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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920.

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16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] darf man daran erinnern, daß länger als 11/2 Jahrzehnte das
Zentrum unter Wacker Sozialdemokraten wählte und gemeinsam
mit ihnen im Landtag Opposition machte. Das Zentrum weiß,
daß es sich auf die Landbevölkerung und die Arbeiter verlassen
kann und auch das katholische städtische Bürgertum hat politische
Dißiplin genug, um nicht verärgert aus den Reihen zu laufen.
Schärfer als je betont das Zentrum das Weltanschauungs-
mäßige seines Standpunkts und da ist für die Katholiken noch
auf lange hinaus der Punkt, wo sie einig sind.

Eine scharfe Zeitungs- und Versammlungspolemik hat
zwischen Zentrum und Deutschnationalen eingesetzt.
Das Schauspiel ist nicht erbaulich. Denn Ehrlichkeit und Sach-
lichkeit sind nicht die Leitmotive dieser Auseinandersetzungen.
Besonders auf seiten der Deutschnationalen werden vergiftete
Pfeile geschnellt. Das macht die Zentrumspresse manchmal
nervös, so daß sie in der Abwehr oft nicht das ruhige Gleich-
maß bewahrt, das gegenüber journalistischen Klopffechtereien an-
gebracht ist. Die deutschnationale Partei kämpft um
ihr Leben. Denn wenn die wiedererstandene national-
liberale
Partei ihre Sache energisch in die Hand nimmt, so
ist unbedingt damit zu rechnen, daß den Deutschnationalen
Tausende von Wählern verlorengehen, die bei den letzten
Nationalversammlungswahlen für sie gestimmt haben. Erwägt
man noch, daß die der demokratischen Partei entzogenen
Elemente nicht den Deutschnationalen, sondern der Deutschen
Volkspartei zufallen, so hat man allerdings damit zu rechnen,
daß die altnationalliberale Partei wieder ein gebietender Faktor
im politischen Leben werden kann. Das aber bedeutet den
Niedergang der deutschnationalen Partei, die dann lediglich auf
die früheren konservativen und antisemitischen Wähler an-
gewiesen ist.

Für diese besteht die Gefahr der Sonderbündelei der Agrarier.
Dem Zentrum ist es gelungen, die agrarischen Absplitterungen
seiner Kreise zu unterbinden. Sowohl der "Fall Toberer" --
Toberer, ein aus Amerika zugewanderter Fanatiker, Separatist
und Adventist, der die Bauern des Oberlandes agrarsozialistisch
aufreizte -- ist erledigt, wie auch die Gründung einer eigenen
Bauernpartei auf katholischer Unterlage. Nicht ganz beseitigt ist
aber die Gefahr auf der Seite der evangelischen Bauern.
Hier gibt es ein paar kuriose Rechtsanwälte, die gar zu gerne
in den Reichstag möchten und deshalb am liebsten die Bauern
unter einen besonderen Hut brächten. Es sind Verhandlungen im
Gange, die diese Gefahr für die Deutschnationalen beseitigen
sollen.

Bei den Sozialdemokraten geht der Zwist weiter.
Mehrheitssozialisten und Kommunisten bekämpfen sich wüst und
hartnäckig. Tatsache ist, daß die Radikalen auch hier, wie ander-
wärts, Fortschritte machen. Es muß mit einem bedeutenden An-
schwellen der radikalen Stimmen gerechnet werden. Ob diese, die
sich in Unabhängige, Spartakisten und Kommunisten spalten, auf
eine Liste zusammengehen, weiß man nicht gewiß; doch wird
das Zusammengehen angenommen.

