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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 22. Januar 1929.

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"AZ am Abend" Nr. 18 Dienstag, den 22. Januar


Erscheinung gerührt oder zu rühren gewagt, der
darin gelegen ist, daß in Bayern, und selbstver-
ständlich in besonders konzentrierter Form in
seiner Landeshauptstadt, sich immer mehr die
selbstzufriedene Einseitigkeit und
Enge der konfessionellen Blickrich-
tung
in der unheilvollsten Weise auf das staat-
liche, kulturelle und auch wirtschaftliche Leben
unseres Volkes auswirkt während doch nur die
Aufgeschlossenheit einer duldsamen, fort-
schrittlichen Gesinnung
und die Unab-
hängigkeit eines zielbewußten Willens Grundlage
und Förderung für eine ersprießliche Entwicklung
aller Volks- und Staatsbelange sein können. Diese
Erkenntnis beschränkt sich nicht etwa nur auf
politisch und konfessionell freier gerichtete Kreise;
sie ist auch in weiten Kreisen unserer religlös
durchaus positiv eingestellten katholischen Intelli-
genz vorhanden. Aber was hilft es, diese Erkennt-
nis zu besitzen und die Fehlerquellen unseres der-
zeitigen Zustandes zu kennen, wenn niemand es
wagt, die notwendigen Folgerungen aus dieser
Erkenntnis zu ziehen und, verantwortungsbewußt
für die Zukunft, jenen Bestrebungen entgegenzu-
treten, die ihr eigenes Interesse immer dem All-
gemeininteresse vorauszusetzen pflegen, ohne sich
im geringsten darum zu kümmern, ob durch ihre
rücksichtslose Absonderungspolitik der Volksge-
meinschaft und dem Staate, die nur in einer
trennungsfeindlichen Gemeinsamkeit des Willens
und der Tat des Staatsvolkes bestehen können,
das Grab gegraben wird.



[irrelevantes Material]

Für jeden Staatsbürger und Abgeordneten,
dem die Volksgemeinschaft und die
Staatsidee als solche eine wesentliche
Voraussetzung ist für die Ueberwindung der gro-
ßen deutschen Not und der in der Staats-
schule eine unerläßliche Vorbedingung für diese
Volksgemeinschaft und den paritätischen Staat sicht,
muß in der Frage der Neuordnung der Lehrerbil-
dung die conditio sine qua non sein, daß die
Schule formell und materiell Staatsschule
und der Lehrer formell und materiell Staats-
beamter
bleibt. Niemand wird dagegen sein,
daß der Religionsunterricht und seine formelle
und materielle Gestaltung eine Sache der Kirchen
ist, für welche der Staat gerade in seiner grund-
sätzlichen Eigenschaft als paritätische volkliche
Lebensform volle Freiheit zugestehen kann und
muß. Deshalb ist es auch zu begrüßen, daß der
Bayerische Lehrerverein für die Ausbildung des
Lehrers auf religiösom Gebiet in der von ihm
mit Recht verlangten Aufbauschule als einer
simultanen Mittelschule und an der Unversität
den konfessionellen Forderungen der Kirchen in
jeder Beziehung Rechnung trägt. Die Meinung,
daß die auf solche Weise religiös gebildeten Leh-
rer das Vertrauen der Eltern auf eine gute reli-
giöse Unterweisung ihrer Kinder nicht verdienen,
wie dies von dem Herrn Kardinal in jener Ver-
sammlung so scharf betont wurde, geht mit ver-
bundenen Augen an der Tatsache vorüber, daß
ja auch die meisten Geistlichen der katholischen
Kirche schon immer durch das simultane humani-
stische Gymnasium, wie auch vorher durch den
Volksschulunterricht vieler liberaler Lehrer ge-
gangen sind, ohne daß sie dabei Schaden an Leib
und Seele gelitten hätten und ohne, daß es heute
irgend jemandem einfallen wollte, zu sagen, daß
diese zumeist auch allgemein hochgeachteten Geist-
lichen das Vertrauen der katholischen Gläubigen
nicht verdienen. Mit den akademisch gebildeten
Führern der Bayerischen Volkspartei und des
Zentrums, die auch meist durch bayerische Volks-
schulen gelaufen sind und alle diese für den "ech-
ten Glauben" so "gefährlichen" simultanen huma-
nistischen Gymnasien und Realgymnasien absol-
viert haben, ist es nicht anders.

Es darf wohl erwartet werden, daß der Herr
Kultusminister Gelegenheit nimmt, seinen
in der Volksschule als Lehrer tätigen Staats-
beamten das uneingeschränkte Zeugnis auszu-
stellen, daß durch ihre Lehrtätigkeit bisher weder
dem Unglauben Tür und Tor geöffnet worden ist,
noch auch das Gegenteil von Sittlichkeit. Wahr-
haftigkeit, Opferbereitschaft und Nächstenliebe an-
erzogen worden ist, auch wenn die bayerischen
Lehrer dem Bayerischen Lehrerverein, oder wie
der Herr Kardinal zu sagen beliebte, dem "libe-
ralen
" Lehrerverein angehören, was wohl für
mehr denn 98 Prozent der bayerischen Volks-
schullehrerschaft der Fall sein dürfte. Nicht minder
ist wohl es auch eine Ehrenpflicht der Land-
tagsparteien
, die dem Herrn Kardinal in
seinem Kampfe gagen Staatsschule, Lehrerbildung
und Bayerischen Lehrerverein Gefolgschaft zu lei-
sten nicht willens sind, den bayerischen Volks-
schullehrern bezüglich ihrer beruflichen Tätigkeit
und ihrer pädagogisch wohl begründeten und
wertvollen Bestrebungen auf einen fortschrittlichen
Ausbau der Volksschule die öffentliche Anerken-
nung auszusprechen, auf die an und für sich schon
jeder loyale Staatsbürger und Staatsbeamte grund-
sätzlich Anspruch hat, der der Volksgesamtheit und
dem Staatswohl dienen will. Die große Mehrheit
des bayerischen Volkes das doch auch weiß, wie
es in den bayerischen Volksschulen zugeht, wird
sich ohne Einschränkung einer solchen Anerken-
nung anschließen.

Ueber den bayerischen Volksschullehrern, die
mit ihren Bildungsbeamten-Kollegen der bayeri-
schen Mitteldchulen und Universitäten den Schop-
fern des "Stille Nacht -- heilige Nacht"-Liedes
einem katholischen Geistlichen und einem katho-
lischen Lehrer, ein von Priesterkünstlerhand mo-
delliertes wunderbares Denkmal errichteten und
damit bekannt haben, daß ihnen das in diesem
unsterblichen Liede poetisch verklärte Christentum
wahre Herzenssache ist, sollte sich eher die segnende
Bischofshand erheben, als daß man sie unter dem
Beifallsgebrüll einer geistig sehr temperierten
Versammlung ungerechterweise dem Mißtrauen
der Eltern ihrer Schulkinder ausliefert. Justus.

[Spaltenumbruch]
Föderalismus in Oesterreich * Zentralismus
in Bayern
Vortrag des österreichischen Bundeskanzlers im Akademisch-Politischen Klub

Dem Vortrag des Bundeskanzlers Dr. Seipel
ging ein Herrenessen voraus, das die führenden
Persönlichkeiten des Münchner politischen Lebens
und zahlreiche Mitglieder des Akademisch-Poli-
tischen Klubs mit dem Bundeskanzler zusammen-
führte, und bei dem der Geschäftsträger des
Klubs, Referendar Robert von Keller, den
Kanzler herzlich, besonders im Namen der deut-
schen Jugend willkommen hieß.

Zu dem Vortrag selbst waren u. a. Kardinal
Faulhaber, Ministerpräsident Dr. Held,
Kultusminister Goldenberger, Justizminister
Gürtner, Landwirtschaftsminister Dr. Fehr
und Staatsrat Dr. Bleyer erschienen. Ferner
sah man die Rektoren der Universität und der
Technischen Hochschule, zahlreiche Auslandsver-
treter in München und weitere prominente Ver-
treter des politischen und wirtschaftlichen Lebens
in außerordentlich großer Zahl.

Diplomvolkswirt Adolf Roth hieß den Bundes-
kanzler zu Beginn des Abends nochmals herzlich
willkommen.

Er betonte den unparteiischen Charakter des
Klubs, der es sich zur Aufgabe macht, seine Mit-
gliedern und Gästen durch Vorträge von führen-
den Politikern aller Richtungen die Möglichkeit
zu bieten, sich ein Bild vom politischen Leben der
Gegenwart zu verschaffen. Einen wertvollen Bei-
trag hierzu werde der Vortrag des österreichi-
schen Bundeskanzlers bieten.

