüben
konnte. Unterbrochen und abgebrochen wurde diese Ent-
wicklung jedoch durch das Dazwischentreten des großthürtn-
gischen Projektes, das die Schaffung eines thüringischen
Staatswesens unter Einbeziehung recht bedeutender preußi-
scher Gebietsteile vorsah, eines Staatswesens, dessen wirt-
schaftlichen und politischen Mittelpunkt das preußische Er-
furt gebildet hätte, das auch als Hauptstadt des neuen Ge-
bildes gedacht war. Die Ausführung dieses Planes wurde
von seiten der thüringischen Staatsmänner nicht ungeschickt
angesetzt, sie scheiterte aber an dem lebhaften Widerstand,
der jeder Abtretung preußischer Gebiete einmal vom preußi-
schen Ministerium des Innern, dann aber auch und in ganz
besonderem Maße von den Provinzialbehörden und der Be-
völkerung Erfurts und seines Regierungsbezirkes ausging.
Die thüringischen Politiker, an ihrer Spitze der weimarische
Minister Paulssen und der reußische Staatsminister Freiherr
v. Brandstein, waren einsichtsvoll genug, Unmögliches bei-
zeiten als unmöglich erkennend, sich nähere, leichter erreich-
bare Ziele zu stecken. Die Idec "Großthüringen" verschwand
in der Versenkung, dafür wurde der nicht als Stückwerk
und Ueberbleibsel des alten zu wertende, sondern organisch
neue Plan entworfen, einen Staat "Gesamtthüringen" zu
schaffen, der alle thüringischen Länder ohne Einbeziehung
preußischer Gebietsteile umfassen sollte. Vorsichtige Prüfung
ergab, daß auch dieses kleinere Staatswesen ein durchaus
lebensfähiges Gebilde abgeben, daß es finanziell sogar in
mancher Hinsicht recht günstig dastehen werde. Nach man-
cherlei Vorbereitungen, von denen die große Oeffentlichkeit
wenig erfahren hat, die aber darum nicht minder sorgsame
und gründliche Arbeit erforderten, trat im Dezember im
alten Landtagshaus zu Weimar der erste gemeinschaftliche
Volksrat von Gesamtthüringen zusammen, dessen Aufgabe es
ist, dem neuen Staatswesen Form und Verfassung zu geben.
Die Geburtsstunde des Landes Thüringen mit der Haupt-
stadt Weimar ist nicht mehr fern.

Koburg hat bekanntlich den Entschluß gefaßt, dem neuen
mitteldeutschen Staate fernzubleiben und sich Bayern anzu-
gliedern; sein Anschluß an die bayerische Republik ist bereits
Tatsache geworden. Diese Lostrennung kam denen, die thü-
ringische Verhältnisse kannten und die Entwicklung der
Dinge in den letzten Monaten verfolgt hatten, nicht über-
raschend. Auch der Freistaat Meiningen war einige Zeit im
Zweifel, welcher Seite er sich zuwenden sollte, bis um die
Jahreswende das Meiningensche Jawort für Thüringen beim
Staatsrat und Volksrat in Weimar abgegeben wurde. Das
Verdienst, die Absplitterung dieses größten thüringischen
Einzellandes verhindert zu haben, gebührt in erster Linie
den schon genannten beiden Ministern, die sich als Inspira-

[Spaltenumbruch]

toren und Motoren der gesamtthüringischen Bewegung un-
vergängliche Verdienste erworben haben. Die große Ruhe,
Mäßigung und Besonnenheit Paulssens und die radikalere
Art des Freiherrn v. Brandenstein haben sich hier bei einem
löblichen Werk par excellence in glücklichster Weise er-
gänzt. In Herrn Paulssen hat Thüringen wohl -- dieser Er-
wartung und Hoffnung darf schon heute Ausdruck verliehen
werden -- den ersten Ministerpräsidenten des neuen Gemein-
schaftsstaates zu erblicken.

II.

Bolschewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links
in Weimar? Sowjetherrschaft in Gotha, Räterepublik in
Reuß? Der an Ort und Stelle Gewesene antwortet darauf
mit einem immerhin beruhigenden: So weit ist es nicht ge-
kommen. Zum mindesten noch nicht.

Hohe Reichsstellen haben das Recht, vielleicht sogar die
Pflicht, sehr optimistisch zu sein, sonst hielten sie's auf der
windigen Höhe nicht aus. Die Gestalt eines Noske ist ohne
starknervigen, auf die Spitze getriebenen Optimismus un-
denkbar. Hohe Reichsstellen wissen nichts vom Bolschemis-
mus in Deutschland, wollen nichts von ihm wissen, lehnen
ihn ab. Wie sagte Friedrich Freksa so schön im "Phosphor":

"Herrscht der Bolschewist durch's Land hin,
Müllern setzt er nicht in Trab,
Lehnt er Müllern an die Wand hin,
Lehnt ihn Müller einfach ab!"

Wir sind keine hohe Reichsstelle und haben das Recht,
einen Grad weniger optimistisch zu sein. Aber auch zu über-
triebenem Pessimismus liegt, wenigstens im Falle Thürin-
gen, kein Grund vor.

Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren
schon vor den Märzereignissen dieses Jahres die Industrie-
städte Gotha und Gera. Dort haben nämlich die Leute der
U. S. P. D. die Regierungsgewalt in der Hand. Ja -- aber
sie regieren wirklich, das heißt sie haben nicht etwa eine
Schreckensherrschaft von der Art der des Räubers Hölz im
sächsischen Vogtland aufgerichtet, sondern sie zeigen Ver-
nunft, Mäßigung, Ordnungswillen. So war es vor dem
Kappistenputsch. Man konnte zufrieden sein.

Nach den unruhigen Märztagen dieses Jahres hatte
es allerdings eine Zeitlang den Anschein, als sollte die
oberste Gewalt in Gotha und Gera ganz den verfassungs-
mäßigen Regierungen der beiden kleinen Länder entgleiten
und in die Hände linksradikaler Aktionsausschüsse über-
gehen. In Gotha, wo die Lage wenig Gefahr für besondere
Verwicklungen bot, wurde dem durch eine rechtzeitig ein-
rückende Reichswehrbesatzung vorgebeugt, in Gero schien
dieses einfache Hilfsmittel nicht wohl anwendbar, da hier
auf den schnell vorübergegangenen, temperamentvoll ein-
geleiteten, aber höchst ungeschickt durchgeführten Kappisten-
putsch eine sehr lebhafte und nachhaltige Gegenwirkung ge-
folgt war. Die gesamte Arbeiterschaft stand unter den Waffen,
wachsam bis aufs äußerste und zur Verteidigung ihrer
neuerrungenen, gegen die Aufrührer siegreich behaupteten
revolutionären Freiheit gegen jeden Angriff oder auch nur
Schein eines Angriffes fest entschlossen. Eine Annäherung
irgendwelcher Truppen hätte den bewaffneten Widerstand
der gut organisierten und dißiplinierten Arbeiterwehren
in Reuß, Altenburg und darüber hinaus ausgelöst und das
Leben der aus den Tagen des Kappistenputsches verhaf-
teten, zum großen Teil sehr harmlosen Bürger und Zeit-
freiwilligen, die der Aktionsausschuß eingestandenermaßen
noch als Geiseln festhielt, in schwerste Gefahr gebracht.
Hier mußte anders verfahren werden. Feststellungen von
Vertretern des Reiches in Gera ergaben, daß eine schnelle
Konsolidation der Lage erwartet werden durfte, eine Kon-
solidation im Sinne einer allmählichen Ausschaltung des
Aktionsausschusses und damit eine Wiederherstellung ver-
fassungsmäßiger Verhältnisse, wenn man die Reußen sich
selbst überließ und keinen Eingriff von außen unternahm.
Der Staatsrat in Gera unter dem Freiherrn v. Branden-
stein und der ordnungsmäßig aus Wahlen hervorgegangene,
in den Märztagen vorübergehend etwas an die Wand ge-

23. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Neuthüringen.