So ist die Gesamtlage nicht erfreulich. Das Bürgertum ge-
spalten, sich mit Beschimpfungen und wüster Agitation be-
fehdend --, zwischen allen der antisemitische Keil und nirgends
ein Verständnis dafür, daß wir Positives schaffen müssen,
wenn wir des Furchtbaren Herr werden wollen, das aus dem
Vertrag von Versailles heranwächst. Die Parteileidenschaft ist
eben ein schlechter Berater. Dazu kommt, daß fähige Männer von
staatsmännischem Blick -- es sind deren nicht viele -- sich "auf-
sparen", um gegebenenfalls an einflußreichen Stellen auswärtiger
Politik Verwendung zu finden. Es fehlt durchgängig der rück-
haltlose Idealismus
, der allein fähig ist, große Auf-
gaben zu erfüllen.



Dr. Alfred Oehlke: 100 Jahre Breslauer
Zeitung.

Im Jahre nach den Karlsbader Entschlüssen entstanden,
hat die Breslauer Zeitung am 1. Januar 1920 ihren
hundertsten Geburtstag begehen können -- zu Anfang wie
am Ende also schwere und böse Zeit für die Presse. Nicht
als ob eine Aera bornierter Knebelung des Wortes wieder-
[Spaltenumbruch] gekehrt wäre. Zeigt die Praxis allerlei unliebsame Zwischen-
und Rückfälle und erleben wir im Zeichen des Volksstaates
nicht nur eine erheblich größere Zahl von Zeitungsverboten,
als sie der Obrigkeitsstaat gekannt hat, so erfreuen wir
uns doch grundsätzlich der uneingeschränktesten Pressefreiheit
in gewerberechtlicher wie in geistiger Beziehung. Aber was
hilft der Zeitung die Freiheit, wenn sie kein Papier hat
oder es nicht bezahlen kann und was hilft dem Publikum
die schönste Zeitung, wenn die Träger oder gar die Post
streiken! Und doch -- was zwischen diesen Marksteinen
liegt, dieses Jahrhundert voll Arbeit und Erfolg, voll
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gibt im ganzen doch ein so herzerhebendes Bild deutschen
Lebens, deutscher Gedankenarbeit und fortschreitenden
deutschen Ideenkampfes, daß man die durchwanderte Weg-
strecke mit der neugefestigten Ueberzeugung abschließt: Die
deutsche Geschichte mag sich in stärker gewundenen Spiralen
bewegen als die irgendeines anderen großen Volkes, auf-
wärts geht sie doch!

Die Breslauer Zeitung ist, wie sich nach dem eingangs
Gesagten von selbst versteht, nicht als die [Bannerträgerin] des
entschiedenen Liberalismus ins Leben getreten, als die sie
seit vielen Jahrzehnten gilt. Die endgültige politische
Standpunktnahme erfolgt vielmehr erst im Jahre 1859 mit
der Uebernahme des Verlages durch Eduard Trewendt. In
den ersten Jahrzehnten war sie konservativ im Gegensatz
zu der damals liberalen Schlesischen Zeitung. Die politische
Richtung des Blattes hat aber zu Anfang keine große Rolle
gespielt. Dieser Anfang steht vielmehr im Zeichen des
Theaters. Sowohl der Gründer und erste Leiter Karl
Schall wie sein Nachfolger, der geistvolle Abenteurer und
Karlist Eugen Baron von Vaerst, standen in sehr nahen
persönlichen Beziehungen zum Theaterleben als Literat
und Theaterkritiker, Kunst- und Künstlerinnenfreund, der
zweite sogar als Erbauer und Leiter des neuen Theaters.
Die Tharakterbilder dieser beiden Männer sind ein über-
aus dankbarer Gegenstand für die nachzeichnende Künstler-
hand und Dr. Alfred Oehlke hat sich dieser Aufgabe mit
glänzendem Gelingen angenommen. Bei aller Wahrhaftig-
keit, die sein Jubiläumswerk von Anfang bis Ende durch-
dringt und ausfüllt, waltet er in diesem Teil seines
Historikeramtes mit sichtlicher Liebe und mit köstlichem
Humor. Man wird nicht leicht eine Zeitungsgeschichte fin-
den, die so ergötzliche Kapitel aufweist.