Darauf ergriff, lebhaft begrüßt, der Kanzler
das Wort. Herr Dr. Seipel war sich bewußt, daß
nicht nur die Augen und Ohren Münchens auf
ihn gerichtet waren, er war sich bewußt, daß in
den Kreisen der reichsdeutschen Anschlußfreunde
starkes Mißtrauen ihm gegenüber herrscht, ein
Mißtrauen, für das er sich zum großen Teil bei
bayerischen Interpreten der Anschlußmöglichkeit
bedanken kann. So ließ denn schon die unendlich
behutsame, zurückhaltende Art des Vortrags er-
kennen, daß jedes Wort vorher auf der Gold-
waage gelegen hatte. Man möchte wünschen, daß
sich unsere bayerischen Offiziellen, wenn sie mal
wieder nach Oesterreich fahren, ein Beispiel an
dieser Zurückhaltung nehmen. So gab es zwar
keine großen Sensationen, aber dafür einige
nette Wahrheiten. Viel Wasser wurde in den
Wein der Anschlußbegeisterung gegossen. Die-
jenigen, die im deutschen Föderalismus die Vor-
bedingung des österreichischen Anschlusses sehen,
mußten sich sagen lassen, daß der österreichische
Föderalismus ein großes Hindernis auf diesem
Wege ist.

Und wie mag wohl Herrn Held zumute ge-
wesen sein, als Dr. Seipel ein kleines Privatissi-
mum las über Bayern als Musterbild des uni-
taristischen Staates, über bayerische Stämme und
bayerische Geschichte?

In seinem Vortrag führte Bundeskanzler Dr.
Seipel einleitend aus, daß er im voraus allen
Vermutungen den Boden entziehen müsse, als ob
ihn diesmal irgendwelche geheime Absichten
aktueller Politik aus Oesterreich nach Bayern ge-
führt hätten, es sei denn, daß man das Bestreben
der Bewohner zweier eng benachbarter und nah
verwandter Staaten, einander besser kennenzu-
lernen, eben auch als Absicht und Mittel aktueller
Politik gelten lasse. Die Bayern und die Oester-
reicher brauchten sich nicht erst überbaupt kennen-
zulernen. Es liege uns die Bekanntschaft und die
Leichtigkeit, einander zu verstehen, im Blute
"Aber sehen wir zu, ob nicht das Wissen um
unsere Verwandtschaft und die sozusagen alltäg-
liche Nachbarschaft uns dazu verleitet, daß wir
voneinander schon alles zu wissen und zu ver-
stehen glauben."

Der Bundeskanzler wandte sich sodann dem
eigentlichen Thema:

"Der Föderalismus in Oesterreich"
[Spaltenumbruch] zu und betonte, der österreichische Föderalismus
begegne oft scharfer Kritik. Besonders skeptisch
stünden dem österreichischen Föderalismus die
reinen und unentwegten Freunde des Anschlusses
an das Deutsche Reich gegenüber. Sie sähen
durch diesen Föderalismus einen künftigen An-
schluß erschwert. Denn, so sagen sie, im Falle
des Anschlusses müßte entweder Oesterreich seinen
inneren Föderalismus aufgeben oder ein Ein-
heitsstaat der größeren Föderation des Reiches
werden, was wohl ein zu großes Opfer für ein
auf seinen engeren Föderalismus stark eingestell-
tes Oesterreich wäre; oder es müßte das Reich
mit Oesterreich einen Subföderalismus in Kauf
nehmen, also sich selbst in einen mehrstöckigen
Bundesstaat umwandeln, was schwer zu ver-
stehen, eine fast unerhörte staatsrechtliche Kon-
struktion wäre; oder Oesterreich müßte sich als
Bundesstaat auflösen, so daß seine neun Länder
einzeln sich ans Reich anschließen könnten, was
weder vom Standpunkt des Reiches, das dadurch
um eine Anzahl unerwünschter, weil nicht lebens-
fähiger Duodezstaaten bereichert würde, wün-
schenswert, noch vom Standpunkt eines selbst-
bewußten, trotz allen weltgeschichtlichen Verände-
rungen tief in der Vergangenheit wurzelnden
Oesterreich, das damit aus der Geschichte und
Geographie verschwände, erträglich wäre.

So scheint denn Oefterreich gerade durch
seinen Föderalismus für immer zu einem
selbständigen Sein nach Art der Schweiz,
seinem einzigen und tatsächlichen Vorbild
bestimmt zu sein.

Die Einwendungen gegen den österreichischen
Föderalismus haben sehr verschiedenes Gewicht.
Er braucht nicht zu groß und zu kostspielig für
das kleine Oesterreich zu sein, ja er kann ein
Mittel zur größten Wirtschaftlichkeit der Verwal-
tung werden. Er zwingt dazu, daß der Bund
auch seine Gebietsteile, die Länder, nicht einfach
regieren kann, sondern ihnen gegenüber Politik
machen muß. Dafür ist der Föderalismus
ein Weg zur wirklichen Selbstverwaltung
des Volkes.

Zukünftigen Entwicklungen endlich setzt der öster-
reichische Föderalismus gewiß wie jede ganz
stark herausgearbeitete und bewußt festgehaltene
Eigenheit nicht geringe Schwierigkeiten entgegen;
aber er zieht keine unbedingt unübersteiglichen
Schranken, weil er kein doktrinär erstarrter
Föderalismus ist und hoffentlich auch nicht wer-
den wird.

Aber woher kommt der österreichische Födera-
lismus? Hat er seinen Ursprung vielleicht im
Stammescharakter der Bevölkerung? Daß dem
nicht so ist, zeigt uns ein Blick auf Bayern.
Mit österreichischen Augen gesehen ist

Bayern ein Musterland des Zentralismus
und Uniterismus.

Obwohl das bayerische Staatsgebiet große Teile
dreier deutscher Stämme, Bayern, Franken und
Schwaben, beherbergt, obwohl es eine ansehn-
liche Zahl früher, im Alten Römischen Reich
deutscher Nation, selbständiger Länder und Lan-
desteile auf dem Weg der Säkularisation und
Mediatisierung in sich aufgenommen hat, verrät
es in sich kaum Spuren einer föderalistischen Ge-
staltung, es bildet vielmehr einen, von einem
Zentrum aus regierten Einheitsstaat.

Ganz anders steht es mit Oesterreich. Auch
die österreichischen. Länder sind allmählich zu-
sammengewachsen. Aber alle diese Gebiete blie-
ben, obwohl unter der gleichen Herrschaft, Län-
der;
sie wurden niemals bloße Provinzen oder
Verwaltungsbezirke. Die Bedeutung der Länder
wechselte; bald waren sie die Pfeiler der Ver-
waltung, bald sollten sie bloße Provinzen werden.
Aber sie spielten immer wieder eine große Rolle
auch deswegen, weil man einen echten Föderalis-
mus auf nationaler Grundlage wegen der Ge-
[Spaltenumbruch] fahren der Reichssprengung, die er in sich schloß,
zu vermeiden trachtete. Die Idee eines aus natio-
nalen Gliedstaaten aufgebauten föderativen Groß-
österreich gehörte erst den letzten Zeiten der alten
Monarchie an. Bis ins Jahr 1918 hinein wurde
für diese Idee gekämpft, verwirklicht wurde sie
nicht mehr.

In diesem Zustand traf uns
der Zusammenbruch.

In jenen Tagen erhielt der neue Staat der Deut-
schen in Oesterreich den merkwürdigen doppel-
gesichtigen Namen "Deutsch-Oesterreich". Gemeint
war er bestimmt als Bekenntnis zum Deutsch
tum, ja als eine Vorausnahme der Erklärung des
Gesetzes vom 12. November 1918: "Deutsch-
Oesterreich ist ein Bestandteil des Deutschen
Reiches"; der Sprechlogik nach weist er aber auf
die großösterreichische Denkweise zurück.

Merkwürdig doppelgesichtig war auch die älteste
Verfassung des neuen Oesterreich. Der Ver-
fassungsbeschluß vom 30. Oktober 1918 schuf klar
und deutlich einen zentralistischen Einheitsstaat.
Das Gesetz betreffend die Uebernahme der
Staatsgewalt in den Ländern gab diesen Selbst-
gesetzgebung und Selbstverwaltung, aber sie blie-
ben Provinzen. Schon am 12 November 1918
ist jedoch der Beschluß, der dann im Staatsgesetz-
blatt Nr 23 verlautbart wurde, gefaßt worden:
"Die provisorische Nationalversammlung nimmt
die feierliche Beitritkserklärung der Länder,
Kreise und Gaue des Staatsgebietes zur Kennt-
nis." Damit war der Grund zum

ausgesprochenen Föderalismus

gelegt, und zwar nicht etwa über ein Drängen
der Länder, sondern aus der Initiative der Zen-
tralregierung heraus.

Schließlich richtete die Bundesverfassung vom
1. Oktober 1920 den Bundesstaat in aller Form
Rechtens ein, nachdem alle Länder ohne Aus-
nahme längst und wiederholt ihren Beitritt zum
neuen Oesterreich faktisch erklärt hatten, indem
sie sich an den Wahlen in das Zentralparlament
beteiligten, dessen Gesetze annahmen und sich
selbst von ihm mit Rechten und Vollmachten
ausrüsten ließen.

Man würde dem österreichischen Föderalismus
nicht gerecht werden, wenn man ihn nur aus
seinen geschichtlichen Vorläufern, aus einer lan-
gen Gewohnheit der Selbstverwaltung, aus einer
Umkehrung aus großösterreschischen Erfahrungen
auf kleinösterreichische Verhältnisse erklären
wollte. Es stecken tiefere Gedanken in ihm. Als
das alte Oesterreich zerfallen war, da wurde ein
neues geschaffen mit Grenzen, die es nicht selbst
bestimmt hatte und die es nicht ändern darf.