I.

Das ſchöne mitteldeutſche Land zwiſchen Werra und
Elſter ſchickt ſich an, aus dem geographiſchen Begriff Thü-
ringen ein politiſcher, aus einer Landſchaft ein Staat, aus
einer bunten Ländervielheit eine Einheit zu werden. Was
die deutſche Revolution verſäumt hat: die kulturhiſtoriſch
verdienſtvollen, aber politiſch auf die Dauer unmöglichen
Splitterſtaaten unſeres geſchlagenen Vaterlandes mit ra-
ſchem, ſchmerzloſem Zugriff zu einem geſchloſſenen Block zu-
ſammenzuſchweißen, der vielleicht eine ſchnellere Ueberwin-
dung von Kriegs- und Nachkriegsnöten verſprochen hätte,
Thüringen will es im kleinen auf eigene Fauſt nachholen.
Einen rühmlichen Vorſtoß in dieſer Richtung haben ſchon
um die Mitte des vorigen Jahres die beiden reußiſchen
Freiſtaaten gemacht, indem ſie ſich zu einem Volksſtaate
Reuß mit der Hauptſtadt Gera zuſammenſchloſſen. Hier
ſchien ein Kriſtalliſationspunkt gegeben, der zunächſt auf
das durch Gemeinſamkeit vieler Intereſſen mit Reuß eng-
verbundene Altenburg eine ſtarke Anziehungskraft ausüben
konnte. Unterbrochen und abgebrochen wurde dieſe Ent-
wicklung jedoch durch das Dazwiſchentreten des großthürtn-
giſchen Projektes, das die Schaffung eines thüringiſchen
Staatsweſens unter Einbeziehung recht bedeutender preußi-
ſcher Gebietsteile vorſah, eines Staatsweſens, deſſen wirt-
ſchaftlichen und politiſchen Mittelpunkt das preußiſche Er-
furt gebildet hätte, das auch als Hauptſtadt des neuen Ge-
bildes gedacht war. Die Ausführung dieſes Planes wurde
von ſeiten der thüringiſchen Staatsmänner nicht ungeſchickt
angeſetzt, ſie ſcheiterte aber an dem lebhaften Widerſtand,
der jeder Abtretung preußiſcher Gebiete einmal vom preußi-
ſchen Miniſterium des Innern, dann aber auch und in ganz
beſonderem Maße von den Provinzialbehörden und der Be-
völkerung Erfurts und ſeines Regierungsbezirkes ausging.
Die thüringiſchen Politiker, an ihrer Spitze der weimariſche
Miniſter Paulſſen und der reußiſche Staatsminiſter Freiherr
v. Brandſtein, waren einſichtsvoll genug, Unmögliches bei-
zeiten als unmöglich erkennend, ſich nähere, leichter erreich-
bare Ziele zu ſtecken. Die Idec „Großthüringen“ verſchwand
in der Verſenkung, dafür wurde der nicht als Stückwerk
und Ueberbleibſel des alten zu wertende, ſondern organiſch
neue Plan entworfen, einen Staat „Geſamtthüringen“ zu
ſchaffen, der alle thüringiſchen Länder ohne Einbeziehung
preußiſcher Gebietsteile umfaſſen ſollte. Vorſichtige Prüfung
ergab, daß auch dieſes kleinere Staatsweſen ein durchaus
lebensfähiges Gebilde abgeben, daß es finanziell ſogar in
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cherlei Vorbereitungen, von denen die große Oeffentlichkeit
wenig erfahren hat, die aber darum nicht minder ſorgſame
und gründliche Arbeit erforderten, trat im Dezember im
alten Landtagshaus zu Weimar der erſte gemeinſchaftliche
Volksrat von Geſamtthüringen zuſammen, deſſen Aufgabe es
iſt, dem neuen Staatsweſen Form und Verfaſſung zu geben.
Die Geburtsſtunde des Landes Thüringen mit der Haupt-
ſtadt Weimar iſt nicht mehr fern.