Schall, von dem Goethe als einem geistreichen Manne
spricht, war eine "Mischung von Fettleibigkeit und Grazie",
eine richtige Fallstaff-Figur, die aber auch im Alter den
Breslauer Ballkönig der jungen Jahre nicht verleugnet
und sichs getrauen kann, einigen scharf kritisierten Tän-
zerinnen im Schlafrock ein Menuett vorzutragen; zugleich
aber ein Mann, dessen redaktionelle Sprechstunde das Stell-
dichein aller Welt von Bildung und feiner Lebensart war.
Seine Persönlichkeit schien den Breslauer Regierungsbehör-
den keineswegs die erforderlichen Bürgschaften für die
Uebertragung einer Zeitungskonzession zu bieten, und in
der Tat brachte ihn sein Epikureertum in ewige Geldver-
legenheiten, aber er hatte zahlreiche Freunde, die sich durch
seine Absonderlichkeiten in ihrer treuen Anhänglichkeit nicht
beirren ließen, und der Fürsprache eines dieser Freunde bei
dem allmächtigen Staatskanzler v. Hardenberg verdankte er
auch die Erteilung der Konzession. Auch der Baron v. Vaerst,
den Schall im Jahre 1825 als Mitbesitzer und Mitredakteur
aufnahm und in dessen alleinigen Besitz die Zeitung 1833
mit Schalls Tode überging, war ein Genußmensch und
Schall als solcher seelenverwandt; dabei aber in höherem
Grade Kavalier und im Gegensatz zu manchen plebejischen
Zügen Schalls Aristokrat. Er hatte die entlegensten und
gefährlichsten Gegenden Europas durchreist, und die Reise-
lust blieb ihm auch im Blute, als er an der Spitze der
Breslauer Zeitung stand. So hielt er sich 1838 längere Zeit
im Hauptquartier des spanischen Thronprätendenten auf
und schrieb seiner Zeitung von dort aus Kriegsberichte, die
heute noch den Wert einer Geschichtsquelle haben; den Nie-
derschlag einer späteren Reise bildete ein zweibändiges

16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] darf man daran erinnern, daß länger als 1½ Jahrzehnte das
Zentrum unter Wacker Sozialdemokraten wählte und gemeinſam
mit ihnen im Landtag Oppoſition machte. Das Zentrum weiß,
daß es ſich auf die Landbevölkerung und die Arbeiter verlaſſen
kann und auch das katholiſche ſtädtiſche Bürgertum hat politiſche
Diſziplin genug, um nicht verärgert aus den Reihen zu laufen.
Schärfer als je betont das Zentrum das Weltanſchauungs-
mäßige ſeines Standpunkts und da iſt für die Katholiken noch
auf lange hinaus der Punkt, wo ſie einig ſind.

Eine ſcharfe Zeitungs- und Verſammlungspolemik hat
zwiſchen Zentrum und Deutſchnationalen eingeſetzt.
Das Schauſpiel iſt nicht erbaulich. Denn Ehrlichkeit und Sach-
lichkeit ſind nicht die Leitmotive dieſer Auseinanderſetzungen.
Beſonders auf ſeiten der Deutſchnationalen werden vergiftete
Pfeile geſchnellt. Das macht die Zentrumspreſſe manchmal
nervös, ſo daß ſie in der Abwehr oft nicht das ruhige Gleich-
maß bewahrt, das gegenüber journaliſtiſchen Klopffechtereien an-
gebracht iſt. Die deutſchnationale Partei kämpft um
ihr Leben. Denn wenn die wiedererſtandene national-
liberale
Partei ihre Sache energiſch in die Hand nimmt, ſo
iſt unbedingt damit zu rechnen, daß den Deutſchnationalen
Tauſende von Wählern verlorengehen, die bei den letzten
Nationalverſammlungswahlen für ſie geſtimmt haben. Erwägt
man noch, daß die der demokratiſchen Partei entzogenen
Elemente nicht den Deutſchnationalen, ſondern der Deutſchen
Volkspartei zufallen, ſo hat man allerdings damit zu rechnen,
daß die altnationalliberale Partei wieder ein gebietender Faktor
im politiſchen Leben werden kann. Das aber bedeutet den
Niedergang der deutſchnationalen Partei, die dann lediglich auf
die früheren konſervativen und antiſemitiſchen Wähler an-
gewieſen iſt.