War dem Oesterreicher alles genommen? Das
Reich war ihm genommen. Die Heimat war ihm
geblieben. Diese Heimat sich zu erhalten, schloß
der Oesterreicher, der Steirer, der Tiroler usw
mit den Brüdern aus den anderen österreichischen
Ländern gern einen freien Bund. Es war keine
schlechte Idee des ersten österreichischen Kanzlers,
des alten Großösterreichers Dr. Renner, von den
Ländern Beitrittserklärungen zu erlangen --
oder wenigstens zu präsumieren. Daß er es früh-
zeitig tat, daß er

dem Friedensditlat damit zuvor kam.

war eine noch bessere Idee. Er hat damit ein
Stück österreichisches Staatsgefühl begründet.

Daß sein Föderalismus in den österreichischen
Ländern gar so gut aufgenommen wurde und so
tief Wurzel schlug, kommt allerdings von einer
weniger schönen Erscheinung Von der Schärfe
der Parteigegensätze in Oesterreich.

Der Bundeskanzler schloß:

Uns Oesterreichern von heute, namentlich jenen,
die Oesterreich regieren müssen, ist der österrei-
chische Föderalismus eine Aufgabe, an der wir
noch lange zu arbeiten
haben werden, bis wir die Schwierigkeiten, die
er aufwirft, überwunden, die Möglichkeiten, die
er eröffnet, ausgeschöpft haben. Für solche,
welche die Wissenschaft der Politik lieben, weil sie
das Volk lieben, für das sie die Politik zu erler-
nen streben, ist der österreichische Föderalismus
ein Studiengegenstand, den zu studieren sich loh-
nen dürfte Für jene, die Oesterreich gern haben,
ist er ein Stück von diesem Oesterreich, wie es
wirklich ist.

Erwerbslosentumult in Halle

Anläßlich der gestrigen Sitzung der Hallenser
Stadtverordneten kam es zu stürmischen Tumul-
ten vor dem Kathaus. Die Kommunistische Par-
tei hatte mehrere Anträge zur Unterstützung der
Erwerbslosen gestellt, und um diesen mehr Nach-
druck zu verleihen, sammelten sich über 1000 Er-
werbslose vor dem Rathaus und forderten unter
stürmischen Rufen die Erfüllung ihrer Forderun-
gen. Ein starkes Polizeiaufgebot mußte mehrere
Male den Marktplatz säubern, aber immer wie-
der drängten die Massen vor, so daß die Polizei
mit Gummiknüppeln und blanker Waffe vorgehen
mußte. Die Polizei nahm einige Verhaftungen
vor.

[irrelevantes Material]


Japan und die Mandschurei

Eine Rede des japanischen Ministerpräsidenten * Anerkennung
der Souveränität Chinas, aber ...


Der japanische Mini-
sterpräsident hielt in der gestrigen Sitzung
des Parlaments eine längere Rede über die
auswärtigen Beziehungen, in deren Verlauf
er sich sehr eingehend über die Lage in
China äußerte. Baron Tanaka erklärte, die
japanische Regierung hoffe, daß die chinesi-
sche Nation nach 15 Jahren Haders und
des Kampfes nunmehr das große Unter-
nehmen eines friedlichen Zusammenschlusses
zu einem glücklichen Ende führen werde. Die
japanische Regierung sei gewillt, dieses Werk
des Aufbaus zu fördern. Es verstehe sich von
selbst, daß China angesichts der Schwierig-
keiten, denen es sich gegenübersehe, mehr
denn je sich Zurückhaltung und Mäßigung
auferlegen müsse.

Bezüglich der

japanischen Interessen in der Mandschurei

führte der Ministerpräsident aus, daß es
angesichts der politischen und strategischen
Bedeutung, die die Mandschurei für Japan
besitzt, und angesichts der historischen Bedeu-
tung des Umstandes, daß dieses Gebiet von
Japan unter Einsetzung seiner nationalen
[Spaltenumbruch] Existenz aus der Gewalt des zaristischen
Rußland befreit und für China zurück-
gewonnen wurde, es ganz natürlich sei, daß
das japanische Volk an dem Schicksal der
Mandschurei besonders intensiven Anteil
nehme. Diese Anteilnahme müsse um so mehr
bedeutend sein, als in der Mandschurei mehr
als eine Million japanischer Untertanen
wohnten und Japan dort ihre Rechte und
Interessen zu schützen habe. Es verstehe sich
von selbst, daß die japanische Regierung
die Souveränität Chinas in der
Mandschurei respektiere,

alles in seiner Macht liegende tun werde,
um die Grundsätze der offenen Türe und
des freien wirtschaftlichen Wettbewerbs dort
aufrechtzuerhalten, und den Wunsch hege,
daß in der Mandschurei sichere Verhältnisse
sowohl für die Einheimischen, wie auch für
die Fremden geschaffen würden. Zugleich
bleibe die Regierung jedoch fest entschlossen,
alle notwendigen Maßnahmen zu treffen,
falls in der Mandschurei Zustände eintreten
sollten, die die Ordnung stören und solcher-
weise die japanischen Interessen gefährden
könnten.

„AZ am Abend“ Nr. 18 Dienstag, den 22. Januar


Erſcheinung gerührt oder zu rühren gewagt, der
darin gelegen iſt, daß in Bayern, und ſelbſtver-
ſtändlich in beſonders konzentrierter Form in
ſeiner Landeshauptſtadt, ſich immer mehr die
ſelbſtzufriedene Einſeitigkeit und
Enge der konfeſſionellen Blickrich-
tung
in der unheilvollſten Weiſe auf das ſtaat-
liche, kulturelle und auch wirtſchaftliche Leben
unſeres Volkes auswirkt während doch nur die
Aufgeſchloſſenheit einer duldſamen, fort-
ſchrittlichen Geſinnung
und die Unab-
hängigkeit eines zielbewußten Willens Grundlage
und Förderung für eine erſprießliche Entwicklung
aller Volks- und Staatsbelange ſein können. Dieſe
Erkenntnis beſchränkt ſich nicht etwa nur auf
politiſch und konfeſſionell freier gerichtete Kreiſe;
ſie iſt auch in weiten Kreiſen unſerer religlös
durchaus poſitiv eingeſtellten katholiſchen Intelli-
genz vorhanden. Aber was hilft es, dieſe Erkennt-
nis zu beſitzen und die Fehlerquellen unſeres der-
zeitigen Zuſtandes zu kennen, wenn niemand es
wagt, die notwendigen Folgerungen aus dieſer
Erkenntnis zu ziehen und, verantwortungsbewußt
für die Zukunft, jenen Beſtrebungen entgegenzu-
treten, die ihr eigenes Intereſſe immer dem All-
gemeinintereſſe vorauszuſetzen pflegen, ohne ſich
im geringſten darum zu kümmern, ob durch ihre
rückſichtsloſe Abſonderungspolitik der Volksge-
meinſchaft und dem Staate, die nur in einer
trennungsfeindlichen Gemeinſamkeit des Willens
und der Tat des Staatsvolkes beſtehen können,
das Grab gegraben wird.



[irrelevantes Material]

Für jeden Staatsbürger und Abgeordneten,
dem die Volksgemeinſchaft und die
Staatsidee als ſolche eine weſentliche
Vorausſetzung iſt für die Ueberwindung der gro-
ßen deutſchen Not und der in der Staats-
ſchule eine unerläßliche Vorbedingung für dieſe
Volksgemeinſchaft und den paritätiſchen Staat ſicht,
muß in der Frage der Neuordnung der Lehrerbil-
dung die conditio ſine qua non ſein, daß die
Schule formell und materiell Staatsſchule
und der Lehrer formell und materiell Staats-
beamter
bleibt. Niemand wird dagegen ſein,
daß der Religionsunterricht und ſeine formelle
und materielle Geſtaltung eine Sache der Kirchen
iſt, für welche der Staat gerade in ſeiner grund-
ſätzlichen Eigenſchaft als paritätiſche volkliche
Lebensform volle Freiheit zugeſtehen kann und
muß. Deshalb iſt es auch zu begrüßen, daß der
Bayeriſche Lehrerverein für die Ausbildung des
Lehrers auf religiöſom Gebiet in der von ihm
mit Recht verlangten Aufbauſchule als einer
ſimultanen Mittelſchule und an der Unverſität
den konfeſſionellen Forderungen der Kirchen in
jeder Beziehung Rechnung trägt. Die Meinung,
daß die auf ſolche Weiſe religiös gebildeten Leh-
rer das Vertrauen der Eltern auf eine gute reli-
giöſe Unterweiſung ihrer Kinder nicht verdienen,
wie dies von dem Herrn Kardinal in jener Ver-
ſammlung ſo ſcharf betont wurde, geht mit ver-
bundenen Augen an der Tatſache vorüber, daß
ja auch die meiſten Geiſtlichen der katholiſchen
Kirche ſchon immer durch das ſimultane humani-
ſtiſche Gymnaſium, wie auch vorher durch den
Volksſchulunterricht vieler liberaler Lehrer ge-
gangen ſind, ohne daß ſie dabei Schaden an Leib
und Seele gelitten hätten und ohne, daß es heute
irgend jemandem einfallen wollte, zu ſagen, daß
dieſe zumeiſt auch allgemein hochgeachteten Geiſt-
lichen das Vertrauen der katholiſchen Gläubigen
nicht verdienen. Mit den akademiſch gebildeten
Führern der Bayeriſchen Volkspartei und des
Zentrums, die auch meiſt durch bayeriſche Volks-
ſchulen gelaufen ſind und alle dieſe für den „ech-
ten Glauben“ ſo „gefährlichen“ ſimultanen huma-
niſtiſchen Gymnaſien und Realgymnaſien abſol-
viert haben, iſt es nicht anders.