Koburg hat bekanntlich den Entſchluß gefaßt, dem neuen
mitteldeutſchen Staate fernzubleiben und ſich Bayern anzu-
gliedern; ſein Anſchluß an die bayeriſche Republik iſt bereits
Tatſache geworden. Dieſe Lostrennung kam denen, die thü-
ringiſche Verhältniſſe kannten und die Entwicklung der
Dinge in den letzten Monaten verfolgt hatten, nicht über-
raſchend. Auch der Freiſtaat Meiningen war einige Zeit im
Zweifel, welcher Seite er ſich zuwenden ſollte, bis um die
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Staatsrat und Volksrat in Weimar abgegeben wurde. Das
Verdienſt, die Abſplitterung dieſes größten thüringiſchen
Einzellandes verhindert zu haben, gebührt in erſter Linie
den ſchon genannten beiden Miniſtern, die ſich als Inſpira-

[Spaltenumbruch]

toren und Motoren der geſamtthüringiſchen Bewegung un-
vergängliche Verdienſte erworben haben. Die große Ruhe,
Mäßigung und Beſonnenheit Paulſſens und die radikalere
Art des Freiherrn v. Brandenſtein haben ſich hier bei einem
löblichen Werk par excellence in glücklichſter Weiſe er-
gänzt. In Herrn Paulſſen hat Thüringen wohl — dieſer Er-
wartung und Hoffnung darf ſchon heute Ausdruck verliehen
werden — den erſten Miniſterpräſidenten des neuen Gemein-
ſchaftsſtaates zu erblicken.

II.

Bolſchewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links
in Weimar? Sowjetherrſchaft in Gotha, Räterepublik in
Reuß? Der an Ort und Stelle Geweſene antwortet darauf
mit einem immerhin beruhigenden: So weit iſt es nicht ge-
kommen. Zum mindeſten noch nicht.

Hohe Reichsſtellen haben das Recht, vielleicht ſogar die
Pflicht, ſehr optimiſtiſch zu ſein, ſonſt hielten ſie’s auf der
windigen Höhe nicht aus. Die Geſtalt eines Noske iſt ohne
ſtarknervigen, auf die Spitze getriebenen Optimismus un-
denkbar. Hohe Reichsſtellen wiſſen nichts vom Bolſchemis-
mus in Deutſchland, wollen nichts von ihm wiſſen, lehnen
ihn ab. Wie ſagte Friedrich Frekſa ſo ſchön im „Phosphor“:

„Herrſcht der Bolſchewiſt durch’s Land hin,
Müllern ſetzt er nicht in Trab,
Lehnt er Müllern an die Wand hin,
Lehnt ihn Müller einfach ab!“

Wir ſind keine hohe Reichsſtelle und haben das Recht,
einen Grad weniger optimiſtiſch zu ſein. Aber auch zu über-
triebenem Peſſimismus liegt, wenigſtens im Falle Thürin-
gen, kein Grund vor.

Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren
ſchon vor den Märzereigniſſen dieſes Jahres die Induſtrie-
ſtädte Gotha und Gera. Dort haben nämlich die Leute der
U. S. P. D. die Regierungsgewalt in der Hand. Ja — aber
ſie regieren wirklich, das heißt ſie haben nicht etwa eine
Schreckensherrſchaft von der Art der des Räubers Hölz im
ſächſiſchen Vogtland aufgerichtet, ſondern ſie zeigen Ver-
nunft, Mäßigung, Ordnungswillen. So war es vor dem
Kappiſtenputſch. Man konnte zufrieden ſein.