Für dieſe beſteht die Gefahr der Sonderbündelei der Agrarier.
Dem Zentrum iſt es gelungen, die agrariſchen Abſplitterungen
ſeiner Kreiſe zu unterbinden. Sowohl der „Fall Toberer“ —
Toberer, ein aus Amerika zugewanderter Fanatiker, Separatiſt
und Adventiſt, der die Bauern des Oberlandes agrarſozialiſtiſch
aufreizte — iſt erledigt, wie auch die Gründung einer eigenen
Bauernpartei auf katholiſcher Unterlage. Nicht ganz beſeitigt iſt
aber die Gefahr auf der Seite der evangeliſchen Bauern.
Hier gibt es ein paar kurioſe Rechtsanwälte, die gar zu gerne
in den Reichstag möchten und deshalb am liebſten die Bauern
unter einen beſonderen Hut brächten. Es ſind Verhandlungen im
Gange, die dieſe Gefahr für die Deutſchnationalen beſeitigen
ſollen.

Bei den Sozialdemokraten geht der Zwiſt weiter.
Mehrheitsſozialiſten und Kommuniſten bekämpfen ſich wüſt und
hartnäckig. Tatſache iſt, daß die Radikalen auch hier, wie ander-
wärts, Fortſchritte machen. Es muß mit einem bedeutenden An-
ſchwellen der radikalen Stimmen gerechnet werden. Ob dieſe, die
ſich in Unabhängige, Spartakiſten und Kommuniſten ſpalten, auf
eine Liſte zuſammengehen, weiß man nicht gewiß; doch wird
das Zuſammengehen angenommen.

So iſt die Geſamtlage nicht erfreulich. Das Bürgertum ge-
ſpalten, ſich mit Beſchimpfungen und wüſter Agitation be-
fehdend —, zwiſchen allen der antiſemitiſche Keil und nirgends
ein Verſtändnis dafür, daß wir Poſitives ſchaffen müſſen,
wenn wir des Furchtbaren Herr werden wollen, das aus dem
Vertrag von Verſailles heranwächſt. Die Parteileidenſchaft iſt
eben ein ſchlechter Berater. Dazu kommt, daß fähige Männer von
ſtaatsmänniſchem Blick — es ſind deren nicht viele — ſich „auf-
ſparen“, um gegebenenfalls an einflußreichen Stellen auswärtiger
Politik Verwendung zu finden. Es fehlt durchgängig der rück-
haltloſe Idealismus
, der allein fähig iſt, große Auf-
gaben zu erfüllen.



Dr. Alfred Oehlke: 100 Jahre Breslauer
Zeitung.