Es darf wohl erwartet werden, daß der Herr
Kultusminiſter Gelegenheit nimmt, ſeinen
in der Volksſchule als Lehrer tätigen Staats-
beamten das uneingeſchränkte Zeugnis auszu-
ſtellen, daß durch ihre Lehrtätigkeit bisher weder
dem Unglauben Tür und Tor geöffnet worden iſt,
noch auch das Gegenteil von Sittlichkeit. Wahr-
haftigkeit, Opferbereitſchaft und Nächſtenliebe an-
erzogen worden iſt, auch wenn die bayeriſchen
Lehrer dem Bayeriſchen Lehrerverein, oder wie
der Herr Kardinal zu ſagen beliebte, dem „libe-
ralen
“ Lehrerverein angehören, was wohl für
mehr denn 98 Prozent der bayeriſchen Volks-
ſchullehrerſchaft der Fall ſein dürfte. Nicht minder
iſt wohl es auch eine Ehrenpflicht der Land-
tagsparteien
, die dem Herrn Kardinal in
ſeinem Kampfe gagen Staatsſchule, Lehrerbildung
und Bayeriſchen Lehrerverein Gefolgſchaft zu lei-
ſten nicht willens ſind, den bayeriſchen Volks-
ſchullehrern bezüglich ihrer beruflichen Tätigkeit
und ihrer pädagogiſch wohl begründeten und
wertvollen Beſtrebungen auf einen fortſchrittlichen
Ausbau der Volksſchule die öffentliche Anerken-
nung auszuſprechen, auf die an und für ſich ſchon
jeder loyale Staatsbürger und Staatsbeamte grund-
ſätzlich Anſpruch hat, der der Volksgeſamtheit und
dem Staatswohl dienen will. Die große Mehrheit
des bayeriſchen Volkes das doch auch weiß, wie
es in den bayeriſchen Volksſchulen zugeht, wird
ſich ohne Einſchränkung einer ſolchen Anerken-
nung anſchließen.

Ueber den bayeriſchen Volksſchullehrern, die
mit ihren Bildungsbeamten-Kollegen der bayeri-
ſchen Mitteldchulen und Univerſitäten den Schop-
fern des „Stille Nacht — heilige Nacht“-Liedes
einem katholiſchen Geiſtlichen und einem katho-
liſchen Lehrer, ein von Prieſterkünſtlerhand mo-
delliertes wunderbares Denkmal errichteten und
damit bekannt haben, daß ihnen das in dieſem
unſterblichen Liede poetiſch verklärte Chriſtentum
wahre Herzensſache iſt, ſollte ſich eher die ſegnende
Biſchofshand erheben, als daß man ſie unter dem
Beifallsgebrüll einer geiſtig ſehr temperierten
Verſammlung ungerechterweiſe dem Mißtrauen
der Eltern ihrer Schulkinder ausliefert. Juſtus.

[Spaltenumbruch]
Föderalismus in Oeſterreich * Zentralismus
in Bayern
Vortrag des öſterreichiſchen Bundeskanzlers im Akademiſch-Politiſchen Klub

Dem Vortrag des Bundeskanzlers Dr. Seipel
ging ein Herreneſſen voraus, das die führenden
Perſönlichkeiten des Münchner politiſchen Lebens
und zahlreiche Mitglieder des Akademiſch-Poli-
tiſchen Klubs mit dem Bundeskanzler zuſammen-
führte, und bei dem der Geſchäftsträger des
Klubs, Referendar Robert von Keller, den
Kanzler herzlich, beſonders im Namen der deut-
ſchen Jugend willkommen hieß.

Zu dem Vortrag ſelbſt waren u. a. Kardinal
Faulhaber, Miniſterpräſident Dr. Held,
Kultusminiſter Goldenberger, Juſtizminiſter
Gürtner, Landwirtſchaftsminiſter Dr. Fehr
und Staatsrat Dr. Bleyer erſchienen. Ferner
ſah man die Rektoren der Univerſität und der
Techniſchen Hochſchule, zahlreiche Auslandsver-
treter in München und weitere prominente Ver-
treter des politiſchen und wirtſchaftlichen Lebens
in außerordentlich großer Zahl.

Diplomvolkswirt Adolf Roth hieß den Bundes-
kanzler zu Beginn des Abends nochmals herzlich
willkommen.

Er betonte den unparteiiſchen Charakter des
Klubs, der es ſich zur Aufgabe macht, ſeine Mit-
gliedern und Gäſten durch Vorträge von führen-
den Politikern aller Richtungen die Möglichkeit
zu bieten, ſich ein Bild vom politiſchen Leben der
Gegenwart zu verſchaffen. Einen wertvollen Bei-
trag hierzu werde der Vortrag des öſterreichi-
ſchen Bundeskanzlers bieten.

Darauf ergriff, lebhaft begrüßt, der Kanzler
das Wort. Herr Dr. Seipel war ſich bewußt, daß
nicht nur die Augen und Ohren Münchens auf
ihn gerichtet waren, er war ſich bewußt, daß in
den Kreiſen der reichsdeutſchen Anſchlußfreunde
ſtarkes Mißtrauen ihm gegenüber herrſcht, ein
Mißtrauen, für das er ſich zum großen Teil bei
bayeriſchen Interpreten der Anſchlußmöglichkeit
bedanken kann. So ließ denn ſchon die unendlich
behutſame, zurückhaltende Art des Vortrags er-
kennen, daß jedes Wort vorher auf der Gold-
waage gelegen hatte. Man möchte wünſchen, daß
ſich unſere bayeriſchen Offiziellen, wenn ſie mal
wieder nach Oeſterreich fahren, ein Beiſpiel an
dieſer Zurückhaltung nehmen. So gab es zwar
keine großen Senſationen, aber dafür einige
nette Wahrheiten. Viel Waſſer wurde in den
Wein der Anſchlußbegeiſterung gegoſſen. Die-
jenigen, die im deutſchen Föderalismus die Vor-
bedingung des öſterreichiſchen Anſchluſſes ſehen,
mußten ſich ſagen laſſen, daß der öſterreichiſche
Föderalismus ein großes Hindernis auf dieſem
Wege iſt.

Und wie mag wohl Herrn Held zumute ge-
weſen ſein, als Dr. Seipel ein kleines Privatiſſi-
mum las über Bayern als Muſterbild des uni-
tariſtiſchen Staates, über bayeriſche Stämme und
bayeriſche Geſchichte?

In ſeinem Vortrag führte Bundeskanzler Dr.
Seipel einleitend aus, daß er im voraus allen
Vermutungen den Boden entziehen müſſe, als ob
ihn diesmal irgendwelche geheime Abſichten
aktueller Politik aus Oeſterreich nach Bayern ge-
führt hätten, es ſei denn, daß man das Beſtreben
der Bewohner zweier eng benachbarter und nah
verwandter Staaten, einander beſſer kennenzu-
lernen, eben auch als Abſicht und Mittel aktueller
Politik gelten laſſe. Die Bayern und die Oeſter-
reicher brauchten ſich nicht erſt überbaupt kennen-
zulernen. Es liege uns die Bekanntſchaft und die
Leichtigkeit, einander zu verſtehen, im Blute
„Aber ſehen wir zu, ob nicht das Wiſſen um
unſere Verwandtſchaft und die ſozuſagen alltäg-
liche Nachbarſchaft uns dazu verleitet, daß wir
voneinander ſchon alles zu wiſſen und zu ver-
ſtehen glauben.“

Der Bundeskanzler wandte ſich ſodann dem
eigentlichen Thema:

„Der Föderalismus in Oeſterreich“
[Spaltenumbruch] zu und betonte, der öſterreichiſche Föderalismus
begegne oft ſcharfer Kritik. Beſonders ſkeptiſch
ſtünden dem öſterreichiſchen Föderalismus die
reinen und unentwegten Freunde des Anſchluſſes
an das Deutſche Reich gegenüber. Sie ſähen
durch dieſen Föderalismus einen künftigen An-
ſchluß erſchwert. Denn, ſo ſagen ſie, im Falle
des Anſchluſſes müßte entweder Oeſterreich ſeinen
inneren Föderalismus aufgeben oder ein Ein-
heitsſtaat der größeren Föderation des Reiches
werden, was wohl ein zu großes Opfer für ein
auf ſeinen engeren Föderalismus ſtark eingeſtell-
tes Oeſterreich wäre; oder es müßte das Reich
mit Oeſterreich einen Subföderalismus in Kauf
nehmen, alſo ſich ſelbſt in einen mehrſtöckigen
Bundesſtaat umwandeln, was ſchwer zu ver-
ſtehen, eine faſt unerhörte ſtaatsrechtliche Kon-
ſtruktion wäre; oder Oeſterreich müßte ſich als
Bundesſtaat auflöſen, ſo daß ſeine neun Länder
einzeln ſich ans Reich anſchließen könnten, was
weder vom Standpunkt des Reiches, das dadurch
um eine Anzahl unerwünſchter, weil nicht lebens-
fähiger Duodezſtaaten bereichert würde, wün-
ſchenswert, noch vom Standpunkt eines ſelbſt-
bewußten, trotz allen weltgeſchichtlichen Verände-
rungen tief in der Vergangenheit wurzelnden
Oeſterreich, das damit aus der Geſchichte und
Geographie verſchwände, erträglich wäre.