Nach den unruhigen Märztagen dieſes Jahres hatte
es allerdings eine Zeitlang den Anſchein, als ſollte die
oberſte Gewalt in Gotha und Gera ganz den verfaſſungs-
mäßigen Regierungen der beiden kleinen Länder entgleiten
und in die Hände linksradikaler Aktionsausſchüſſe über-
gehen. In Gotha, wo die Lage wenig Gefahr für beſondere
Verwicklungen bot, wurde dem durch eine rechtzeitig ein-
rückende Reichswehrbeſatzung vorgebeugt, in Gero ſchien
dieſes einfache Hilfsmittel nicht wohl anwendbar, da hier
auf den ſchnell vorübergegangenen, temperamentvoll ein-
geleiteten, aber höchſt ungeſchickt durchgeführten Kappiſten-
putſch eine ſehr lebhafte und nachhaltige Gegenwirkung ge-
folgt war. Die geſamte Arbeiterſchaft ſtand unter den Waffen,
wachſam bis aufs äußerſte und zur Verteidigung ihrer
neuerrungenen, gegen die Aufrührer ſiegreich behaupteten
revolutionären Freiheit gegen jeden Angriff oder auch nur
Schein eines Angriffes feſt entſchloſſen. Eine Annäherung
irgendwelcher Truppen hätte den bewaffneten Widerſtand
der gut organiſierten und diſziplinierten Arbeiterwehren
in Reuß, Altenburg und darüber hinaus ausgelöſt und das
Leben der aus den Tagen des Kappiſtenputſches verhaf-
teten, zum großen Teil ſehr harmloſen Bürger und Zeit-
freiwilligen, die der Aktionsausſchuß eingeſtandenermaßen
noch als Geiſeln feſthielt, in ſchwerſte Gefahr gebracht.
Hier mußte anders verfahren werden. Feſtſtellungen von
Vertretern des Reiches in Gera ergaben, daß eine ſchnelle
Konſolidation der Lage erwartet werden durfte, eine Kon-
ſolidation im Sinne einer allmählichen Ausſchaltung des
Aktionsausſchuſſes und damit eine Wiederherſtellung ver-
faſſungsmäßiger Verhältniſſe, wenn man die Reußen ſich
ſelbſt überließ und keinen Eingriff von außen unternahm.
Der Staatsrat in Gera unter dem Freiherrn v. Branden-
ſtein und der ordnungsmäßig aus Wahlen hervorgegangene,
in den Märztagen vorübergehend etwas an die Wand ge-