Im Jahre nach den Karlsbader Entſchlüſſen entſtanden,
hat die Breslauer Zeitung am 1. Januar 1920 ihren
hundertſten Geburtstag begehen können — zu Anfang wie
am Ende alſo ſchwere und böſe Zeit für die Preſſe. Nicht
als ob eine Aera bornierter Knebelung des Wortes wieder-
[Spaltenumbruch] gekehrt wäre. Zeigt die Praxis allerlei unliebſame Zwiſchen-
und Rückfälle und erleben wir im Zeichen des Volksſtaates
nicht nur eine erheblich größere Zahl von Zeitungsverboten,
als ſie der Obrigkeitsſtaat gekannt hat, ſo erfreuen wir
uns doch grundſätzlich der uneingeſchränkteſten Preſſefreiheit
in gewerberechtlicher wie in geiſtiger Beziehung. Aber was
hilft der Zeitung die Freiheit, wenn ſie kein Papier hat
oder es nicht bezahlen kann und was hilft dem Publikum
die ſchönſte Zeitung, wenn die Träger oder gar die Poſt
ſtreiken! Und doch — was zwiſchen dieſen Markſteinen
liegt, dieſes Jahrhundert voll Arbeit und Erfolg, voll
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gibt im ganzen doch ein ſo herzerhebendes Bild deutſchen
Lebens, deutſcher Gedankenarbeit und fortſchreitenden
deutſchen Ideenkampfes, daß man die durchwanderte Weg-
ſtrecke mit der neugefeſtigten Ueberzeugung abſchließt: Die
deutſche Geſchichte mag ſich in ſtärker gewundenen Spiralen
bewegen als die irgendeines anderen großen Volkes, auf-
wärts geht ſie doch!

Die Breslauer Zeitung iſt, wie ſich nach dem eingangs
Geſagten von ſelbſt verſteht, nicht als die [Bannerträgerin] des
entſchiedenen Liberalismus ins Leben getreten, als die ſie
ſeit vielen Jahrzehnten gilt. Die endgültige politiſche
Standpunktnahme erfolgt vielmehr erſt im Jahre 1859 mit
der Uebernahme des Verlages durch Eduard Trewendt. In
den erſten Jahrzehnten war ſie konſervativ im Gegenſatz
zu der damals liberalen Schleſiſchen Zeitung. Die politiſche
Richtung des Blattes hat aber zu Anfang keine große Rolle
geſpielt. Dieſer Anfang ſteht vielmehr im Zeichen des
Theaters. Sowohl der Gründer und erſte Leiter Karl
Schall wie ſein Nachfolger, der geiſtvolle Abenteurer und
Karliſt Eugen Baron von Vaerſt, ſtanden in ſehr nahen
perſönlichen Beziehungen zum Theaterleben als Literat
und Theaterkritiker, Kunſt- und Künſtlerinnenfreund, der
zweite ſogar als Erbauer und Leiter des neuen Theaters.
Die Tharakterbilder dieſer beiden Männer ſind ein über-
aus dankbarer Gegenſtand für die nachzeichnende Künſtler-
hand und Dr. Alfred Oehlke hat ſich dieſer Aufgabe mit
glänzendem Gelingen angenommen. Bei aller Wahrhaftig-
keit, die ſein Jubiläumswerk von Anfang bis Ende durch-
dringt und ausfüllt, waltet er in dieſem Teil ſeines
Hiſtorikeramtes mit ſichtlicher Liebe und mit köſtlichem
Humor. Man wird nicht leicht eine Zeitungsgeſchichte fin-
den, die ſo ergötzliche Kapitel aufweiſt.