So ſcheint denn Oefterreich gerade durch
ſeinen Föderalismus für immer zu einem
ſelbſtändigen Sein nach Art der Schweiz,
ſeinem einzigen und tatſächlichen Vorbild
beſtimmt zu ſein.

Die Einwendungen gegen den öſterreichiſchen
Föderalismus haben ſehr verſchiedenes Gewicht.
Er braucht nicht zu groß und zu koſtſpielig für
das kleine Oeſterreich zu ſein, ja er kann ein
Mittel zur größten Wirtſchaftlichkeit der Verwal-
tung werden. Er zwingt dazu, daß der Bund
auch ſeine Gebietsteile, die Länder, nicht einfach
regieren kann, ſondern ihnen gegenüber Politik
machen muß. Dafür iſt der Föderalismus
ein Weg zur wirklichen Selbſtverwaltung
des Volkes.

Zukünftigen Entwicklungen endlich ſetzt der öſter-
reichiſche Föderalismus gewiß wie jede ganz
ſtark herausgearbeitete und bewußt feſtgehaltene
Eigenheit nicht geringe Schwierigkeiten entgegen;
aber er zieht keine unbedingt unüberſteiglichen
Schranken, weil er kein doktrinär erſtarrter
Föderalismus iſt und hoffentlich auch nicht wer-
den wird.

Aber woher kommt der öſterreichiſche Födera-
lismus? Hat er ſeinen Urſprung vielleicht im
Stammescharakter der Bevölkerung? Daß dem
nicht ſo iſt, zeigt uns ein Blick auf Bayern.
Mit öſterreichiſchen Augen geſehen iſt

Bayern ein Muſterland des Zentralismus
und Uniterismus.

Obwohl das bayeriſche Staatsgebiet große Teile
dreier deutſcher Stämme, Bayern, Franken und
Schwaben, beherbergt, obwohl es eine anſehn-
liche Zahl früher, im Alten Römiſchen Reich
deutſcher Nation, ſelbſtändiger Länder und Lan-
desteile auf dem Weg der Säkulariſation und
Mediatiſierung in ſich aufgenommen hat, verrät
es in ſich kaum Spuren einer föderaliſtiſchen Ge-
ſtaltung, es bildet vielmehr einen, von einem
Zentrum aus regierten Einheitsſtaat.

Ganz anders ſteht es mit Oeſterreich. Auch
die öſterreichiſchen. Länder ſind allmählich zu-
ſammengewachſen. Aber alle dieſe Gebiete blie-
ben, obwohl unter der gleichen Herrſchaft, Län-
der;
ſie wurden niemals bloße Provinzen oder
Verwaltungsbezirke. Die Bedeutung der Länder
wechſelte; bald waren ſie die Pfeiler der Ver-
waltung, bald ſollten ſie bloße Provinzen werden.
Aber ſie ſpielten immer wieder eine große Rolle
auch deswegen, weil man einen echten Föderalis-
mus auf nationaler Grundlage wegen der Ge-
[Spaltenumbruch] fahren der Reichsſprengung, die er in ſich ſchloß,
zu vermeiden trachtete. Die Idee eines aus natio-
nalen Gliedſtaaten aufgebauten föderativen Groß-
öſterreich gehörte erſt den letzten Zeiten der alten
Monarchie an. Bis ins Jahr 1918 hinein wurde
für dieſe Idee gekämpft, verwirklicht wurde ſie
nicht mehr.

In dieſem Zuſtand traf uns
der Zuſammenbruch.

In jenen Tagen erhielt der neue Staat der Deut-
ſchen in Oeſterreich den merkwürdigen doppel-
geſichtigen Namen „Deutſch-Oeſterreich“. Gemeint
war er beſtimmt als Bekenntnis zum Deutſch
tum, ja als eine Vorausnahme der Erklärung des
Geſetzes vom 12. November 1918: „Deutſch-
Oeſterreich iſt ein Beſtandteil des Deutſchen
Reiches“; der Sprechlogik nach weiſt er aber auf
die großöſterreichiſche Denkweiſe zurück.

Merkwürdig doppelgeſichtig war auch die älteſte
Verfaſſung des neuen Oeſterreich. Der Ver-
faſſungsbeſchluß vom 30. Oktober 1918 ſchuf klar
und deutlich einen zentraliſtiſchen Einheitsſtaat.
Das Geſetz betreffend die Uebernahme der
Staatsgewalt in den Ländern gab dieſen Selbſt-
geſetzgebung und Selbſtverwaltung, aber ſie blie-
ben Provinzen. Schon am 12 November 1918
iſt jedoch der Beſchluß, der dann im Staatsgeſetz-
blatt Nr 23 verlautbart wurde, gefaßt worden:
„Die proviſoriſche Nationalverſammlung nimmt
die feierliche Beitritkserklärung der Länder,
Kreiſe und Gaue des Staatsgebietes zur Kennt-
nis.“ Damit war der Grund zum

ausgeſprochenen Föderalismus

gelegt, und zwar nicht etwa über ein Drängen
der Länder, ſondern aus der Initiative der Zen-
tralregierung heraus.

Schließlich richtete die Bundesverfaſſung vom
1. Oktober 1920 den Bundesſtaat in aller Form
Rechtens ein, nachdem alle Länder ohne Aus-
nahme längſt und wiederholt ihren Beitritt zum
neuen Oeſterreich faktiſch erklärt hatten, indem
ſie ſich an den Wahlen in das Zentralparlament
beteiligten, deſſen Geſetze annahmen und ſich
ſelbſt von ihm mit Rechten und Vollmachten
ausrüſten ließen.

Man würde dem öſterreichiſchen Föderalismus
nicht gerecht werden, wenn man ihn nur aus
ſeinen geſchichtlichen Vorläufern, aus einer lan-
gen Gewohnheit der Selbſtverwaltung, aus einer
Umkehrung aus großöſterreſchiſchen Erfahrungen
auf kleinöſterreichiſche Verhältniſſe erklären
wollte. Es ſtecken tiefere Gedanken in ihm. Als
das alte Oeſterreich zerfallen war, da wurde ein
neues geſchaffen mit Grenzen, die es nicht ſelbſt
beſtimmt hatte und die es nicht ändern darf.

War dem Oeſterreicher alles genommen? Das
Reich war ihm genommen. Die Heimat war ihm
geblieben. Dieſe Heimat ſich zu erhalten, ſchloß
der Oeſterreicher, der Steirer, der Tiroler uſw
mit den Brüdern aus den anderen öſterreichiſchen
Ländern gern einen freien Bund. Es war keine
ſchlechte Idee des erſten öſterreichiſchen Kanzlers,
des alten Großöſterreichers Dr. Renner, von den
Ländern Beitrittserklärungen zu erlangen —
oder wenigſtens zu präſumieren. Daß er es früh-
zeitig tat, daß er

dem Friedensditlat damit zuvor kam.

war eine noch beſſere Idee. Er hat damit ein
Stück öſterreichiſches Staatsgefühl begründet.

Daß ſein Föderalismus in den öſterreichiſchen
Ländern gar ſo gut aufgenommen wurde und ſo
tief Wurzel ſchlug, kommt allerdings von einer
weniger ſchönen Erſcheinung Von der Schärfe
der Parteigegenſätze in Oeſterreich.

Der Bundeskanzler ſchloß:

Uns Oeſterreichern von heute, namentlich jenen,
die Oeſterreich regieren müſſen, iſt der öſterrei-
chiſche Föderalismus eine Aufgabe, an der wir
noch lange zu arbeiten
haben werden, bis wir die Schwierigkeiten, die
er aufwirft, überwunden, die Möglichkeiten, die
er eröffnet, ausgeſchöpft haben. Für ſolche,
welche die Wiſſenſchaft der Politik lieben, weil ſie
das Volk lieben, für das ſie die Politik zu erler-
nen ſtreben, iſt der öſterreichiſche Föderalismus
ein Studiengegenſtand, den zu ſtudieren ſich loh-
nen dürfte Für jene, die Oeſterreich gern haben,
iſt er ein Stück von dieſem Oeſterreich, wie es
wirklich iſt.

Erwerbsloſentumult in Halle

Anläßlich der geſtrigen Sitzung der Hallenſer
Stadtverordneten kam es zu ſtürmiſchen Tumul-
ten vor dem Kathaus. Die Kommuniſtiſche Par-
tei hatte mehrere Anträge zur Unterſtützung der
Erwerbsloſen geſtellt, und um dieſen mehr Nach-
druck zu verleihen, ſammelten ſich über 1000 Er-
werbsloſe vor dem Rathaus und forderten unter
ſtürmiſchen Rufen die Erfüllung ihrer Forderun-
gen. Ein ſtarkes Polizeiaufgebot mußte mehrere
Male den Marktplatz ſäubern, aber immer wie-
der drängten die Maſſen vor, ſo daß die Polizei
mit Gummiknüppeln und blanker Waffe vorgehen
mußte. Die Polizei nahm einige Verhaftungen
vor.