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[189/0003] 23. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Neuthüringen. Von Reinhard Weer. I. Das ſchöne mitteldeutſche Land zwiſchen Werra und Elſter ſchickt ſich an, aus dem geographiſchen Begriff Thü- ringen ein politiſcher, aus einer Landſchaft ein Staat, aus einer bunten Ländervielheit eine Einheit zu werden. Was die deutſche Revolution verſäumt hat: die kulturhiſtoriſch verdienſtvollen, aber politiſch auf die Dauer unmöglichen Splitterſtaaten unſeres geſchlagenen Vaterlandes mit ra- ſchem, ſchmerzloſem Zugriff zu einem geſchloſſenen Block zu- ſammenzuſchweißen, der vielleicht eine ſchnellere Ueberwin- dung von Kriegs- und Nachkriegsnöten verſprochen hätte, Thüringen will es im kleinen auf eigene Fauſt nachholen. Einen rühmlichen Vorſtoß in dieſer Richtung haben ſchon um die Mitte des vorigen Jahres die beiden reußiſchen Freiſtaaten gemacht, indem ſie ſich zu einem Volksſtaate Reuß mit der Hauptſtadt Gera zuſammenſchloſſen. Hier ſchien ein Kriſtalliſationspunkt gegeben, der zunächſt auf das durch Gemeinſamkeit vieler Intereſſen mit Reuß eng- verbundene Altenburg eine ſtarke Anziehungskraft ausüben konnte. Unterbrochen und abgebrochen wurde dieſe Ent- wicklung jedoch durch das Dazwiſchentreten des großthürtn- giſchen Projektes, das die Schaffung eines thüringiſchen Staatsweſens unter Einbeziehung recht bedeutender preußi- ſcher Gebietsteile vorſah, eines Staatsweſens, deſſen wirt- ſchaftlichen und politiſchen Mittelpunkt das preußiſche Er- furt gebildet hätte, das auch als Hauptſtadt des neuen Ge- bildes gedacht war. Die Ausführung dieſes Planes wurde von ſeiten der thüringiſchen Staatsmänner nicht ungeſchickt angeſetzt, ſie ſcheiterte aber an dem lebhaften Widerſtand, der jeder Abtretung preußiſcher Gebiete einmal vom preußi- ſchen Miniſterium des Innern, dann aber auch und in ganz beſonderem Maße von den Provinzialbehörden und der Be- völkerung Erfurts und ſeines Regierungsbezirkes ausging. Die thüringiſchen Politiker, an ihrer Spitze der weimariſche Miniſter Paulſſen und der reußiſche Staatsminiſter Freiherr v. Brandſtein, waren einſichtsvoll genug, Unmögliches bei- zeiten als unmöglich erkennend, ſich nähere, leichter erreich- bare Ziele zu ſtecken. Die Idec „Großthüringen“ verſchwand in der Verſenkung, dafür wurde der nicht als Stückwerk und Ueberbleibſel des alten zu wertende, ſondern organiſch neue Plan entworfen, einen Staat „Geſamtthüringen“ zu ſchaffen, der alle thüringiſchen Länder ohne Einbeziehung preußiſcher Gebietsteile umfaſſen ſollte. Vorſichtige Prüfung ergab, daß auch dieſes kleinere Staatsweſen ein durchaus lebensfähiges Gebilde abgeben, daß es finanziell ſogar in mancher Hinſicht recht günſtig daſtehen werde. Nach man- cherlei Vorbereitungen, von denen die große Oeffentlichkeit wenig erfahren hat, die aber darum nicht minder ſorgſame und gründliche Arbeit erforderten, trat im Dezember im alten Landtagshaus zu Weimar der erſte gemeinſchaftliche Volksrat von Geſamtthüringen zuſammen, deſſen Aufgabe es iſt, dem neuen Staatsweſen Form und Verfaſſung zu geben. Die Geburtsſtunde des Landes Thüringen mit der Haupt- ſtadt Weimar iſt nicht mehr fern. Koburg hat bekanntlich den Entſchluß gefaßt, dem neuen mitteldeutſchen Staate fernzubleiben und ſich Bayern anzu- gliedern; ſein Anſchluß an die bayeriſche Republik iſt bereits Tatſache geworden. Dieſe Lostrennung kam denen, die thü- ringiſche Verhältniſſe kannten und die Entwicklung der Dinge in den letzten Monaten verfolgt hatten, nicht über- raſchend. Auch der Freiſtaat Meiningen war einige Zeit im Zweifel, welcher Seite er ſich zuwenden ſollte, bis um die Jahreswende das Meiningenſche Jawort für Thüringen beim Staatsrat und Volksrat in Weimar abgegeben wurde. Das Verdienſt, die Abſplitterung dieſes größten thüringiſchen Einzellandes verhindert zu haben, gebührt in erſter Linie den ſchon genannten beiden Miniſtern, die ſich als Inſpira- toren und Motoren der geſamtthüringiſchen Bewegung un- vergängliche