Schall, von dem Goethe als einem geiſtreichen Manne
ſpricht, war eine „Miſchung von Fettleibigkeit und Grazie“,
eine richtige Fallſtaff-Figur, die aber auch im Alter den
Breslauer Ballkönig der jungen Jahre nicht verleugnet
und ſichs getrauen kann, einigen ſcharf kritiſierten Tän-
zerinnen im Schlafrock ein Menuett vorzutragen; zugleich
aber ein Mann, deſſen redaktionelle Sprechſtunde das Stell-
dichein aller Welt von Bildung und feiner Lebensart war.
Seine Perſönlichkeit ſchien den Breslauer Regierungsbehör-
den keineswegs die erforderlichen Bürgſchaften für die
Uebertragung einer Zeitungskonzeſſion zu bieten, und in
der Tat brachte ihn ſein Epikureertum in ewige Geldver-
legenheiten, aber er hatte zahlreiche Freunde, die ſich durch
ſeine Abſonderlichkeiten in ihrer treuen Anhänglichkeit nicht
beirren ließen, und der Fürſprache eines dieſer Freunde bei
dem allmächtigen Staatskanzler v. Hardenberg verdankte er
auch die Erteilung der Konzeſſion. Auch der Baron v. Vaerſt,
den Schall im Jahre 1825 als Mitbeſitzer und Mitredakteur
aufnahm und in deſſen alleinigen Beſitz die Zeitung 1833
mit Schalls Tode überging, war ein Genußmenſch und
Schall als ſolcher ſeelenverwandt; dabei aber in höherem
Grade Kavalier und im Gegenſatz zu manchen plebejiſchen
Zügen Schalls Ariſtokrat. Er hatte die entlegenſten und
gefährlichſten Gegenden Europas durchreiſt, und die Reiſe-
luſt blieb ihm auch im Blute, als er an der Spitze der
Breslauer Zeitung ſtand. So hielt er ſich 1838 längere Zeit
im Hauptquartier des ſpaniſchen Thronprätendenten auf
und ſchrieb ſeiner Zeitung von dort aus Kriegsberichte, die
heute noch den Wert einer Geſchichtsquelle haben; den Nie-
derſchlag einer ſpäteren Reiſe bildete ein zweibändiges