[irrelevantes Material]


Japan und die Mandſchurei

Eine Rede des japaniſchen Miniſterpräſidenten * Anerkennung
der Souveränität Chinas, aber ...


Der japaniſche Mini-
ſterpräſident hielt in der geſtrigen Sitzung
des Parlaments eine längere Rede über die
auswärtigen Beziehungen, in deren Verlauf
er ſich ſehr eingehend über die Lage in
China äußerte. Baron Tanaka erklärte, die
japaniſche Regierung hoffe, daß die chineſi-
ſche Nation nach 15 Jahren Haders und
des Kampfes nunmehr das große Unter-
nehmen eines friedlichen Zuſammenſchluſſes
zu einem glücklichen Ende führen werde. Die
japaniſche Regierung ſei gewillt, dieſes Werk
des Aufbaus zu fördern. Es verſtehe ſich von
ſelbſt, daß China angeſichts der Schwierig-
keiten, denen es ſich gegenüberſehe, mehr
denn je ſich Zurückhaltung und Mäßigung
auferlegen müſſe.

Bezüglich der

japaniſchen Intereſſen in der Mandſchurei

führte der Miniſterpräſident aus, daß es
angeſichts der politiſchen und ſtrategiſchen
Bedeutung, die die Mandſchurei für Japan
beſitzt, und angeſichts der hiſtoriſchen Bedeu-
tung des Umſtandes, daß dieſes Gebiet von
Japan unter Einſetzung ſeiner nationalen
[Spaltenumbruch] Exiſtenz aus der Gewalt des zariſtiſchen
Rußland befreit und für China zurück-
gewonnen wurde, es ganz natürlich ſei, daß
das japaniſche Volk an dem Schickſal der
Mandſchurei beſonders intenſiven Anteil
nehme. Dieſe Anteilnahme müſſe um ſo mehr
bedeutend ſein, als in der Mandſchurei mehr
als eine Million japaniſcher Untertanen
wohnten und Japan dort ihre Rechte und
Intereſſen zu ſchützen habe. Es verſtehe ſich
von ſelbſt, daß die japaniſche Regierung
die Souveränität Chinas in der
Mandſchurei reſpektiere,

alles in ſeiner Macht liegende tun werde,
um die Grundſätze der offenen Türe und
des freien wirtſchaftlichen Wettbewerbs dort
aufrechtzuerhalten, und den Wunſch hege,
daß in der Mandſchurei ſichere Verhältniſſe
ſowohl für die Einheimiſchen, wie auch für
die Fremden geſchaffen würden. Zugleich
bleibe die Regierung jedoch feſt entſchloſſen,
alle notwendigen Maßnahmen zu treffen,
falls in der Mandſchurei Zuſtände eintreten
ſollten, die die Ordnung ſtören und ſolcher-
weiſe die japaniſchen Intereſſen gefährden
könnten.