Verdienſte erworben haben. Die große Ruhe, Mäßigung und Beſonnenheit Paulſſens und die radikalere Art des Freiherrn v. Brandenſtein haben ſich hier bei einem löblichen Werk par excellence in glücklichſter Weiſe er- gänzt. In Herrn Paulſſen hat Thüringen wohl — dieſer Er- wartung und Hoffnung darf ſchon heute Ausdruck verliehen werden — den erſten Miniſterpräſidenten des neuen Gemein- ſchaftsſtaates zu erblicken. II. Bolſchewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links in Weimar? Sowjetherrſchaft in Gotha, Räterepublik in Reuß? Der an Ort und Stelle Geweſene antwortet darauf mit einem immerhin beruhigenden: So weit iſt es nicht ge- kommen. Zum mindeſten noch nicht. Hohe Reichsſtellen haben das Recht, vielleicht ſogar die Pflicht, ſehr optimiſtiſch zu ſein, ſonſt hielten ſie’s auf der windigen Höhe nicht aus. Die Geſtalt eines Noske iſt ohne ſtarknervigen, auf die Spitze getriebenen Optimismus un- denkbar. Hohe Reichsſtellen wiſſen nichts vom Bolſchemis- mus in Deutſchland, wollen nichts von ihm wiſſen, lehnen ihn ab. Wie ſagte Friedrich Frekſa ſo ſchön im „Phosphor“: „Herrſcht der Bolſchewiſt durch’s Land hin, Müllern ſetzt er nicht in Trab, Lehnt er Müllern an die Wand hin, Lehnt ihn Müller einfach ab!“ Wir ſind keine hohe Reichsſtelle und haben das Recht, einen Grad weniger optimiſtiſch zu ſein. Aber auch zu über- triebenem Peſſimismus liegt, wenigſtens im Falle Thürin- gen, kein Grund vor. Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren ſchon vor den Märzereigniſſen dieſes Jahres die Induſtrie- ſtädte Gotha und Gera. Dort haben nämlich die Leute der U. S. P. D. die Regierungsgewalt in der Hand. Ja — aber ſie regieren wirklich, das heißt ſie haben nicht etwa eine Schreckensherrſchaft von der Art der des Räubers Hölz im ſächſiſchen Vogtland aufgerichtet, ſondern ſie zeigen Ver- nunft, Mäßigung, Ordnungswillen. So war es vor dem Kappiſtenputſch. Man konnte zufrieden ſein. Nach den unruhigen Märztagen dieſes Jahres hatte es allerdings eine Zeitlang den Anſchein, als ſollte die oberſte Gewalt in Gotha und Gera ganz den verfaſſungs- mäßigen Regierungen der beiden kleinen Länder entgleiten und in die Hände linksradikaler Aktionsausſchüſſe über- gehen. In Gotha, wo die Lage wenig Gefahr für beſondere Verwicklungen bot, wurde dem durch eine rechtzeitig ein- rückende Reichswehrbeſatzung vorgebeugt, in Gero ſchien dieſes einfache Hilfsmittel nicht wohl anwendbar, da hier auf den ſchnell vorübergegangenen, temperamentvoll ein- geleiteten, aber höchſt ungeſchickt durchgeführten Kappiſten- putſch eine ſehr lebhafte und nachhaltige Gegenwirkung ge- folgt war. Die geſamte Arbeiterſchaft ſtand unter den Waffen, wachſam bis aufs äußerſte und zur Verteidigung ihrer neuerrungenen, gegen die Aufrührer ſiegreich behaupteten revolutionären Freiheit gegen jeden Angriff oder auch nur Schein eines Angriffes feſt entſchloſſen. Eine Annäherung irgendwelcher Truppen hätte den bewaffneten Widerſtand der gut organiſierten und diſziplinierten Arbeiterwehren in Reuß, Altenburg und darüber hinaus ausgelöſt und das Leben der aus den Tagen des Kappiſtenputſches verhaf- teten, zum großen Teil ſehr harmloſen Bürger und Zeit- freiwilligen, die der Aktionsausſchuß eingeſtandenermaßen noch als Geiſeln feſthielt, in ſchwerſte Gefahr gebracht. Hier mußte anders verfahren werden. Feſtſtellungen von Vertretern des Reiches in Gera ergaben, daß eine ſchnelle Konſolidation der Lage erwartet werden durfte, eine Kon- ſolidation im Sinne einer allmählichen Ausſchaltung des Aktionsausſchuſſes und damit eine Wiederherſtellung ver- faſſungsmäßiger Verhältniſſe, wenn man die Reußen ſich ſelbſt überließ und keinen Eingriff von außen unternahm. Der Staatsrat in Gera unter dem Freiherrn v. Branden- ſtein und der ordnungsmäßig aus Wahlen hervorgegangene, in den Märztagen vorübergehend etwas an die Wand ge-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 20, 23. Mai 1920, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine20_1920/3>, abgerufen am 27.11.2024.