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[183/0005] 16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung darf man daran erinnern, daß länger als 1½ Jahrzehnte das Zentrum unter Wacker Sozialdemokraten wählte und gemeinſam mit ihnen im Landtag Oppoſition machte. Das Zentrum weiß, daß es ſich auf die Landbevölkerung und die Arbeiter verlaſſen kann und auch das katholiſche ſtädtiſche Bürgertum hat politiſche Diſziplin genug, um nicht verärgert aus den Reihen zu laufen. Schärfer als je betont das Zentrum das Weltanſchauungs- mäßige ſeines Standpunkts und da iſt für die Katholiken noch auf lange hinaus der Punkt, wo ſie einig ſind. Eine ſcharfe Zeitungs- und Verſammlungspolemik hat zwiſchen Zentrum und Deutſchnationalen eingeſetzt. Das Schauſpiel iſt nicht erbaulich. Denn Ehrlichkeit und Sach- lichkeit ſind nicht die Leitmotive dieſer Auseinanderſetzungen. Beſonders auf ſeiten der Deutſchnationalen werden vergiftete Pfeile geſchnellt. Das macht die Zentrumspreſſe manchmal nervös, ſo daß ſie in der Abwehr oft nicht das ruhige Gleich- maß bewahrt, das gegenüber journaliſtiſchen Klopffechtereien an- gebracht iſt. Die deutſchnationale Partei kämpft um ihr Leben. Denn wenn die wiedererſtandene national- liberale Partei ihre Sache energiſch in die Hand nimmt, ſo iſt unbedingt damit zu rechnen, daß den Deutſchnationalen Tauſende von Wählern verlorengehen, die bei den letzten Nationalverſammlungswahlen für ſie geſtimmt haben. Erwägt man noch, daß die der demokratiſchen Partei entzogenen Elemente nicht den Deutſchnationalen, ſondern der Deutſchen Volkspartei zufallen, ſo hat man allerdings damit zu rechnen, daß die altnationalliberale Partei wieder ein gebietender Faktor im politiſchen Leben werden kann. Das aber bedeutet den Niedergang der deutſchnationalen Partei, die dann lediglich auf die früheren konſervativen und antiſemitiſchen Wähler an- gewieſen iſt. Für dieſe beſteht die Gefahr der Sonderbündelei der Agrarier. Dem Zentrum iſt es gelungen, die agrariſchen Abſplitterungen ſeiner Kreiſe zu unterbinden. Sowohl der „Fall Toberer“ — Toberer, ein aus Amerika zugewanderter Fanatiker, Separatiſt und Adventiſt, der die Bauern des Oberlandes agrarſozialiſtiſch aufreizte — iſt erledigt, wie auch die Gründung einer eigenen Bauernpartei auf katholiſcher Unterlage. Nicht ganz beſeitigt iſt aber die Gefahr auf der Seite der evangeliſchen Bauern. Hier gibt es ein paar kurioſe Rechtsanwälte, die gar zu gerne in den Reichstag möchten und deshalb am liebſten die Bauern unter einen beſonderen Hut brächten. Es ſind Verhandlungen im Gange, die dieſe Gefahr für die Deutſchnationalen beſeitigen ſollen. Bei den Sozialdemokraten geht der Zwiſt weiter. Mehrheitsſozialiſten und Kommuniſten bekämpfen ſich wüſt und hartnäckig. Tatſache iſt, daß die Radikalen auch hier, wie ander- wärts, Fortſchritte machen. Es muß mit einem bedeutenden An- ſchwellen der radikalen Stimmen gerechnet werden. Ob dieſe, die ſich in Unabhängige, Spartakiſten und Kommuniſten ſpalten, auf eine Liſte zuſammengehen, weiß man nicht gewiß; doch wird das Zuſammengehen angenommen. So iſt die Geſamtlage nicht erfreulich. Das Bürgertum ge- ſpalten, ſich mit Beſchimpfungen und wüſter Agitation be- fehdend —, zwiſchen allen der antiſemitiſche Keil und nirgends ein Verſtändnis dafür, daß wir Poſitives ſchaffen müſſen, wenn wir des Furchtbaren Herr werden wollen, das aus dem Vertrag von Verſailles heranwächſt. Die Parteileidenſchaft iſt eben ein ſchlechter Berater. Dazu kommt, daß fähige Männer von ſtaatsmänniſchem Blick — es ſind deren nicht viele — ſich „auf- ſparen“, um gegebenenfalls an einflußreichen Stellen auswärtiger Politik Verwendung zu finden. Es fehlt durchgängig der rück- haltloſe Idealismus, der allein fähig iſt, große Auf- gaben zu erfüllen. rr Dr. Alfred Oehlke: 100 Jahre Breslauer Zeitung. Im Jahre nach den Karlsbader Entſchlüſſen entſtanden, hat die Breslauer Zeitung am 1. Januar 1920 ihren hundertſten Geburtstag begehen können — zu Anfang wie am Ende alſo ſchwere und böſe Zeit für die Preſſe. Nicht als ob eine Aera bornierter Knebelung des Wortes wieder- gekehrt wäre. Zeigt die Praxis allerlei unliebſame Zwiſchen- und Rückfälle