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[2/0002] „AZ am Abend“ Nr. 18 Dienstag, den 22. Januar Erſcheinung gerührt oder zu rühren gewagt, der darin gelegen iſt, daß in Bayern, und ſelbſtver- ſtändlich in beſonders konzentrierter Form in ſeiner Landeshauptſtadt, ſich immer mehr die ſelbſtzufriedene Einſeitigkeit und Enge der konfeſſionellen Blickrich- tung in der unheilvollſten Weiſe auf das ſtaat- liche, kulturelle und auch wirtſchaftliche Leben unſeres Volkes auswirkt während doch nur die Aufgeſchloſſenheit einer duldſamen, fort- ſchrittlichen Geſinnung und die Unab- hängigkeit eines zielbewußten Willens Grundlage und Förderung für eine erſprießliche Entwicklung aller Volks- und Staatsbelange ſein können. Dieſe Erkenntnis beſchränkt ſich nicht etwa nur auf politiſch und konfeſſionell freier gerichtete Kreiſe; ſie iſt auch in weiten Kreiſen unſerer religlös durchaus poſitiv eingeſtellten katholiſchen Intelli- genz vorhanden. Aber was hilft es, dieſe Erkennt- nis zu beſitzen und die Fehlerquellen unſeres der- zeitigen Zuſtandes zu kennen, wenn niemand es wagt, die notwendigen Folgerungen aus dieſer Erkenntnis zu ziehen und, verantwortungsbewußt für die Zukunft, jenen Beſtrebungen entgegenzu- treten, die ihr eigenes Intereſſe immer dem All- gemeinintereſſe vorauszuſetzen pflegen, ohne ſich im geringſten darum zu kümmern, ob durch ihre rückſichtsloſe Abſonderungspolitik der Volksge- meinſchaft und dem Staate, die nur in einer trennungsfeindlichen Gemeinſamkeit des Willens und der Tat des Staatsvolkes beſtehen können, das Grab gegraben wird. _ Für jeden Staatsbürger und Abgeordneten, dem die Volksgemeinſchaft und die Staatsidee als ſolche eine weſentliche Vorausſetzung iſt für die Ueberwindung der gro- ßen deutſchen Not und der in der Staats- ſchule eine unerläßliche Vorbedingung für dieſe Volksgemeinſchaft und den paritätiſchen Staat ſicht, muß in der Frage der Neuordnung der Lehrerbil- dung die conditio ſine qua non ſein, daß die Schule formell und materiell Staatsſchule und der Lehrer formell und materiell Staats- beamter bleibt. Niemand wird dagegen ſein, daß der Religionsunterricht und ſeine formelle und materielle Geſtaltung eine Sache der Kirchen iſt, für welche der Staat gerade in ſeiner grund- ſätzlichen Eigenſchaft als paritätiſche volkliche Lebensform volle Freiheit zugeſtehen kann und muß. Deshalb iſt es auch zu begrüßen, daß der Bayeriſche Lehrerverein für die Ausbildung des Lehrers auf religiöſom Gebiet in der von ihm mit Recht verlangten Aufbauſchule als einer ſimultanen Mittelſchule und an der Unverſität den konfeſſionellen Forderungen der Kirchen in jeder Beziehung Rechnung trägt. Die Meinung, daß die auf ſolche Weiſe religiös gebildeten Leh- rer das Vertrauen der Eltern auf eine gute reli- giöſe Unterweiſung ihrer Kinder nicht verdienen, wie dies von dem Herrn Kardinal in jener Ver- ſammlung ſo ſcharf betont wurde, geht mit ver- bundenen Augen an der Tatſache vorüber, daß ja auch die meiſten Geiſtlichen der katholiſchen Kirche ſchon immer durch das ſimultane humani- ſtiſche Gymnaſium, wie auch vorher durch den Volksſchulunterricht vieler liberaler Lehrer ge- gangen ſind, ohne daß ſie dabei Schaden an Leib und Seele gelitten hätten und ohne, daß es heute irgend jemandem einfallen wollte, zu ſagen, daß dieſe zumeiſt auch allgemein hochgeachteten Geiſt- lichen das Vertrauen der katholiſchen Gläubigen nicht verdienen. Mit den akademiſch gebildeten Führern der Bayeriſchen Volkspartei und des Zentrums, die auch meiſt durch bayeriſche Volks- ſchulen gelaufen ſind und alle dieſe für den „ech- ten Glauben“ ſo „gefährlichen“ ſimultanen huma- niſtiſchen Gymnaſien und Realgymnaſien abſol- viert haben, iſt es nicht anders. Es darf wohl erwartet werden, daß der Herr Kultusminiſter Gelegenheit nimmt, ſeinen in der Volksſchule als Lehrer tätigen Staats- beamten das uneingeſchränkte Zeugnis auszu- ſtellen, daß durch ihre Lehrtätigkeit bisher weder dem Unglauben Tür und Tor geöffnet worden iſt, noch auch das Gegenteil von Sittlichkeit. Wahr- haftigkeit, Opferbereitſchaft und Nächſtenliebe an- erzogen worden iſt, auch wenn die bayeriſchen Lehrer dem Bayeriſchen Lehrerverein, oder wie der Herr Kardinal zu ſagen beliebte, dem „libe- ralen“ Lehrerverein angehören, was wohl für mehr denn 98 Prozent der bayeriſchen Volks- ſchullehrerſchaft der Fall ſein dürfte. Nicht minder iſt wohl es auch eine Ehrenpflicht der Land- tagsparteien, die dem Herrn Kardinal in ſeinem Kampfe gagen Staatsſchule, Lehrerbildung und Bayeriſchen Lehrerverein Gefolgſchaft zu lei- ſten nicht willens ſind, den bayeriſchen Volks- ſchullehrern bezüglich ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer pädagogiſch wohl begründeten und wertvollen Beſtrebungen auf einen fortſchrittlichen Ausbau der Volksſchule die öffentliche Anerken- nung auszuſprechen, auf die an und für ſich ſchon jeder loyale Staatsbürger und Staatsbeamte grund- ſätzlich Anſpruch hat, der der Volksgeſamtheit und dem Staatswohl dienen will. Die große Mehrheit des bayeriſchen Volkes das doch auch weiß, wie es in den bayeriſchen Volksſchulen zugeht, wird ſich ohne Einſchränkung einer ſolchen Anerken- nung anſchließen. Ueber den bayeriſchen Volksſchullehrern, die mit ihren Bildungsbeamten-Kollegen der bayeri- ſchen Mitteldchulen und Univerſitäten den Schop- fern des „Stille Nacht — heilige Nacht“-Liedes einem katholiſchen Geiſtlichen und einem katho- liſchen Lehrer, ein von Prieſterkünſtlerhand mo- delliertes wunderbares Denkmal errichteten und damit bekannt haben, daß ihnen das in dieſem unſterblichen Liede poetiſch verklärte Chriſtentum wahre Herzensſache iſt, ſollte ſich eher die ſegnende Biſchofshand erheben, als daß man ſie unter dem Beifallsgebrüll einer geiſtig ſehr temperierten Verſammlung ungerechterweiſe dem Mißtrauen der Eltern ihrer Schulkinder ausliefert. Juſtus. Föderalismus in Oeſterreich * Zentralismus in Bayern Vortrag des öſterreichiſchen Bundeskanzlers im Akademiſch-Politiſchen Klub Dem Vortrag des Bundeskanzlers Dr. Seipel ging ein Herreneſſen voraus, das die führenden Perſönlichkeiten des Münchner politiſchen Lebens und zahlreiche Mitglieder des Akademiſch-Poli- tiſchen Klubs mit dem Bundeskanzler zuſammen- führte, und bei dem der Geſchäftsträger des Klubs, Referendar Robert von Keller, den Kanzler herzlich, beſonders im Namen der deut- ſchen Jugend willkommen hieß. Zu dem Vortrag ſelbſt waren u. a. Kardinal Faulhaber, Miniſterpräſident Dr. Held, Kultusminiſter Goldenberger, Juſtizminiſter Gürtner, Landwirtſchaftsminiſter Dr. Fehr und Staatsrat Dr. Bleyer erſchienen. Ferner ſah man die Rektoren der Univerſität und der Techniſchen Hochſchule, zahlreiche Auslandsver- treter in München und weitere prominente Ver- treter des politiſchen und wirtſchaftlichen Lebens in außerordentlich großer Zahl. Diplomvolkswirt Adolf Roth hieß den Bundes- kanzler zu Beginn des Abends nochmals herzlich willkommen. Er betonte den unparteiiſchen Charakter des Klubs, der es ſich zur Aufgabe macht, ſeine Mit- gliedern und Gäſten durch Vorträge von führen- den Politikern aller Richtungen die Möglichkeit zu bieten, ſich ein Bild vom politiſchen Leben der Gegenwart zu verſchaffen. Einen wertvollen Bei- trag hierzu werde der Vortrag des öſterreichi- ſchen Bundeskanzlers bieten. Darauf ergriff, lebhaft begrüßt, der Kanzler das Wort. Herr Dr. Seipel war ſich bewußt, daß nicht nur die Augen und Ohren Münchens auf ihn gerichtet waren, er war ſich bewußt, daß in den Kreiſen der reichsdeutſchen Anſchlußfreunde ſtarkes Mißtrauen ihm gegenüber herrſcht, ein Mißtrauen, für das er ſich zum großen Teil bei bayeriſchen Interpreten der Anſchlußmöglichkeit bedanken kann. So ließ denn ſchon die unendlich behutſame, zurückhaltende Art des Vortrags er- kennen, daß jedes Wort vorher auf der Gold- waage gelegen hatte. Man möchte wünſchen, daß ſich unſere bayeriſchen Offiziellen, wenn ſie mal wieder nach Oeſterreich fahren, ein Beiſpiel an dieſer Zurückhaltung nehmen. So gab es zwar keine großen Senſationen, aber dafür einige nette Wahrheiten. Viel Waſſer wurde in den Wein der Anſchlußbegeiſterung gegoſſen. Die- jenigen, die im deutſchen Föderalismus die Vor- bedingung des öſterreichiſchen Anſchluſſes ſehen, mußten ſich ſagen laſſen, daß der öſterreichiſche Föderalismus ein großes Hindernis auf dieſem Wege iſt. Und wie mag wohl Herrn Held zumute ge- weſen ſein, als Dr. Seipel ein kleines Privatiſſi- mum las über Bayern als Muſterbild des uni- tariſtiſchen Staates, über bayeriſche Stämme und bayeriſche Geſchichte? In ſeinem Vortrag führte Bundeskanzler Dr. Seipel einleitend aus, daß er im voraus allen Vermutungen den Boden entziehen müſſe, als ob ihn diesmal irgendwelche geheime Abſichten aktueller Politik aus Oeſterreich nach Bayern ge- führt hätten, es ſei denn, daß man das Beſtreben der Bewohner zweier eng benachbarter und nah verwandter Staaten, einander beſſer kennenzu- lernen, eben auch als Abſicht und Mittel aktueller Politik gelten laſſe. Die Bayern und die Oeſter- reicher brauchten ſich nicht erſt überbaupt kennen- zulernen. Es liege uns die Bekanntſchaft und die Leichtigkeit, einander zu verſtehen, im Blute „Aber ſehen wir zu, ob nicht das Wiſſen um unſere Verwandtſchaft und die ſozuſagen alltäg- liche Nachbarſchaft uns dazu verleitet, daß wir voneinander ſchon alles zu wiſſen und zu ver- ſtehen glauben.“ Der Bundeskanzler wandte ſich ſodann dem eigentlichen Thema: „Der Föderalismus in Oeſterreich“ zu und betonte, der öſterreichiſche Föderalismus begegne oft ſcharfer Kritik. Beſonders ſkeptiſch ſtünden dem öſterreichiſchen Föderalismus die reinen und unentwegten Freunde des Anſchluſſes an das Deutſche Reich gegenüber. Sie ſähen durch dieſen Föderalismus einen künftigen An- ſchluß erſchwert. Denn, ſo ſagen ſie, im Falle des Anſchluſſes müßte entweder Oeſterreich ſeinen inneren Föderalismus aufgeben oder ein Ein- heitsſtaat der größeren Föderation des Reiches werden, was wohl ein zu großes Opfer für ein auf ſeinen engeren Föderalismus ſtark eingeſtell- tes Oeſterreich wäre; oder es müßte das Reich mit Oeſterreich einen Subföderalismus in Kauf nehmen, alſo ſich ſelbſt in einen mehrſtöckigen Bundesſtaat umwandeln, was ſchwer zu ver- ſtehen, eine faſt unerhörte ſtaatsrechtliche Kon- ſtruktion wäre; oder Oeſterreich müßte ſich als Bundesſtaat auflöſen, ſo daß ſeine neun Länder einzeln ſich ans Reich anſchließen könnten, was weder vom Standpunkt des Reiches, das dadurch um eine Anzahl unerwünſchter, weil nicht lebens- fähiger Duodezſtaaten bereichert würde, wün- ſchenswert, noch vom Standpunkt eines ſelbſt- bewußten, trotz allen weltgeſchichtlichen Verände- rungen tief in der Vergangenheit wurzelnden Oeſterreich, das damit aus der Geſchichte und Geographie verſchwände, erträglich wäre. So ſcheint denn Oefterreich gerade durch ſeinen Föderalismus für immer zu einem ſelbſtändigen Sein nach Art der Schweiz, ſeinem einzigen und tatſächlichen Vorbild beſtimmt zu ſein. Die Einwendungen gegen den öſterreichiſchen Föderalismus haben ſehr verſchiedenes Gewicht. Er braucht nicht zu groß und zu koſtſpielig für das kleine Oeſterreich zu ſein, ja er kann ein Mittel zur größten Wirtſchaftlichkeit der Verwal- tung werden. Er zwingt dazu, daß der Bund auch ſeine Gebietsteile, die Länder, nicht einfach regieren kann, ſondern ihnen gegenüber Politik machen muß. Dafür iſt der Föderalismus ein Weg zur wirklichen Selbſtverwaltung des Volkes. Zukünftigen Entwicklungen endlich ſetzt der öſter- reichiſche Föderalismus gewiß wie jede ganz ſtark herausgearbeitete und bewußt feſtgehaltene Eigenheit nicht geringe Schwierigkeiten entgegen; aber er zieht keine unbedingt unüberſteiglichen Schranken, weil er kein doktrinär erſtarrter Föderalismus iſt und hoffentlich auch nicht wer- den wird. Aber woher kommt der öſterreichiſche Födera- lismus? Hat er ſeinen Urſprung vielleicht im Stammescharakter der Bevölkerung? Daß dem nicht ſo iſt, zeigt uns ein Blick auf Bayern. Mit öſterreichiſchen Augen geſehen iſt Bayern ein Muſterland des Zentralismus und Uniterismus. Obwohl das bayeriſche Staatsgebiet große Teile dreier deutſcher Stämme, Bayern, Franken und Schwaben, beherbergt, obwohl es eine anſehn- liche Zahl früher, im Alten Römiſchen Reich deutſcher Nation, ſelbſtändiger Länder und Lan- desteile auf dem Weg der Säkulariſation und Mediatiſierung in ſich aufgenommen hat, verrät es in ſich kaum Spuren einer föderaliſtiſchen Ge- ſtaltung, es bildet vielmehr einen, von einem Zentrum aus regierten Einheitsſtaat. Ganz anders ſteht es mit Oeſterreich. Auch die öſterreichiſchen. Länder ſind allmählich zu- ſammengewachſen. Aber alle dieſe Gebiete blie- ben, obwohl unter der gleichen Herrſchaft, Län- der; ſie wurden niemals bloße Provinzen oder Verwaltungsbezirke. Die Bedeutung der Länder wechſelte; bald waren ſie die Pfeiler der Ver- waltung, bald ſollten ſie bloße Provinzen werden. Aber ſie ſpielten immer wieder eine große Rolle auch deswegen, weil man einen echten Föderalis- mus auf nationaler Grundlage wegen der Ge- fahren der Reichsſprengung, die er in ſich ſchloß, zu vermeiden trachtete. Die Idee eines aus natio- nalen Gliedſtaaten aufgebauten föderativen Groß- öſterreich gehörte erſt den letzten Zeiten der alten Monarchie an. Bis ins Jahr 1918 hinein wurde für dieſe Idee gekämpft, verwirklicht wurde ſie nicht mehr. In dieſem Zuſtand traf uns der Zuſammenbruch. In jenen Tagen erhielt der neue Staat der Deut- ſchen in Oeſterreich den merkwürdigen doppel- geſichtigen Namen „Deutſch-Oeſterreich“. Gemeint war er beſtimmt als Bekenntnis zum Deutſch tum, ja als eine Vorausnahme der Erklärung des Geſetzes vom 12. November 1918: „Deutſch- Oeſterreich iſt ein Beſtandteil des Deutſchen Reiches“; der Sprechlogik nach weiſt er aber auf die großöſterreichiſche Denkweiſe zurück. Merkwürdig doppelgeſichtig war auch die älteſte Verfaſſung des neuen Oeſterreich. Der Ver- faſſungsbeſchluß vom 30. Oktober 1918 ſchuf klar und deutlich einen zentraliſtiſchen Einheitsſtaat. Das Geſetz betreffend die Uebernahme der Staatsgewalt in den Ländern gab dieſen Selbſt- geſetzgebung und Selbſtverwaltung, aber ſie blie- ben Provinzen. Schon am 12 November 1918 iſt jedoch der Beſchluß, der dann im Staatsgeſetz- blatt Nr 23 verlautbart wurde, gefaßt worden: „Die proviſoriſche Nationalverſammlung nimmt die feierliche Beitritkserklärung der Länder, Kreiſe und Gaue des Staatsgebietes zur Kennt- nis.“ Damit war der Grund zum ausgeſprochenen Föderalismus gelegt, und zwar nicht etwa über ein Drängen der Länder, ſondern aus der Initiative der Zen- tralregierung heraus. Schließlich richtete die Bundesverfaſſung vom 1. Oktober 1920 den Bundesſtaat in aller Form Rechtens ein, nachdem alle Länder ohne Aus- nahme längſt und wiederholt ihren Beitritt zum neuen Oeſterreich faktiſch erklärt hatten, indem ſie ſich an den Wahlen in das Zentralparlament beteiligten, deſſen Geſetze annahmen und ſich ſelbſt von ihm mit Rechten und Vollmachten ausrüſten ließen. Man würde dem öſterreichiſchen Föderalismus nicht gerecht werden, wenn man ihn nur aus ſeinen geſchichtlichen Vorläufern, aus einer lan- gen Gewohnheit der Selbſtverwaltung, aus einer Umkehrung aus großöſterreſchiſchen Erfahrungen auf kleinöſterreichiſche Verhältniſſe erklären wollte. Es ſtecken tiefere Gedanken in ihm. Als das alte Oeſterreich zerfallen war, da wurde ein neues geſchaffen mit Grenzen, die es nicht ſelbſt beſtimmt hatte und die es nicht ändern darf. War dem Oeſterreicher alles genommen? Das Reich war ihm genommen. Die Heimat war ihm geblieben. Dieſe Heimat ſich zu erhalten, ſchloß der Oeſterreicher, der Steirer, der Tiroler uſw mit den Brüdern aus den anderen öſterreichiſchen Ländern gern einen freien Bund. Es war keine ſchlechte Idee des erſten öſterreichiſchen Kanzlers, des alten Großöſterreichers Dr. Renner, von den Ländern Beitrittserklärungen zu erlangen — oder wenigſtens zu präſumieren. Daß er es früh- zeitig tat, daß er dem Friedensditlat damit zuvor kam. war eine noch beſſere Idee. Er hat damit ein Stück öſterreichiſches Staatsgefühl begründet. Daß ſein Föderalismus in den öſterreichiſchen Ländern gar ſo gut aufgenommen wurde und ſo tief Wurzel ſchlug, kommt allerdings von einer weniger ſchönen Erſcheinung Von der Schärfe der Parteigegenſätze in Oeſterreich. Der Bundeskanzler ſchloß: Uns Oeſterreichern von heute, namentlich jenen, die Oeſterreich regieren müſſen, iſt der öſterrei- chiſche Föderalismus eine Aufgabe, an der wir noch lange zu arbeiten haben werden, bis wir die Schwierigkeiten, die er aufwirft, überwunden, die Möglichkeiten, die er eröffnet, ausgeſchöpft haben. Für ſolche, welche die Wiſſenſchaft der Politik lieben, weil ſie das Volk lieben, für das ſie die Politik zu erler- nen ſtreben, iſt der öſterreichiſche Föderalismus ein Studiengegenſtand, den zu ſtudieren ſich loh- nen dürfte Für jene, die Oeſterreich gern haben, iſt er ein Stück von dieſem Oeſterreich, wie es wirklich iſt. Erwerbsloſentumult in Halle Anläßlich der geſtrigen Sitzung der Hallenſer Stadtverordneten kam es zu ſtürmiſchen Tumul- ten vor dem Kathaus. Die Kommuniſtiſche Par- tei hatte mehrere Anträge zur Unterſtützung der Erwerbsloſen geſtellt, und um dieſen mehr Nach- druck zu verleihen, ſammelten ſich über 1000 Er- werbsloſe vor dem Rathaus und forderten unter ſtürmiſchen Rufen die Erfüllung ihrer Forderun- gen. Ein ſtarkes Polizeiaufgebot mußte mehrere Male den Marktplatz ſäubern, aber immer wie- der drängten die Maſſen vor, ſo daß die Polizei mit Gummiknüppeln und blanker Waffe vorgehen mußte. Die Polizei nahm einige Verhaftungen vor. _ Japan und die Mandſchurei Eine Rede des japaniſchen Miniſterpräſidenten * Anerkennung der Souveränität Chinas, aber ... Tokio, 22. Januar. Der japaniſche Mini- ſterpräſident hielt in der geſtrigen Sitzung des Parlaments eine längere Rede über die auswärtigen Beziehungen, in deren Verlauf er ſich ſehr eingehend über die Lage in China äußerte. Baron Tanaka erklärte, die japaniſche Regierung hoffe, daß die chineſi- ſche Nation nach 15 Jahren Haders und des Kampfes nunmehr das große Unter- nehmen eines friedlichen Zuſammenſchluſſes zu einem glücklichen Ende führen werde. Die japaniſche Regierung ſei gewillt, dieſes Werk des Aufbaus zu fördern. Es verſtehe ſich von ſelbſt, daß China angeſichts der Schwierig- keiten, denen es ſich gegenüberſehe, mehr denn je ſich Zurückhaltung und Mäßigung auferlegen müſſe. Bezüglich der japaniſchen Intereſſen in der Mandſchurei führte der Miniſterpräſident aus, daß es angeſichts der politiſchen und ſtrategiſchen Bedeutung, die die Mandſchurei für Japan beſitzt, und angeſichts der hiſtoriſchen Bedeu- tung des Umſtandes, daß dieſes Gebiet von Japan unter Einſetzung ſeiner nationalen Exiſtenz aus der Gewalt des zariſtiſchen Rußland befreit und für China zurück- gewonnen wurde, es ganz natürlich ſei, daß das japaniſche Volk an dem Schickſal der Mandſchurei beſonders intenſiven Anteil nehme. Dieſe Anteilnahme müſſe um ſo mehr bedeutend ſein, als in der Mandſchurei mehr als eine Million japaniſcher Untertanen wohnten und Japan dort ihre Rechte und Intereſſen zu ſchützen habe. Es verſtehe ſich von ſelbſt, daß die japaniſche Regierung die Souveränität Chinas in der Mandſchurei reſpektiere, alles in ſeiner Macht liegende tun werde, um die Grundſätze der offenen Türe und des freien wirtſchaftlichen Wettbewerbs dort aufrechtzuerhalten, und den Wunſch hege, daß in der Mandſchurei ſichere Verhältniſſe ſowohl für die Einheimiſchen, wie auch für die Fremden geſchaffen würden. Zugleich bleibe die Regierung jedoch feſt entſchloſſen, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, falls in der Mandſchurei Zuſtände eintreten ſollten, die die Ordnung ſtören und ſolcher- weiſe die japaniſchen Intereſſen gefährden könnten.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-01-02T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 22. Januar 1929, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1929/2>, abgerufen am 24.11.2024.