und erleben wir im Zeichen des Volksſtaates nicht nur eine erheblich größere Zahl von Zeitungsverboten, als ſie der Obrigkeitsſtaat gekannt hat, ſo erfreuen wir uns doch grundſätzlich der uneingeſchränkteſten Preſſefreiheit in gewerberechtlicher wie in geiſtiger Beziehung. Aber was hilft der Zeitung die Freiheit, wenn ſie kein Papier hat oder es nicht bezahlen kann und was hilft dem Publikum die ſchönſte Zeitung, wenn die Träger oder gar die Poſt ſtreiken! Und doch — was zwiſchen dieſen Markſteinen liegt, dieſes Jahrhundert voll Arbeit und Erfolg, voll Kampf und Sieg, voll Rückſchlag und Wiederaufſchwung gibt im ganzen doch ein ſo herzerhebendes Bild deutſchen Lebens, deutſcher Gedankenarbeit und fortſchreitenden deutſchen Ideenkampfes, daß man die durchwanderte Weg- ſtrecke mit der neugefeſtigten Ueberzeugung abſchließt: Die deutſche Geſchichte mag ſich in ſtärker gewundenen Spiralen bewegen als die irgendeines anderen großen Volkes, auf- wärts geht ſie doch! Die Breslauer Zeitung iſt, wie ſich nach dem eingangs Geſagten von ſelbſt verſteht, nicht als die Bannerträgerin des entſchiedenen Liberalismus ins Leben getreten, als die ſie ſeit vielen Jahrzehnten gilt. Die endgültige politiſche Standpunktnahme erfolgt vielmehr erſt im Jahre 1859 mit der Uebernahme des Verlages durch Eduard Trewendt. In den erſten Jahrzehnten war ſie konſervativ im Gegenſatz zu der damals liberalen Schleſiſchen Zeitung. Die politiſche Richtung des Blattes hat aber zu Anfang keine große Rolle geſpielt. Dieſer Anfang ſteht vielmehr im Zeichen des Theaters. Sowohl der Gründer und erſte Leiter Karl Schall wie ſein Nachfolger, der geiſtvolle Abenteurer und Karliſt Eugen Baron von Vaerſt, ſtanden in ſehr nahen perſönlichen Beziehungen zum Theaterleben als Literat und Theaterkritiker, Kunſt- und Künſtlerinnenfreund, der zweite ſogar als Erbauer und Leiter des neuen Theaters. Die Tharakterbilder dieſer beiden Männer ſind ein über- aus dankbarer Gegenſtand für die nachzeichnende Künſtler- hand und Dr. Alfred Oehlke hat ſich dieſer Aufgabe mit glänzendem Gelingen angenommen. Bei aller Wahrhaftig- keit, die ſein Jubiläumswerk von Anfang bis Ende durch- dringt und ausfüllt, waltet er in dieſem Teil ſeines Hiſtorikeramtes mit ſichtlicher Liebe und mit köſtlichem Humor. Man wird nicht leicht eine Zeitungsgeſchichte fin- den, die ſo ergötzliche Kapitel aufweiſt. Schall, von dem Goethe als einem geiſtreichen Manne ſpricht, war eine „Miſchung von Fettleibigkeit und Grazie“, eine richtige Fallſtaff-Figur, die aber auch im Alter den Breslauer Ballkönig der jungen Jahre nicht verleugnet und ſichs getrauen kann, einigen ſcharf kritiſierten Tän- zerinnen im Schlafrock ein Menuett vorzutragen; zugleich aber ein Mann, deſſen redaktionelle Sprechſtunde das Stell- dichein aller Welt von Bildung und feiner Lebensart war. Seine Perſönlichkeit ſchien den Breslauer Regierungsbehör- den keineswegs die erforderlichen Bürgſchaften für die Uebertragung einer Zeitungskonzeſſion zu bieten, und in der Tat brachte ihn ſein Epikureertum in ewige Geldver- legenheiten, aber er hatte zahlreiche Freunde, die ſich durch ſeine Abſonderlichkeiten in ihrer treuen Anhänglichkeit nicht beirren ließen, und der Fürſprache eines dieſer Freunde bei dem allmächtigen Staatskanzler v. Hardenberg verdankte er auch die Erteilung der Konzeſſion. Auch der Baron v. Vaerſt, den Schall im Jahre 1825 als Mitbeſitzer und Mitredakteur aufnahm und in deſſen alleinigen Beſitz die Zeitung 1833 mit Schalls Tode überging, war ein Genußmenſch und Schall als ſolcher ſeelenverwandt; dabei aber in höherem Grade Kavalier und im Gegenſatz zu manchen plebejiſchen Zügen Schalls Ariſtokrat. Er hatte die entlegenſten und gefährlichſten Gegenden Europas durchreiſt, und die Reiſe- luſt blieb ihm auch im Blute, als er an der Spitze der Breslauer Zeitung ſtand. So hielt er ſich 1838 längere Zeit im Hauptquartier des ſpaniſchen Thronprätendenten auf und ſchrieb ſeiner Zeitung von dort aus Kriegsberichte, die heute noch den Wert einer Geſchichtsquelle haben; den Nie- derſchlag einer ſpäteren Reiſe bildete ein zweibändiges

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1920/5>, abgerufen am 21.11.2024.